DEATH PILL

Foto© by Tementy Pronov

Nicht vergessen, nicht verzeihen

DEATH PILL kommen aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Drei Frauen, die in einer Punkband spielen. Und die ihr selbstbetiteltes Debüt-Album am 24. Februar 2023 auf dem UK-Label New Heavy Sounds veröffentlichten. Am Jahrestag des Beginns des russischen Überfalls auf die Ukraine. Und an diesem Tag beantworteten Anastasiia, Mariana und Nataliia auch unsere Fragen. Ein Interview der klaren Ansagen – erschütternd und emotional. Lest es. Bis zur letzten Zeile.

Bitte stellt euch vor.

Anastasiia: Ich bin Anastasiia, aber meine Freunde nennen mich Nafa. Ich spiele Schlagzeug bei DEATH PILL, seit wir 2017 zusammen losgelegt haben.
Mariana: Ich bin Mariana, ich bin die Leadsängerin, Gitarristin und Songschreiberin bei DEATH PILL. Es fing alles an, als ich 13 Jahre alt war, da hieß es: „Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen, du verschwendest bloß deine Zeit! Du wirst nie so cool Gitarre spielen wie die Jungs – du bist ein Mädchen.“ Es war höchstens „peinlich“. Warum kann ich nicht cool Gitarre spielen, warum bin ich schlechter als ein Kerl? Warum, warum, warum?! Aber dann kam mir eine Idee: Ich brauche nicht zu fragen, ich muss antworten! Deshalb beschloss ich, zwei weitere Frauen zu finden, die ebenfalls über diese universelle Ungerechtigkeit wütend sind, und mit ihnen böse Lieder darüber zu singen!
Nataliia: Ich spiele seit Dezember 2021 Bassgitarre und singe Backvocals bei DEATH PILL. Bevor ich in die Band kam, hatten es Mariana und Nafa schon mit drei oder vier anderen Frauen probiert. Wir machen immer den Joke, dass diese Position bei DEATH PILL verflucht ist. Aber in Wahrheit haben wir uns entschieden, dass ich die Letzte auf diesem Posten bin.

Was war eure musikalische Idee damals, was ist sie heute? Welche ukrainischen Bands haben euch beeinflusst, welche aus anderen Ländern?
Anastasiia: Damals wie heute ist die wichtigste Erkenntnis, dass wir ohne Musik nicht leben können. Das ist unsere Berufung, wir wurden mit diesem Drang geboren. Wir wollten Frauen in der Musikszene fördern und selbst einen Platz auf der Bühne erobern.
Nataliia: Ich glaube nicht, dass wir jemals etwas für den „Mainstream“ oder „ein besonderes Ereignis“ geschrieben haben oder schreiben werden, wie es kommerzielle, erfolgreiche Künstler normalerweise tun, um an die Spitze der Charts zu kommen. Wir schreiben über das, was uns persönlich verletzt, erzählen gewöhnliche Geschichten aus dem echten Leben, die jedem passieren können.
Marianna: Zu der Zeit, als unsere Songs entstanden sind, hörte ich Bands wie CRATERFACE, ALCOHOLATOR, EXCEL, JERRY’S KIDS, AXE RASH, ASS, ISS, OFF!, ONYX, SNOB, CIRCLE JERKS, die letzten Alben von EXODUS, VIOLATOR, ANTI-CIMEX und natürlich DEATH und METALLICA – das alles hat uns definitiv beeinflusst. Es kommt selten vor, dass mich eine ukrainische Band dauerhaft begeistern kann, aber es waren schon ein paar erwähnenswerte Musiker mit uns auf der Bühne: HELLFIRE SOX, ZRADA, REABILITATOR und ZOMBIE ATTACK. Und ZLYDEN. Ich mag auch NOISE BOMB, die sind so ehrlich.

Es heißt, 2017, als ihr die Band gegründet habt, wart ihr die einzige reine Frauenband in der Ukraine. Stimmt das?
Anastasiia: Ja, das stimmt. Soweit ich weiß, gab es zu dieser Zeit außer uns keine aktiven Frauenbands.
Mariana: Ich hatte die Idee, eine Frauenband zu gründen, bereits sechs Jahre lang mit mir rumgetragen, aber erst im November 2016 habe ich schließlich angefangen, nach Mitmusikerinnen zu suchen. Es stellte sich heraus, dass das gar nicht so einfach war, viel schwieriger als erwartet, denn Frauen, die Instrumente spielen, sind immer rar. Nataliia war vorher bei O’HUYELI, PIRAZHOKE, DECADANCE, DIVAN, TROUBLED, Nafa bei CRACKPOT und THAINO! und ich bei EXULT.
Nataliia: Seit 2010 habe ich in vielen Bands gespielt und war daher auf vielen Konzerten, Gigs und Festivals in der Metal-, Punk- und Jazzszene. Und ich kann definitiv sagen, dass ich mich an keine rein weibliche Band erinnern kann, bis ich DEATH PILL 2018 auf einem Konzert gesehen habe.

