Spätestens seit ich sie 2003 live sah, und ihr Sänger Johnny No Moniker sich während ihres Auftritts an mein Bein und meinen Rücken klammerte, mir direkt ins Gesicht sang und sich schreiend auf dem Boden des Clubs wälzte und drehte, bin ich Fan der FLESHIES. Neben diesem mitreißenden Gebaren ihres kleinen Frontmannes war es die Intensität, mit der die Band aus San Francisco ihre völlig einzigartige Mischung aus Hardcore, hartem Rock und einer faszinierenden Verspieltheit auch vor nur spärlich vorhandenem Publikum rüberbrachte, die mich begeisterte. Im Juni erschien auf ihrem Stammlabel Alternative Tentacles das dritte Album der FLESHIES und auch wenn "Scrape The Walls" wie auch der Vorgänger "The Sicilian" von 2003 leider nicht ganz die Klasse des 2001er Debüts "Kill The Dreamer's Dream" erreicht, so war ich doch wieder absolut gefangen von dieser brillanten Musik, die diese jüngst zu fünft agierenden Bekloppten da kreiert haben. Musik, die mich an Zeiten erinnert, die ich selbst gar nicht erlebt habe, und dennoch vermisse: Als Hardcore noch für Kreativität und Individualität stand und nicht für öde Rockmusik von der Stange. Ich mailte den FLESHIES ein paar Fragen, die der sympathische Johnny No Moniker prompt beantwortete.
Viele Platten wurden dieses Jahr am 6. Juni veröffentlicht, was diesen Tag eventuell zu einem mit den meisten Veröffentlichungen überhaupt werden lässt. Auch "Scrape The Walls" kam am 6.6.06 raus, was ja wohl Absicht war. Warum war euch das wichtig?
Eigentlich sollte "Scrape The Walls" schon einen Monat früher erscheinen, aber das passte nicht in den Veröffentlichungsplan des Labels. Und obwohl ich befürchtete, dass wir in dem Meer von zeitgleich erscheinenden Black Metal-Platten untergehen würden, wurde die Platte trotzdem erst am 6.6.06 veröffentlicht. Ich glaube, ich habe mit meiner Befürchtung Recht behalten.
Ihr habt euch für die Aufnahme von "Scrape The Walls" fast anderthalb Jahre Zeit gelassen, während eure vorherigen Alben in ein paar Tagen eingespielt wurden. Wollt ihr die METALLICA des Punkrocks werden oder warum dauerte das so lange?
Nicht nur, dass unser Drummer Hamiltron über die ganze Zeit Equipment für sein Studio zusammengesammelt hat, wir mussten außerdem all das Zeug, das sich in dem Lagerhaus befand, in dem wir mit den Aufnahmen begannen, in eine neue Lagerhalle schaffen. Was nicht ganz unkompliziert war, weil von zwanzig Leuten, die dort lebten, inklusive Hamiltron, fünfzehn direkt mit umgezogen sind. Der größte Teil des Albums ist in diesem zweiten Lagerhaus in West Oakland entstanden, wo wir es irgendwie fertig brachten, die Miete für unseren kleinen Studioraum aufzubringen, während alle anderen Mieter vom Vermieter rausgeschmissen wurden und in ein drittes Haus umziehen mussten - wo sich unser Sugar Mountain-Studio aber mittlerweile auch befindet. In den letzten Monaten, in denen wir in diesem zweiten, riesigen, inmitten eines Ghettos liegenden Lagerhaus aufnahmen, stand das Gebäude also beinahe leer, und es wurde täglich eingebrochen. Aber jeder, der unseren Kram gestohlen hätte, wäre wohl schnell ernüchtert gewesen, beim Versuch, Ein-Zoll-Bandmaschinen aus den Siebzigern zu verkaufen. Davon abgesehen, hat es so lange gedauert, weil wir wollten, dass die Platte so klingt, wie wir es uns vorgestellt haben. Das heißt: aufnehmen, nochmals aufnehmen, abmischen und zuletzt noch fünfhundert Mal neu abmischen. Und weil es nun mal unser eigenes Studio ist, konnten wir uns eben alle Zeit der Welt nehmen. In der Zwischenzeit haben METALLICA Monate damit verbracht, ihrem Produzenten Bob Rock die Hypothek und die Aromatherapie zu finanzieren.
