Matthias, Sänger der Punkrock-Band ENGST, hat sein ganzes Leben in Berlin-Marzahn verbracht. Wir sprechen von Neuberliner zu Urberliner über das „Ghetto“ der Hauptstadt.
Du wohnst seit nunmehr 38 Jahren in Berlin-Marzahn. Marzahn ist ein ziemlich stigmatisierter Stadtteil mit negativem Image. Und dann sind da aber Leute wie du, die dort herkommen und sich auch freiwillig dafür entscheiden, dort zu bleiben. Wie sieht Marzahn in deiner Realität aus?
Ja, also man muss schon sagen, die Realität, also das, was man aus den Medien kennt, da ist schon viel Wahres dran. Da muss man ehrlich sein. Also, gerade nach der Wende war hier schon ein krasser Rechtsruck. Es war ein super brauner Bezirk. Meine Jugendzeit war hier auf jeden Fall auch nicht so prickelnd. Ich hatte mit 13, 14 lange Dreadlocks, Che Guevara-T-Shirt, zerrissene Jeans und Springerstiefel. Da ist man das eine oder andere Mal von der Schule nach Hause gerannt. Das hat sich ziemlich lange hier durchgezogen, weil das, so krass es klingt, doch ein bildungsärmerer, schwächerer Bezirk ist. Die Mieten waren hier relativ günstig früher, dementsprechend hast du natürlich einfach auch hier viele Leute gehabt. Und die waren frustriert, die waren arbeitslos, das war natürlich der perfekte Nährboden für den ganzen braunen Mob. Aber das hat sich über die Jahre auch verändert. Wir haben durch diese ganze Flüchtlingssituation hier viele Heime oder Unterkünfte bekommen im Osten. Jetzt ist hier doch sehr viel Multikulti. Es wurde auch viel gemacht hier in den Bezirken. Extrem viel angepflanzt. Ich glaube sogar, Hellersdorf-Marzahn ist mittlerweile der zweitgrünste Bezirk in ganz Berlin. Da ist schon viel passiert. Aber man sieht es auch an den Wahlergebnissen immer wieder, dass hier noch große Spannung herrscht. Die Hälfte wählt links, die andere Hälfte wählt AfD, und das spiegelt sich im sozialen Gefälle auch ganz krass wider. Ich habe selber auch schon sehr harte Erfahrungen gemacht, Ich glaube, es ist jetzt mittlerweile 13 Jahre her, da wurde ich mit meiner Ex-Freundin von den Neonazis überfallen, die über mir gewohnt haben. Das ging richtig ab, so mit erst mich komplett zusammenschlagen und dann meine Freundin auch zusammenlegen, und das ging dann vor Gericht. Mein Richter war lustigerweise der Sänger von MONTREAL. Das war auf jeden Fall ein bisschen verrückt, als ich da in den Gerichtssaal gekommen bin. Aber ich habe mich dann ganz bewusst entschieden, hier wohnen zu bleiben, denn das ist mein Zuhause. Ich habe meine Eltern hier, meine Eltern sind relativ alt, die werden auch nicht mehr umziehen. Ich denke auch, dass es das Zuhause wert ist, dafür zu kämpfen und das nicht den braunen Arschlöchern zu überlassen.
Du betreibst in Marzahn auch einen Club, richtig?