Wie war die ukrainische Punk-Szene damals, gab es Problem mit toxischer Männlichkeit? Und wie ist es heute?
Anastasiia: Ich würde nicht sagen, dass unsere Szene besonders toxisch männlich war, denn wir bekamen eine Menge Unterstützung von den Jungs, die uns gegenüber völlig offen waren. Also sind wir losgezogen, haben gespielt, haben allen die Köpfe weggeblasen und sind zufrieden Bier trinken gegangen. Momentan sind aber sowieso alle damit beschäftigt, sich auf den Kampf gegen unseren gemeinsamen Feind zu konzentrieren.
Mariana: Eine weibliche Punkband konnte sicherlich nicht ohne ein Anliegen auftauchen. Geschlechterdiskriminierung gibt es überall: in der Schule und an der Uni, bei der Jobsuche, beim Besuch von Verwandten, bei musikalischen Aktivitäten, sogar auf der lokalen Bühne! Ich musste mir Sachen anhören, wie: „Tut uns leid, wir können dich nicht in die Band aufnehmen, weil ... Nun ja, du bist eben eine Frau, verstehst du?“ Oder Witze über RANETKI, das ist eine primitive weibliche russische Pop-Punk-Band. Soll das also heißen, weil ich als Mädchen geboren wurde, habe ich es schon versaut? Ernsthaft?! Ich hasse diese Labels, Stereotypen und generell alles, was die persönliche Freiheit einschränkt, und deshalb habe ich mich auch nie als „Feministin“ gesehen. Ich ärgere mich prinzipiell über jede Ungerechtigkeit, die jemandem widerfährt, unabhängig vom Geschlecht. Ich bin für Gerechtigkeit, nicht für Gleichheit. Leider schließen sich diese Konzepte gegenseitig aus. Die Menschen sollten sich selbst ändern, nicht die Welt. Dann wird sich auch die Welt verändern.
Nataliia: Wir sind Menschen. Menschen haben Gehirne, Emotionen, Gefühle, etc. Und weil wir diese Eigenschaften haben, fangen wir an, uns einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. Einigen gelingt das, und einige setzen sich auf Kosten anderer durch. Das ist der Grund, warum es auf der ganzen Welt schon immer toxisches Verhalten gab und geben wird, denn wir sind nicht nur Lebewesen. Wir alle sind Menschen. Ich rechtfertige jetzt nicht die Drecksäcke, die mein Land angegriffen haben, oder andere Vergewaltiger, Betrüger und Missbrauchstäter. Sie alle werden auf die eine oder andere Weise bestraft werden. Es ist nur eine Frage der Zeit und des Selbstbewusstseins.

Was bedeutet der russische Angriff für eure Texte?
Nataliia: Als Erstes werden wir definitiv keine Texte mehr in der Sprache des Aggressors schreiben.
Mariana: Russlands Angriff auf die Ukraine, die Gräueltaten und die Verhöhnung der Zivilbevölkerung, die sie in Irpin – das ist meine Heimatstadt, in der ich meine Kindheit verbracht habe –, in Butscha und in anderen Städten der Ukraine inszeniert haben, konnten nicht anders, als eine Welle des Hasses unter den Ukrainern auf diese Unmenschen auszulösen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir die Schrecken des Krieges bald verzeihen oder vergessen werden. Und natürlich wird sich das alles in meinen Texten widerspiegeln. Warte nur ab, ich bin noch nicht fertig damit.

Was hat sich aus feministischer Sicht in der Ukraine seit dem russischen Angriff verändert?
Anastasiia: Die ukrainischen Frauen, vor allem die unter der Besatzung, sind mit vielen schrecklichen Ereignissen konfrontiert: ein Leben unter unmenschlichen Bedingungen, Hunger, Vergewaltigung. Jetzt ist es notwendiger denn je, dass sich die Frauen zusammenschließen, um diese traumatischen Ereignisse zu überleben und die Kraft und den Willen zum Weiterleben wiederzufinden.
Mariana: Aus feministischer Sicht haben sich die Frauen in der Ukraine nach dem russischen Angriff verändert. Das bedeutet, dass ukrainische Frauen zu Amazonen geworden sind, sie kämpfen und verteidigen ihr Land, ihr Heimatland. Sie stehen an der Seite der Männer allen Prüfungen und Härten des Krieges würdig entgegen. Diejenigen, die nicht an der Front sind, helfen im Hintergrund und melden sich beispielsweise für freiwillige Tätigkeiten, spenden an die Streitkräfte der Ukraine, statt es für Friseursalons und Maniküre auszugeben, und verschicken Pakete mit selbst gebackenen Keksen und warmen handgestrickten Socken. Wir kämpfen nicht, weil wir diejenigen vor uns hassen, sondern weil wir die hinter uns schützen.
Nataliia: Ob Frau oder Mann, jeder darf in die Reihen der Streitkräfte eintreten und durfte das auch schon vorher. In unserem Land, wie in jedem anderen zivilisierten Land auch, gibt es natürlich leider Männer, die über Jahre Frauen misshandeln. Nur das Grab kann diese Arschlöcher stoppen, der Krieg kann das meiner Meinung nach nicht. Vielleicht denken die Männer jetzt mehr über den Wert des Lebens nach, aber sicher bin ich mir da nicht. Die Russen vergewaltigen und töten Männer, Frauen, Kinder – ausnahmslos alle. Es ist, wie es ist.