Drummer Brian hat die Platte selbst produziert, mit Equipment, das angeblich nicht jünger als von 1975 ist. Warum macht ihr so was in Zeiten, in denen die meisten Bands dank Pro Tools alle gleich scheiße klingen?
Das Equipment liefert den Sound, den wir mögen: dreckig, übersteuert und warm. Tape klingt gut. Außerdem wird man als Band besser, wenn man Tape benutzt. Im Gegensatz zu digitalen Aufnahmen muss man es durch den ganzen Song schaffen, anstatt nur kleine Songteile aneinander zu reihen. Klar kann man so eine Kleberei auch mit Tape machen - und Hamiltron ist auch sehr gut darin - aber es ist besser, jeden Song in einem ganzen Take aufzunehmen. Allerdings ist es absolut furchtbar, Tonbänder neu abzumischen, deswegen werden wir nächstes Mal zwar auf Tape aufnehmen, das Ganze dann aber zum Abmischen in Pro Tools überspielen. Dann haben wir auch den gleichen Scheißsound wie alle anderen, abgesehen von einem zusätzlichen digitalisierten Bandrauschen. Übrigens ist nicht alles von Hamiltrons Equipment aus den Siebzigern, er hat auch ein paar schöne Equalizer aus den Mittachtzigern und ich glaube, er hat auch auf einem Stuhl aus den Sechzigern gesessen.
Dennoch finde ich, dass "Scrape The Walls" mit einem etwas weniger trashigen Sound eventuell noch besser geworden wäre, wobei du mir da sicherlich widersprechen wirst.
War das eine Frage? Nun, zumindest Jello Biafra wird dir sicherlich zustimmen, aber er hat die Platte ja dennoch veröffentlicht.
Die Zeile "You call it revolt, I call it exclusion" aus "The girl with the chocolate sparks vs. Dub" und auch der gesamte Text des Songs offenbaren einen eher pessimistischen Blick auf "unsere Szene".
Woran liegt das?
Eigentlich hat der Song nichts mit "der Szene" per se zu tun. Es geht um eine desillusionierte Zora Neale Hurston, Autorin von "Mule Bone" und "Their Eyes Were Watching God", die, die patriarchalische "Harlem Renaissance"-Bewegung aufgebend, eine orakelhafte Vision einer dunklen Zukunft hat und auf den Zeitpunkt wartet, den noch nicht geborenen George W. Bush zu finden und zu töten. Leider versagt sie und schafft es nur, seine Amme zu töten, bevor sie festgenommen wird, was die Menschheit zum Aussterben verdammt. Was natürlich auch "unsere Szene" mit einschließt.
Der Text zu "Gay holiday" scheint mir die Problematik der mangelnden Akzeptanz Homosexueller in der US-amerikanischen Gesellschaft als auch deren Instrumentalisierung durch selbige, falls es denn mal passt, zu behandeln. Liege ich da richtig?
In etwa, aber worum es wirklich geht, ist, dass unser Militär beim Thema sexuelle Orientierung eine "Don't ask, don't tell"-Politik betreibt. Um also diesen sich momentan abzeichnenden, schon fast unabwendbaren Entwurf einer Zukunft zu vermeiden, sollten wir uns alle einen "Gay holiday" nehmen und so öffentlich und oft wie möglich Sex mit gleichgeschlechtlichen Partnern haben. Für uns Pazifisten hat das den zusätzlichen Vorteil, dass es für sie dadurch generell viel schwieriger wird, Krieg zu führen, denn was ist, wenn sich der Kerl, auf den du schießt, als wirklich richtig süß herausstellt? Vielleicht würde ein Gipfeltreffen mit einer schönen, gegenseitigen analen Abreibung als Höhepunkt die Spannungen zwischen Ost und West glätten.
Ihr macht eine brillante Platte nach der anderen, trotzdem scheint euch - zumindest hier - kaum einer zu kennen. Seid ihr tatsächlich so "underground"?
