Gleich zu Beginn des Gesprächs mit Bill Stevenson (57) können wir uns einigen, trotz anderthalb Jahren Pandemie keine Fans von Zoomcalls geworden zu sein. Damit sind wir beim Thema, denn es geht um Songs aus einer Zeit, in der so was noch Science Fiction war.
Die Story der DESCENDENTS beginnt in den späten Siebzigern, ungefähr zeitgleich mit der von BLACK FLAG und DEAD KENNEDYS, und damals schon mit Stevenson am Schlagzeug. 1982 wird Sänger Milo Aukerman mit „Milo Goes To College“ zum bebrillten Antihelden für Punks, die mit den Klischees der Szene nichts anfangen können. Der Einfluss der Kalifornier lässt sich kaum einschätzen und wirkt bis heute.
Euer erster Proberaum lag an der Straßenecke „9th & Walnut“, so heißt nun auch eine Zusammenstellung von Songs, die jahrzehntelang nicht fertig wurde.
Bis dahin hatte ich nur Songs von KISS oder den ROLLING STONES nachgespielt, alleine in meinem Zimmer. Auf „9th & Walnut“ finden sich unsere allerersten Songs, für mich waren das überhaupt die ersten, die ich zusammen mit anderen spielte! Wir haben sie nur deshalb nie aufgenommen, weil sie uns schon ein wenig zum Hals raushingen, bevor wir überhaupt wussten, wie Studioaufnahmen funktionieren. Aus dieser frühen Phase haben es nur „Parents“ und „Statue of liberty“ auf „Milo Goes To College“ geschafft. Erst als wir nach langer Zeit wieder in dieser Besetzung zusammenkamen, weil Frank Navetta und Tony Lombardo 1996 ihre Parts für „Everything Sucks“ aufnahmen, hatten wir die Idee, die alten Sachen einzuspielen. Passiert ist das aber erst 2002, und im letzten Jahr hat Milo schließlich den Gesang dazu aufgenommen. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum das auf diese Weise abgelaufen ist! Die DESCENDENTS funktionieren selten nach einem Plan, es gibt keine Strategie. Oft lassen wir einfach den Wind bestimmen, wo es uns hintreibt, besser kann ich es nicht erklären!
Rückblickend wirkt es wie ein geniales Konzept. Das heute legendäre Debüt „Milo Goes To College“ trägt den Ausstieg des Sängers bereits im Titel, das Nerd-Rolemodel beginnt eine akademische Karriere, kehrt aber immer wieder zurück. Es entstehen fantastische Alben wie „All“ von 1987, nach dem auch die Schwesterband um Drummer Stevenson benannt ist, in der singt statt Milo unter anderem Dave Smalley von DYS, DAG NASTY, DOWN BY LAW.
Nein, wir wussten damals überhaupt nicht, dass Milo irgendwann wieder einsteigen würde. Das Album heißt genau deshalb „Milo Goes To College“ – das war als Abschiedsgruß gedacht, nicht als Kapitelüberschrift! Klar war für mich nur, dass ich weiter in Bands spielen würde. Die DESCENDENTS waren nie eine Band für langfristige Planungen. Wir machen einfach immer, was wir eben machen.
Die alten Songs ruhten lange Zeit auf Proberaum-Tapes, aufgenommen mit dem Kassettenrekorder. Wie vertraut klang das Material Jahrzehnte später?
Ich kannte wirklich noch jedes Detail! Zu der Zeit hatte ich noch keine Ahnung von Songwriting, Frank und Tony haben diese Stücke geschrieben. Eine Eigenheit dieser Songs ist, dass sie noch darauf ausgelegt waren, dass Frank gleichzeitig Gitarre spielen und singen musste. Das machte sie sehr einfach und geradeheraus, dementsprechend ist auch das Schlagzeugspiel ausgerichtet. Ich höre da durchaus große Unterschiede zu den späteren DESCENDENTS. Als diese Lieder geschrieben wurden, gab es die RAMONES schon ein paar Jahre, und wir waren natürlich massiv von den L.A.-Punkbands der späten Siebziger beeinflusst. Ganz besonders von THE LAST und einem Trio namens THE ALLEY CATS. Der Song „Nightage“ auf „9th & Walnut“ handelt von deren Bassistin Dianne Chai! Als „Milo Goes To College“ rauskam, lautete unsere Formel: ein Drittel THE LAST, ein Drittel THE ALLEY CATS und ein Drittel BLACK FLAG. Als die Songs von „9th & Walnut“ entstanden, hatten BLACK FLAG aber außer „Nervous Breakdown“ noch nichts veröffentlicht, dieser Einfluss fehlt also noch. Man hört stattdessen noch anderes, zum Beispiel die KINKS oder die ANIMALS. David Nolte von THE LAST nahm mir immer Mixtapes auf – MC5, die BUZZCOCKS, all das! Außerdem arbeitete ich damals mit Keith Morris – BLACK FLAG, CIRCLE JERKS, OFF! – im Geschäft seines Vaters, und der brachte jeden Tag Musik mit: THE SWEET, die STOOGES, HUMBLE PIE und TELEVISION – die Wurzeln von Punkrock! Während Keith mir also Musiker wie David Bowie nahebrachte, hörte ich natürlich weiterhin meine Platten von KISS oder BLACK SABBATH. Obwohl Punkrock schnell zu meiner liebsten Form von Rock’n’Roll wurde, hielt mich das nicht davon ab, auch AEROSMITH zu lieben.