Könnt ihr uns erzählen, wie ihr den 24. Februar 2022 erlebt habt?
Anastasiia: Ich bin von Explosionen aufgewacht. Mein Mann und mein Sohn waren auf der anderen Seite der Stadt, genau dort, wo die Bombardierung begann. Wir waren getrennt, weil sie an COVID-19 erkrankt waren. Ich war mit meiner anderen Band auf einer kleinen Tour gewesen, nach deren Rückkehr ich wartete, bis ich nach Hause zurückkehren konnte. Das sollte am 24. sein. Wir waren am selben Tag wieder vereint, mein Mann und mein Sohn konnten zu mir kommen, wir versammelten uns: mein Mann, mein Sohn, unser bester Freund, zwei Katzen und ich. Und so lebten wir den ersten Monat zusammen, während viele russische Truppen um die Region Kiew herum waren und versuchten, in die Stadt einzudringen. Wir schliefen im Badezimmer und im Flur, für den Fall, dass eine Granate das Haus trifft. Jeden Abend gingen wir ins Bett und fragten uns, ob wir lebendig wieder aufwachen würden.
Mariana: Am 23. Februar, einen Tag vor der Invasion, hatte ich eine Sitzung bei meinem Psychotherapeuten, wir sprachen über einige meiner Kindheitstraumata, ich weinte viel. Danach fragte ich meinen Freund, ob wir unsere Freunde besuchen wollen. Ich fühlte mich schlecht, ich fühlte mich einsam und deprimiert und alle Nachrichtenkanäle waren voller schrecklicher Nachrichten. Kennst du dieses Gefühl, wenn du einfach aufhören, dich ausruhen und dein Gehirn ausschalten willst, weil es einfach zu viel wird? Wir kamen also bei ihnen zu Hause an. Einer meiner Freunde, er heißt Vish, erzählte mir davon wie die Russen 2014 seine Heimatstadt Gorlovka in der Region Donezk angriffen. Ich stellte ihm Fragen, als würden wir ein Interview führen. Vish leidet seit 2014 an Multipler Sklerose, er kann seine Knie nicht mehr beugen und er läuft komisch, wie ein Pinguin. Er ist einer der fröhlichsten Menschen, die ich kenne. Er hat den Tod gesehen, um das Leben zu verstehen. Danach gingen mein Freund und ich nach Hause. Gegen zwei Uhr waren wir im Bett. Russland hat uns um 4:30 Uhr geweckt. So eine verdammte Scheiße! Wir haben nicht genug geschlafen! Am 24. Februar 2022 rief mich Nataliia morgens an und sagte: „Hör mal, anscheinend fällt unsere Probe heute aus.“ Ich sagte: „Verdammt, wir wollten doch ein neues Lied üben, das ich für meinem Vater geschrieben habe. Der verdammte Putin hat alle meine Pläne durcheinander gebracht! Das werde ich ihm nie verzeihen. Niemand kann meine Probe absagen – außer mir!“ Ich war wütend und verstand immer noch nicht, was jetzt wirklich passierte ... Während ein russischer Soldat bereits ein Mädchen in meinem Alter in Irpen vergewaltigte und ihr ein Hakenkreuz auf die Brust ritzte, schaffte ich es noch, die Fenster meines Hauses mit Klebeband zu versiegeln, meine Dokumente und einige Sachen einzupacken, die E-Gitarren zu nehmen und schnell aus dem Haus zu rennen! Das Essen im Kühlschrank, der Mülleimer, der Job meines Freundes, alles wurde unwichtig. Wichtig war nur, unser Leben zu retten. Wir wurden von meiner älteren Schwester mit dem Auto mitgenommen. Wir fuhren los, um meine Mutter und meine Oma abzuholen. Wir fuhren raus aus der Stadt Kiew, das war ein verdammt großer Fehler ... da waren die russischen Panzer. Aber wir schafften es, in der Datscha unserer Familie, irgendwo auf dem Land, anzukommen, setzten uns gemeinsam an den Tisch und überlegten, während um uns herum Explosionsgeräusche zu hören waren, wohin wir als Nächstes gehen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war ich arbeitslos und hatte keine Ersparnisse. Wenn mein Freund und meine Familie nicht gewesen wären, wäre ich einfach in meiner Wohnung geblieben und hätte auf einen russischen Soldaten gewartet, der auch mich vergewaltigen würde ... Tierische Angst und Panik – statt meines morgendlichen Cappuccinos! Von diesem Tag an habe ich nicht mehr mit den Mädels geprobt. Ich warte immer noch darauf, dass wir unser neues Lied proben können.
Nataliia: Ich bin um vier oder fünf Uhr morgens plötzlich aufgewacht. Es ist nicht typisch für mich, mitten in der Nacht ohne Grund aufzuwachen. Ein paar Minuten später rief mich meine Freundin Kateryna aus Chicago an und sagte, dass der Krieg begonnen hat, und ein paar Minuten später rief mich eine andere Freundin an, Haiane, mit der ich einen Plan entwickelt hatte für den Fall, dass „sie“ angreifen. Dann sprachen wir mit einer anderen Freundin von uns, Karyna, die die Fahrerin in unserem „Plan“ war, und legten den Zeitpunkt fest, an dem wir uns treffen würden, und wann, wenn einer von uns zur vereinbarten Zeit nicht da war, wir uns vereinbarten Ort treffen würden. Dabei haben wir an jedes Detail gedacht: Was machen wir, wenn es keine Kommunikation gibt, wenn es kein Wasser gibt? Wir hatten Codewörter, zugewiesene Aufgaben und Verantwortlichkeiten, vorbereitete Dokumente, Geld, Pässe, Benzin, Lebensmittel, Erste-Hilfe-Kits, warme Kleidung ... Da wir alle in der Filmbranche arbeiten, haben wir diesen „Plan“ behandelt wie eine sehr ernsthafte und detaillierte Arbeit an einem Drehbuch. Wobei ich glaube, dass jeder von uns in Wahrheit dachte: Warum machen wir das, wie kann so etwas im 21. Jahrhundert passieren? Aber es war sehr gut, dass wir diesen Plan hatten und vorbereitet waren und nicht in Panik verfallen sind. Nach zehn Minuten, nachdem wir uns vergewissert hatten, dass alle wach waren und sich an den Plan hielten, schrieb ich in den DEATH PILL-Chat, wo ich im Falle eines Falles sein würde und wie sie mich kontaktieren könnten. Ich stellte fest, dass Nafa online war und erzählte, dass sie versuchte, ihr Kind und ihren Mann in den anderen Teil von Kiew zu bringen, aber Mariana hatte nicht auf meine Nachricht geantwortet, weshalb ich beschloss, sie anzurufen. Wir waren verabredet, um ihren neuen Song zu proben. Ich wollte ihr klar machen, dass wir die Probe absagen mussten. Sie war wütend. Danach stieg ich aus dem Bett, wusch mir das Gesicht, putzte mir die Zähne, zog die Klamotten an, die ich vorbereitet hatte, und setzte Wasser auf für Kaffee und Knödel. Nachdem ich die Knödel ins Wasser geworfen und den Kaffee aufgebrüht hatte, ging ich auf den Balkon, um eine zu rauchen. Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr, dass der Krieg begonnen hatte. Mama sagte: „Ja klar, ich werde noch zwanzig Minuten weiterschlafen.“ Ich merkte, dass sie mir nicht glaubte. Genau zu dieser Zeit hörte ich die erste Explosion. Heute weiß ich, dass sie in der Nähe des Flughafens von Boryspil stattfand. Ich beobachtete, wie die Menschen einer nach dem anderen ihre Häuser verließen und irgendwohin gingen oder in Autos stiegen und wegfuhren. Nach zehn Minuten riefen mich meine Eltern zurück und fragten panisch, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich sagte, dass alles okay ist, wo und bei wem ich sein werde und wo und zu welcher Zeit ich auf sie warten werde, wenn sie sich entscheiden, Saporischschja zu verlassen. Ich bin 2014 nach Kiew gezogen, um zu studieren, meine Eltern und mein Bruder leben aber noch in Saporischschja. Danach packte ich meinen Rucksack, sammelte die Wertsachen ein, nahm alles aus dem Kühlschrank mit – Lebensmittel, Alkohol – drehte das Wasser ab und schaltete den Strom in meiner Wohnung aus. Als ich die Tür schloss, wurde mir klar, dass ich nicht zurückkehren würde wie normalerweise abends nach der Arbeit oder der Probe, weder heute noch morgen und vielleicht auch nie. Noch ein paar Minuten lang stand ich mit den Schlüsseln in der Hand da und versuchte zu verstehen, was zum Teufel gerade passierte. Ruckartig öffnete ich die Tür und schrieb einen Zettel auf Russisch: „Wenn du ein verdammter russischer Soldat bist, wisch den Scheiß hinter dir auf und versuch gar nicht erst, meine dreckigen Unterhosen zu finden, denn der einzige Dreck in diesem Raum bist du!“ Ich ließ ihn an einer markanten Stelle im Flur liegen, schloss die Tür – und kehrte erst im Juni in meine Wohnung zurück. Es waren fast keine Menschen auf der Straße, nur lange Autoschlangen. Niemand hat geschrien, niemand ist gerannt, aber es lag eine gewisse Angst in der Luft. Als wir im Studio ankamen, das war unser Treffpunkt und sicherer Ort, sortierten wir Produkte, Medikamente und andere Dinge aus und begannen, Projekte zu sichern und Nachrichten an unsere Kunden zu schicken, dass wir leider nicht in der Lage sein werden, die Arbeit in der vorgegebenen Zeit fertigzustellen. Am Abend desselben Tages beschlossen wir, zurück in die Wohnung meiner Freundin Karyna zu gehen, denn sie wohnt im fünften Stockwerk von neun und ich im fünften von fünf – was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Rakete ihre Wohnung trifft, viel geringer ist –, um zu duschen und vielleicht in einem Bett statt in einem Bunker zu schlafen, denn in den Nachrichtenkanälen war es ruhig. Wir wechselten uns beim Schlafen alle zwei Stunden ab, eine schaute die Nachrichten, die anderen schliefen. Als ich zu meiner Schicht aufwachte, um meine Freundin Haiane abzulösen, beschlossen wir, noch eine Weile zusammen im Bett zu liegen und aus dem Fenster zu schauen. Eine Minute später hörten wir ein lautes Motorengeräusch, überprüften sofort die Nachrichten – da war nichts, nach ein paar Sekunden ein weiteres Geräusch, aber lauter, direkt über uns. Plötzlich änderte sich das Bild außerhalb des Fensters von einer dunklen, friedlichen Nacht zu einem orangeroten Leuchten, das von der Explosion herrührte. Es war ein Einschlag in einem Wohngebäude sieben Kilometer von uns entfernt. Es gab Tote und Verwundete. Ich werde nie vergessen, was da passiert ist. Ich werde mir in meinem Leben nie wieder mit Freude einen schönen Sonnenuntergang anschauen können, wenn die Sonne im Meer verschwindet oder hinter den Bergen und der Himmel sich rosarot färbt. Denn es wird mich immer an diesen Moment erinnern. An diesen Moment, den ich in meinem Leben nie vergessen werde. Ich werde nicht vergessen und ich werde nicht verzeihen. So ist mein 24. Februar 2022 vergangen.