Ja, ich bin jetzt seit sechs oder sieben Jahren Leiter von einer Jugendfreizeiteinrichtung in Marzahn. Zu meinem Werdegang ganz kurz, ich habe ursprünglich mal vor tausend Jahren Psychiatriepfleger gelernt, habe in der Psychiatrie gearbeitet, in einer Geschlossenen, habe dann sogar mal ganz kurzzeitig in einer Leichenhalle gearbeitet und so ein Zeug. Ich musste mich aber einfach irgendwann von dem Beruf lossagen, weil ich zu Hause noch meine Oma gepflegt habe, und so den ganzen Tag mit Pflege beschäftigt war und irgendwann hat die Psyche einfach schlapp gemacht. Es war einfach die ganze Zeit Tod und Verderben, das war zu viel. Ich habe mich dann, bevor ich in den Burnout gehe, entschieden, genau auf die andere Seite zu wechseln. Ich habe eine Umschulung gemacht und bin in den Erzieherberuf reingerutscht und über eine Anerkennung später zu Sozialarbeiter geworden. Ich habe ganz viel in einer Wohngruppe für Jugendliche mit schwierigem Hintergrund gearbeitet, habe als Streetworker gearbeitet und bin irgendwann in meinem Jugendzentrum gelandet. Ich bin da super happy, weil das sozusagen nah an der Basis ist. Wir sind sehr musikorientiert, wir arbeiten mit jungen Leuten viel über Musik und Video, und das macht mir einfach absolut Spaß! Das hat sicherlich auch was damit zu tun, dass das der erste Job ist, wo ich wirklich mal Chef bin und wirklich meinen Ansatz von Pädagogik durchsetzen kann, ohne mir von anderen Leuten auf die Finger hauen lassen zu müssen. Und das ist dadurch natürlich auch noch mal was ganz Besonderes für mich. Also so lange es geht, werde ich diesen Job halten, auch wenn ich ihn aufgrund der Musik nur noch in Teilzeit mache.
Gerade in letzter Zeit ist es ja eher so, dass viele Clubs schließen und jungen Menschen Anlaufstellen fehlen, um irgendwas in ihrer Freizeit zu machen.
Das ist halt wichtig, jungen Leuten überhaupt einen Anlaufpunkt zu bieten. Aus meiner eigenen Erfahrung, ich habe selbst als Teenie sehr viel Zeit in Jugendfreizeiteinrichtungen verbracht, hatte da auch die ersten Kontakte zum Punkrock. Das waren aber früher zu meiner Jugendzeit noch sehr coole Sozialarbeiter. Die Leute, die da gearbeitet haben, haben nah an den jungen Leuten gearbeitet. Da wurde sich auch mit Themen wie Drogen, Alkohol, Sexualität auseinandergesetzt. Heute habe ich ganz oft das Gefühl – natürlich nicht bei allen –, dass viele, wie ich sie liebevoll nenne, Seifenblasenpädagogen kommen, die gerade aus dem Studium und aus der Ausbildung kommen. Das hat aber ganz oft auch nichts mit der Realität zu tun. Wer sich heutzutage mit Vierzehnjährigen hinsetzen will und mit denen Weihnachtsdeko basteln will, der hat das Berufsbild verfehlt. Das ist natürlich auch gerade jetzt in Berlin kiezabhängig. Du wirst im Prenzlauer Berg oder im Friedrichshain eine ganz andere Klientel haben als in Marzahn. Und ich habe auch Projekte gemacht, wo ich zum Beispiel auch mit Bands und Jugendlichen gearbeitet habe, die eher Grauzone waren, also die ziemlich rechtsaffin waren. Aber ich habe mir immer gesagt, ich brauche nicht Punks erklären, dass Faschos scheiße sind, und ich werde auch nicht Faschos erklären, dass Faschos scheiße sind. Aber die Leute, die in der Schwebe sind und gar nicht wissen, warum und wieso und weshalb gerade alles Kacke in ihrem Leben ist, die Leute musst du abfangen. Mit denen musst du reden. Das ist für viele auch sehr unangenehm. Ich kenne auch Sozialarbeiter, die gesagt haben, mit Faschos reden wir nicht. Das ist aber in meinen Augen der komplett falsche Ansatz, denn gerade mit diesen Leuten musst du reden. Sonst wirst du auch nichts verändern. Dadurch gestaltet sich der Beruf auf jeden Fall sehr spannend. Und jeder Tag ist eine Herausforderung.
© by Fuze - Ausgabe #102 Oktober/November 2023 und Jenny Josefine Schulz
© by Fuze - Ausgabe #73 Dezember/Januar 2018 und Sebastian Koll
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #141 Dezember/Januar 2018 und Frank Weiffen
© by Fuze - Ausgabe #102 Oktober/November 2023 und Jenny Josefine Schulz