Für dich gab es also nie diese eine, lebensverändernde Begegnung mit Punk?
Ich habe mich nie entschieden, fortan Punkrocker zu sein, es gab keinen Erweckungsmoment – ich hatte nicht mal einen Mohawk! Aber ich erinnere mich an das erste Mal, als Frank Navetta mich zu einem Punk-Konzert mitnahm. Das war in einem kleinen Club für 300 oder 400 Leute, der war nur halb voll. Tickets kosteten nur fünf Dollar, dort traf ich auf so viele vollkommen unterschiedliche Menschen, die nur gemeinsam hatten, dass sie sonst nirgends hingehörten! Ich hatte sofort das überwältigende Gefühl, ein Zuhause gefunden zu haben. Vorher hatte ich keine Freunde außer Frank und Tony, ich war ein sehr unzufriedener junger Kerl. Es ging mir nicht gut, und ich weiß nicht, was ohne Punk aus mir geworden wäre. Dabei hat mich der Fashion-Aspekt nie interessiert, solche Dinge langweilen mich sofort. Aber diese Musik langweilte mich nicht, die Energie und Intensität bei Auftritten von den GERMS oder BLACK FLAG! Das liebe ich bis heute, und finde das auch immer wieder bei jungen Bands.
Im Dokumentarfilm „Filmage“ über ALL und die DESCENDENTS erzählt Dave Smalley davon, wie du ihn einzelne Parts im Studio unzählige Male hast wiederholen lassen. Sieht die Arbeitsbeziehung mit Milo ähnlich aus?
Wenn ich produziere oder aufnehme, suche ich nur nach dem richtigen Weg zum besten Ergebnis. Milo ist immer schnell, er braucht nie viele Takes, so läuft das bei ihm einfach nicht. Dave erinnert sich da an eine anstrengende Session, in der ich vielleicht etwas sehr perfektionistisch war. Das kommt aber nur in bestimmten Situationen vor, zum Beispiel wenn ich einen Song geschrieben habe und der Sänger noch nicht verstanden hat, was ich da hören will. Milo hat ein kleines Studio in seinem Keller in Delaware. Da hat er seine Gesangsspuren aufgenommen und dabei braucht er selten Hilfe von mir. Als Milo in die Band kam, spielten wir vielleicht die Hälfte dieser Lieder noch live und er hatte die meisten irgendwann im Proberaum gehört, schon bevor er unser Sänger wurde. Für die wenigen, die er gar nicht kannte, gab es Gesangsspuren von Frank, an denen er sich orientieren konnte, oder auch von Tony, wenn der den Song geschrieben hatte, oder von mir, wenn noch etwas fehlte. So hatte Milo immer eine genaue Vorstellung davon, wie der jeweilige Track gedacht war. Heutzutage arbeitet man mit Pro Tools natürlich ganz anders als früher mit 2-Zoll-Bändern. Das ist heute alles viel einfacher. Wenn nötig, kann Milo mir auch mal fünf komplette Takes schicken, aus denen ich dann einen perfekten „Super-Take“ montieren kann.
Kürzlich hast du in deinem Studio, dem Blasting Room, ein weiteres Album von RISE AGAINST produziert, die große Fans deiner Bands sind. Hat sich beim Aufnehmen einer Punkband, abgesehen von technischen Umwälzungen, in vier Jahrzehnten irgendetwas gravierend verändert? Die Hörgewohnheiten der Menschen zumindest sind heute völlig andere.