Wie hat der Angriff der russischen Aggressoren euer Leben und das Leben eurer Freunde und Familien seither beeinflusst?
Anastasiia: Unser Leben ist in ein Vorher und ein Nachher unterteilt. Wir werden nie wieder dieselben sein. Viele unserer guten Freunde sind in den Krieg gezogen. Es ist sehr schmerzhaft und schwer zu begreifen, dass Menschen, die nie jemanden verletzt haben, nun töten und uns vor der totalen Ausrottung schützen müssen. Alles und jeder arbeitet jetzt daran, unser Recht auf Freiheit und Existenz zurückzuerobern. Allerdings gibt es ein benachbartes Drecksackland, das da andere Ansichten hat.
Mariana: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Wir haben uns alle zusammengerauft und geeinigt. Zuerst trieb uns die instinktive Todesangst in die Keller und Schutzräume. Viele Menschen saßen in U-Bahnschächten – sie lebten buchstäblich dort – und hatten Angst. Aber dann wurde die Angst durch Wut und Hass auf die Terroristen ersetzt. Es war notwendig, stärker zu werden, uns zu verteidigen und allen zu helfen, die dringend Hilfe brauchten. Wir sind allen dankbar, die der Ukraine helfen, die mit uns zusammen die Prinzipien von Demokratie und Freiheit verteidigen.
Nataliia: Viele Dinge, die vorher keine Rolle gespielt haben, haben an Bedeutung gewonnen. Und wenn du zurückblickst, denkst du, dass alles, was du vorher als Katastrophe oder Problem bezeichnen hättest oder das dich einfach nur aufgeregt hat, jetzt nichts mehr wert ist. Jetzt ist alles nur noch schwarz und weiß, vorher und nachher. Es wird nichts mehr so sein, wie es vorher war. Es ist nicht wie Corona, wo man ein geschätztes Enddatum, eine Prognose oder einen Plan hat. Es ist nicht nur eine Seite aus einem Geschichtsbuch, die du schnell umblättern willst, warum sich mit all den Schrecken konfrontieren, die damals irgendwo passiert sind. Es ist weder damals noch irgendwo, sondern hier und jetzt, und ohne Schulbuch. Meine Mutter darf das Land nicht verlassen, weil sie Beamtin ist, und mein Vater darf überhaupt nirgendwo hin, weil er in der Armee der Ukraine und seit dem ersten Tag der Invasion an der Front ist. Wir bleiben telefonisch in Kontakt, aber die Gespräche sind schwierig, denn meine Mutter hat mir nichts zu sagen und mein Vater kann mir einfach nichts erzählen, weil es vertrauliche Informationen sind. Und bei einigen Freunden offenbarte der Krieg ihr wahres Gesicht, denn er steigert bis zum Maximum, was in einem steckt. War es Scheiße, dann kam die Scheiße jetzt heraus und diese Menschen, was auch immer sie vorher für mich waren, fallen weg. Während andere, die ich kaum beachtet hatte oder von denen ich nicht dachte, dass wir uns so nahe standen, ihre wahre Freundschaft und Unterstützung zeigten.