Die FLESHIES sind nie mit größeren Bands getourt, haben nie bei der Warped Tour mitgemacht und nur einmal eine Abrechnung der Plattenverkäufe samt Auszahlung bekommen. Leider hat der Vertrieb dann die Retouren der Läden gegengerechnet und das Geld zurückverlangt, zusätzlich Unkosten. Ich schätze, das heißt, dass wir ziemlich "underground" sind, wobei wir uns sicher nicht beschweren würden, für das, was wir tun, auch bezahlt zu werden. Andererseits gibt es diese komischen Profile über uns bei mtv.com und vh1.com, mit denen wir nichts zu tun haben, und irgendein Irrer hat neulich unser längst ausverkauftes erstes Demo im Internet für fünfzig Dollar gekauft. Ich weiß nicht, was das alles bedeuten soll, wir sind wohl eine merkwürdige Band.
Wieso spielt euer bisheriger Bassist Yvan Kawecki jetzt die zweite Gitarre, während Brian Plaskett neu am Bass ist und ihr somit jetzt zu fünft seid?
Weil wir härter und lauter rocken wollten und Yvan keine Lust mehr aufs Bass-Spielen hatte.
Ihr habt angeblich an 133 Tagen am Stück 131 Shows gespielt und damit den bisher von BLACK FLAG gehaltenen Rekord im Dauertouren gebrochen.
Dieser "Rekord" ist eigentlich gar keiner, aber es macht uns nichts aus, wenn die Leute das glauben. BLACK FLAG sind neunzig Tage am Stück auf Tour gewesen, dann eine Woche zu Hause und dann das Ganze wieder von vorne. Und das über Jahre! Sie haben so viel Scheiße gefressen, wie wir uns es in unseren schlimmsten Träumen nicht ausmalen könnten. Und es gab damals kein so gutes D.I.Y.-Netzwerk, wie es heute existiert. Davon abgesehen, haben IRON MAIDEN uns eh alle geschlagen. Im Innersleeve von "Powerslave" steht ein Tourverlauf, der über 450 fortlaufende Tage umfasst. Diese Arschlöcher haben nicht mal über Weihnachten eine Pause gemacht!
"Happy hunting ground" ist ein SPARKS-Cover. Warum gerade dieser Song und wie kam Jello Biafra dazu, der ihn ja mit euch eingesungen hat?
Wir mussten Jello praktisch ins Studio schleifen, damit er den Song singt und er hat es auch nur getan, weil er die SPARKS so liebt. Zwar scheint das niemand zu begreifen, aber dieser Song ist so krass und creepy! Immerhin geht es ganz unverfroren darum, als alter Kerl zurück ans College zu gehen, nur um jungfräuliche Dinger abzuschleppen. Es wurde noch krasser dadurch, dass Jello den Song mit uns gesungen hat, ein Haufen alter, hässlicher Männer! Heutzutage scheint kein Mensch mehr unbehagliche Rockmusik zu verstehen, alle sind so aufrichtig und nett. Keiner will mehr, dass sich andere unbehaglich fühlen. Sind wir die einzigen heutzutage, die noch die Hässlichkeit von Iggy Pop, BUTTHOLE SURFERS, TURBONEGRO oder Lydia Lunch verstehen? Naivität ist verdammt dumm, im wahrsten Sinne des Wortes, und sollte nicht glorifiziert werden. Aufrichtigkeit? Die aufrichtigste Person der Welt ist der ungepflegte Freak, der vor allen Leuten in eine Ecke deines Wohnzimmers scheißt, während er in voller Lautstärke brüllt! Das ist Aufrichtigkeit!
Deine Meinung zu religiös verwirrtem Brüllaffen-Stadionrock à la UNDEROATH, bitte.
Wer sind UNDEROATH? Witzig war neulich ein Cover eines Hochglanz-"Hardcore"-Magazins mit einer dieser Bands drauf: Alle bedeckt mit Tätowierungen und schwarzen Metal- und Hardcore-Shirts, die schwarz gefärbten Haare schräg gescheitelt und mit schmollenden, finsteren Blicken. Und in diesem "Hardcore kursiv"-Schriftsatz, den auch alle Bands benutzen, in deren Namen "Autumn" vorkommt, stand unter dem Foto: ROSES ARE RED. Hahahaha! Grrrr ... rooooharrrses arrrrrhhe reeeehd! Ahrrrrggggh!
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