Ich betreibe das Blasting Room Studio mit Jason Livermore, aufgebaut wurde es praktisch von Mitgliedern der DESCENDENTS und von ALL – von Stephen Egerton, Karl Alvarez, Chad Price. RISE AGAINST kommen schon seit fast zwanzig Jahren zu uns, seit 2002. Wenn eine Band für drei Wochen bei uns ist, werde ich für drei Wochen ein Teil dieser Band. Mein Job ist es, von Nutzen zu sein bei dem, was die Band sich vorgenommen hat. Dabei spielt es für mich überhaupt keine Rolle, ob die einzelnen Musiker wegen mir und meiner Reputation zu uns gekommen sind. Es zählt nur, was in diesem Moment aus den Lautsprechern kommt! Was letzte Woche oder vor zwanzig Jahren gut war, hat dabei keine Bedeutung. Prinzipiell kann ich auch nie voraussehen, was den Hörern gefallen wird oder was nicht. Darüber denke ich auch nie nach. Große Kunst ist noch nie entstanden, indem jemand sich den Kopf zerbricht, was das Publikum hören oder sehen will! Wenn die Leute nur noch Singles statt Alben hören wollen, oder wenn sie streamen wollen, statt ein Album zu kaufen, sollen sie das tun. Und wenn die Leute überall Drum-Machines hören wollen, wie bei dem Kram, der den ganzen Tag im Radio läuft, dann ist das eben so. Ich selbst kann immer nur mein eigenes Ding machen!
Eure Songs bekommt man oft tagelang nicht aus dem Kopf. Von dir war zu lesen, dass einige davon in deinem Kopf praktisch über Nacht einfach auftauchen.
Das stimmt, die besten Songs, die ich geschrieben habe, kamen wie Träume. Ich komme mir immer vor wie ein Arsch, wenn ich das erzähle, weil es so esoterisch und bemüht geheimnisvoll klingt, und so ist es nicht gemeint. Es passiert mir aber wirklich, dass ich beim Aufwachen ganze Songteile fertig im Kopf habe. Das können Refrains mitsamt Text sein, schon genau so, wie sie später auf einem Album zu hören sind. „Cheer“ zum Beispiel war eines Morgens komplett da. Also konntest du kurz darauf in unserem kleinen DESCENDENTS-Büro anrufen und mich zu einer Gitarre diesen Song singen hören, weil ich außer dem Ansageband des Anrufbeantworters nichts zur Hand hatte, um ihn aufzunehmen! Ich glaube, es ist so: Tief drinnen bin ich eine sehr kreative Person, aber wenn ich erst mal wach bin und das alltägliche Leben anfängt, verliert sich das schnell. Sobald ich darüber nachdenken muss, wie ich die Miete oder die Telefonrechnung bezahlen kann oder ob das Auto in die Werkstatt muss, werde ich zum Roboter! Aber wenn ich noch nicht ganz wach bin, oder auch in diesem speziellen Augenblick, wenn ich noch nicht ganz schlafe, sind da diese Songs. So war das bei mir immer, andererseits erlebe ich auch ausgedehnte Phasen, in denen das nicht passiert. Dann habe ich vielleicht zwei Jahre lang keine neuen Songs! Die handwerkliche Fähigkeit, einen Song zu konstruieren, fehlt mir völlig.
Bei den DESCENDENTS waren stets alle Musiker am Songwriting beteiligt. Im Moment seid ihr bereits mit der Arbeit am nächsten Album beschäftigt. Wie läuft’s?
Stephen und Milo haben schon ungefähr zwanzig Songs fertig, jetzt werde ich mit Karl die Demos von seinen Songs machen, und ich selbst sitze auch auf einem ganzen Haufen Refrains. Es läuft also gut! Was dabei herauskommt, kann man bei vier Songwritern kaum vorhersagen. Jeder bringt hier sein gesamtes Leben der letzten Jahre mit ein, wenn man so will. Und wenn dieselbe Band Songs wie „I’m the one“ und „Weinerschnitzel“ schreiben kann, ist das Spektrum sowieso groß. Ein Release-Datum steht auch noch nicht fest. Im August wollen wir mit RISE AGAINST und den MENZINGERS in den USA touren. In Europa seid ihr ja noch sehr mit der Corona-Pandemie beschäftigt, die Festivals, für die wir gebucht waren, wurden allesamt ins nächste Jahr geschoben! Wir müssen abwarten. Milo hat seinen Forschungs-Job bei Dupont mittlerweile aufgegeben, seine Laufbahn als Wissenschaftler ist zumindest für den Moment beendet. Wir werden also viele Shows spielen können!
War es nicht manchmal frustrierend, die DESCENDENTS immer wieder auf Eis legen zu müssen?
Ich liebe ALL, und die DESCENDENTS natürlich auch! Ich sehe einige unserer musikalischen Höhepunkte auf ALL-Alben, und ich würde auf keines von ihnen verzichten wollen. So gesehen ist es cool, wie alles gelaufen ist. Und es ist cool, wo wir jetzt sind!
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