Stimmt es, dass einige von euch inzwischen in Adelaide und Barcelona leben? Als Folge des Krieges?
Anastasiia: Ja, nach einem Monat unter Bombadierung haben meine Familie und ich beschlossen, dass mein Sohn, meine Mutter und ich nach Barcelona ziehen.

Nataliia: Ich bin Tonregisseurin. In den letzten sechs Jahren habe ich in einem sehr engen Fachgebiet gearbeitet: Geräuschemacherin. Ich habe in einem erfolgreichen und in der Filmwelt bekannten Unternehmen gearbeitet, das Ton-Postproduktion anbietet. Und seit Juni 2022 lebe und arbeite ich zusammen mit meiner Freundin Karyna in Adelaide. Vor der Invasion hatten wir ein Angebot erhalten, in Australien zu arbeiten, nicht für einen dauerhaften Aufenthalt, sondern nur für drei bis sechs Monate, um ein paar Projekte zu machen, das ist in der Filmindustrie üblich. Wir beschlossen damals, diesen Vorschlag später zu besprechen, da wir in unserem Studio in Kiew eine Menge Arbeit und Projekte hatten. Dann begann der Krieg. Unsere Firma hat angekündigt, dass sie auf unbestimmte Zeit geschlossen wird. Wir beschlossen, auf den Vorschlag mit Australien zurückzukommen, und begannen, den Papierkram und die Dokumente zu erledigen. Ich kann also nicht sagen, dass dies eine Folge der Invasion ist. Auf jeden Fall wollten wir die Gelegenheit nutzen, um neue Arbeitserfahrung zu sammeln. Die Umstände haben nur sich so entwickelt, dass es nun früher dazu gekommen ist, als wir geplant hatten.

Was hat der Krieg mit der ukrainischen Punk- und Hardcore-Szene gemacht?
Anastasiia: Sie war und ist immer noch eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam an der Entwicklung der ukrainischen Heavy-Musikszene arbeiten. Wir sind alle eine große Familie, egal, wo du bist, du hast die Liebe zur Heavy-Musik als Gemeinsamkeit. Wir haben viele Gigs und Festivals gespielt, Spaß gehabt und die ukrainische Szene unterstützt. Im Moment tun die Musiker viel für unser Land: Einige touren, verbreiten Nachrichten über die Ukraine, sammeln Spenden, andere sind bewaffnet an die Front gegangen, um uns vor der russischen Besatzung zu schützen. Außerdem gibt es jetzt viele Konzerte in nicht-besetzten Gebieten, zum Beispiel in Kiew, Lviv und Odessa. Sie sammeln auch Spenden für unsere Armee, unterstützen sich gegenseitig und leben ihr bestmögliches Leben. Ich glaube, wir stehen jetzt enger zusammen als je zuvor.
Nataliia: Das Gleiche gilt für die ganze Nation – sie ist vom Untergang bedroht. Wir haben ein sehr gutes Team, jeder hat sich schnell zurechtgefunden, fing an, ins Ausland zu gehen, um Wohltätigkeitskonzerte zu geben, und spendete das Geld für die Bedürfnisse des Landes und des Militärs. Viele Jungs und Mädels aus der Punk-Szene gingen zu den Streitkräften, andere gaben in den entlegensten und unbesetzten Ecken der Ukraine Benefizkonzerte, um der Bevölkerung und unseren Kämpfern Kraft zu geben. Das hat unsere Szene noch mehr zusammengeschweißt und wir werden nicht aufgeben.

Ihr sammelt Geld für „Come Back Alive“, eine Organisation, die die ukrainische Armee mit dringend benötigtem technischen Material versorgt. Warum diese Organisation?
Anastasiia: Im Allgemeinen versuchen wir eher, die Treffen unserer Freunde und Bekannten zu unterstützen. Aber wenn du die Ukraine finanziell unterstützen willst, ist „Come Back Alive“ eine gute, bewährte Initiative, die die ukrainischen Streitkräfte direkt unterstützt.
Nataliia: Das ist ein gute Adresse für unsere Fans aus dem Ausland, die helfen wollen und können. Aber wir spenden nicht nur für diese, sondern auch für viele andere kleine Organisationen. Außerdem sammeln wir nicht nur Geld, wir kaufen auch einiges an militärischer Ausrüstung und alles, was unsere Bürgerinnen und Bürger und das Militär brauchen könnten, etwa Thermokleidung, Medikamente, Spezialschuhe ... Viele unserer engen Freunde – und was soll ich sagen, mein Vater – sind jetzt an der Front. Wir helfen ihnen, das besser zu ertragen.
Mariana: „Come Back Alive“ dokumentieren genau, was sie machen, da sind wir uns sicher. Die Organisation rüstet die ukrainische Armee mit extrem wichtigen technischen Mitteln aus.

Bei den meisten Punkbands in Westeuropa und Nordamerika ist es fast undenkbar, dass sie eine Organisation unterstützen, die direkt mit dem Militär des Landes verbunden ist. Warum ist das bei euch unter den aktuellen Umständen anders?
Anastasiia: Weil es um die totale Auslöschung unserer Nation und unseres Volkes geht. Denn unsere Armee ist jetzt das Einzige, was die russischen Horden davon abhält, alles auszurotten, was wir lieben und wofür wir leben. Und allen, die denken, dass dies nur ein Problem der Ukraine ist, sei gesagt: sie irren sich gewaltig. Dies ist ein weltweiter Konflikt zwischen den demokratischen und diktatorischen Kräften.
Nataliia: Diese Bands aus Westeuropa oder den Vereinigten Staaten haben zum Glück nicht das Problem, dass in ihren Ländern ein Krieg mit den verdammten Russen tobt. Während wir, unsere Band und unser Land, in einer anderen Situation sind. Weil wir schon seit Jahren ein Arschloch als Nachbarn haben. Und noch mehr, weil dieser Nachbar versucht, unsere Kultur, Musik, Schriftsteller zu zerstören und sich anzueignen. Oder meinst du, dass Musik nichts mit Politik zu tun haben sollte? Oder glaubst du, dass wir schweigen und die Dinge nicht beim Namen nennen werden? Nein! Ich bin ein Patriotin meines Landes, ich bin ein ehrlicher freier Mensch und ich spiele in einer verdammten Punkrock-Band! Also werde ich auf jede mir mögliche Art die Dinge beim Namen nennen und sagen, was wirklich passiert, und das unterstützen, was ich für notwendig halte – sei es das Militär oder Tierheime oder die Opfer von Gewalt ...

Wart ihr schon einmal außerhalb der Ukraine auf Tour?
Anastasiia: Nein, DEATH PILL waren noch nie außerhalb der Ukraine auf Tour.
Mariana: Ich persönlich war noch nie im Ausland.
Nataliia: Ich war 2016 in Polen auf Tour, als Teil einer Jazz-Big-Band, ich hatte ein riesiges Bariton-Saxophon. Ich war viel jünger und hatte nur wenig Geld, also kann ich mich nur daran erinnern, was ich nicht mochte – super teure Zigaretten und geschmackloser McDonald’s-Fraß. Die Tour war cool und interessant. Vor Corona habe ich schon einige Rock-Konzerte und Festivals in Europa besucht. Ich fand das damals sehr faszinierend und stellte mir vor, selbst mal auf einer dieser großen Punkrock-Bühnen zu stehen. Ich denke, dass es in Zukunft mit DEATH PILL genauso kommen wird.

Habt ihr irgendwelche Tourpläne oder ist im Moment alles zu unsicher und unvorhersehbar, um Pläne zu machen?
Anastasiia: Wir sind nur daran interessiert zu gewinnen. Und wir müssen alles tun für unseren Sieg. Unsere Waffen sind die Musik und die Stimmen – und wir werden laut schreien! Damit wir wieder zusammenkommen können und mehr Zeit haben, um zu proben und neues Material zu schreiben. Wir wollen das Jahr 2023 mit Touren und Konzerten verbringen, über unser Land erzählen, Gleichgesinnte finden, unsere Verrücktheiten teilen und Musik machen.
Nataliia: Und was ist hier unvorhersehbar? Haha! Der Krieg geht weiter und infolgedessen sterben unsere Leute, das ist schrecklich. Deshalb müssen wir das, was wir haben, erst recht wertschätzen und weitermachen, denn es gibt so viele, die ihr Leben dafür geben. Und diejenigen, die noch am Leben sind, arbeiten weiter für unseren Sieg! An allen Fronten, einschließlich der Kultur. Wir schmieden Pläne, werden Alben veröffentlichen und touren! Die verdammten russischen Bastarde werden uns und unsere Kreativität nicht aufhalten. Wir sind stärker als je zuvor.
Mariana: Das ist noch ein Geheimnis. Wir würden total gerne touren, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie wir es möglich machen können. Sobald aus den Plänen Tickets und Termine werden, werden wir euch informieren. Folgt uns in den sozialen Netzwerken an, um nichts zu verpassen.

Wie habt ihr euer Album aufgenommen, wo ihr doch so weit voneinander entfernt wohnt?
Anastasiia: Das Album war schon vor dem Krieg fast fertig, aber wir haben den Prozess noch hinausgezögert. Doch sobald die Bombardierungen begannen, haben wir uns sehr schnell an die Fertigstellung gemacht – Abmischung, Mastering, Cover. Vieles wurde aus der Ferne erledigt, online. Wir sind ständig in Kontakt miteinander, das funktioniert sehr gut.
Mariana: Das Schlagzeug haben wir schon 2019 aufgenommen. Die Gesangsaufnahmen haben wir im August 2021 beendet. Wir hatten gerade begonnen, mit einem Künstler zu arbeiten, Zeichnungen anzufertigen und einen Tontechniker für das Mischen und Mastern zu suchen. Sechs Monate später begann der Krieg.
Nataliia: Nach dem 24. Februar 2022 haben wir uns ein System ausgedacht, uns mit unserem Tontechniker und Art-Designer abgesprochen und das Album aus der Ferne abgemischt. Jeder von uns hörte sich die Tracks zu Hause, in der Unterkunft oder im Flugzeug an und haben sie weiter bearbeitet. Ja, es lief nicht so, wie wir es geplant hatten, aber dank unseres professionellen Teams und unseres starken Charakters haben wir es trotz der Psychosen, Schmerzen und Tränen bis zum Ende geschafft.

Ich habe gelesen, dass ihr einen ukrainischen und einen russischen Song auf eurem neuen Album habt, wovon handeln sie?
Anastasiia: Nein, wir haben zwei russischsprachige Lieder auf „Death Pill“. Wir haben uns entschieden, sie nicht zu entfernen, weil sie Ausdruck unserer Kreativität, unserer Geschichte und des Materials sind, an dem wir lange gearbeitet haben. Wir wissen, dass es seltsam aussieht, aber wir verurteilen die russische Propaganda, laut der alle auf Russisch kommunizierenden Menschen unterdrückt werden und „beschützt“ werden müssen. Wir zeigen einmal mehr, dass das alles Schwachsinn ist. Ich kann dir aber versichern, dass du von DEATH PILL keine weiteren russischsprachigen Songs hören wirst.
Mariana: Es heißt, dass meine Großmutter in der russischen Stadt Ust-Kurdyum geboren wurde. Ich habe meine Kindheit in Irpin in der Ukraine verbracht. Das ist nur meine Geschichte. Ich hasse Russland. Aber ich kann meine Geschichte nicht löschen. Ich schäme mich furchtbar, das zu sagen. Doch das ist schlicht die Wahrheit. Ich kann sie nicht verstecken. Ja, ich will mich nicht mehr verstecken. In dem Lied „Друг“, also „Droge“, geht es um miese Freunde. Hast du auch so welche? „Расцарапаю Ебало“ oder „Rastsarapay Ebalo“ ist meinem Ex gewidmet Und wenn du ihn hörst, Schatz, solltest du wissen, ich werde dir dein verdammtes Gesicht zerkratzen, bis es blutet! Übrigens jetzt dient dieser Ex in den Streitkräften der Ukraine und beschützt uns. Das Leben ist unberechenbar ... Ich habe mich sehr geschämt, als ich das herausfand. Scheiße, ich werde ihn sofort anrufen und mich entschuldigen ... Oder ich schreibe ihm ... Oder wenn ich mich immer noch nicht traue ... Mischa, wenn du das hier jemals liest – vergib mir. Ich habe mich auch geirrt. Ich habe sieben Jahre gebraucht, um es herauszufinden.... Fuck. Ende. Ich bin fertig ...
Nataliia: Was soll ich noch sagen? Warum sind diese Lieder auf Russisch? Weil wir beide Sprachen sprechen konnten und es auch taten. Diese Tracks werden ein weiteres Zeugnis für die Lügen der Russen und ihre Propaganda sein. Seht her, niemand verbietet uns, uns auf Russisch auszudrücken, niemand unterdrückt eure verdammte Sprache. Diese Tracks sollten in der Geschichte unserer Band zumindest archivarisch erhalten bleiben, denn sie begleiteten uns auf dem ganzen Weg der Entstehung dieses Debütalbums. Ja, sie könnten entfernt werden. Stattdessen war es so, dass „Rastsarapay Ebalo“ so was wie unsere „Visitenkarte“ wurde, die Grundlage für das erste professionelle Musikvideo etc. Wir könnten alles übersetzen und umschreiben, aber wenn etwas so tief im Gedächtnis haften bleibt, wie scharf muss dann das Messer sein, um es herauszuschneiden? Nach langen Auseinandersetzungen mit dem Gewissen, der Moral und untereinander haben wir beschlossen, alles so zu veröffentlichen, wie es war, es dann hinter uns zu lassen und etwas Neues zu beginnen – ohne russische Texte.

Wie seid ihr mit eurem Label New Heavy Sounds in Kontakt gekommen?
Anastasiia: Sie haben geschrieben, dass sie an unserem Projekt interessiert sind. Daraufhin haben wir uns unterhalten, fanden uns sympathisch und wollten zusammenarbeiten.
Mariana: Ich hatte geplant, dass wir ein Album in Eigenregie veröffentlichen und es dann an die Labels schicken, um mit ihnen unser zweiten Album anzugehen. Aber dann begann der Krieg. Wir hatten ein fertiges Album, das auf meinem Computer rumlag. Es fehlten eigentlich nur noch drei Illustrationen. Ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum, aber ich weiß noch, dass die Mädels mich anriefen und sagten: „Wenn du den Vertrag heute nicht unterschreibst, dann ... “ Und da wurde es mir klar. Als ich ein Teenager war und das erste Album von METALLICA hörte, träumte ich davon, dass ich meinen Vertrag in London unterschreiben würde, auf einem roten Ledersofa sitzend und eine Zigarre rauchend. Nun habe ich meinen ersten Plattenvertrag in einem Luftschutzbunker in Kirowograd unterschrieben, zusammen mit meinem Freund, mit fettigen Haaren, ohne Make-up und mit einer Bindehautentzündung. Ich habe ihn selbst ausgedruckt, für einen Dollar, und benutzte einen Stift, der fast keine Tinte mehr hatte. Um ehrlich zu sein, verstand ich zu diesem Zeitpunkt nicht viel. Genauer gesagt, ich verstand überhaupt nicht, was ich da unterschrieb. Jetzt beantworte ich dieses Interview in meinem Haus. Neben meinem Freund. Ich trinke meinen Cappuccino. Ich habe wieder fettige Haare, aber ich habe mein Gleichgewicht wieder und das bleibt auch so. Ich hatte es nur vergessen. Ganz ehrlich, du vergisst einfach, deine Haare zu waschen, wenn du eine Explosion vor dem Fenster hörst.

Das Albumcover ist ziemlich martialisch. Was ist der Hintergrund? Und wer hat es gezeichnet?
Mariana: Vor Nataliia hatten wir Elya als Bassistin. Sie war vier Jahre jünger als ich und Nafa. Sie war wie ein kleines Kind. Sie war immer frech, kapriziös, infantil, ein bisschen verantwortungslos und unhöflich. Generell denke ich, dass sie mich damals sehr inspiriert hat. Wir waren gute Freunde, bis sie nach Kalifornien zog. Sie war wie ein echtes Riot Grrrl. Sie war sehr klug und talentiert, wie alle Frauen, wenn sie ihre „Amazone“ rauslassen! Das Kätzchen wird seine Krallen ausfahren und seine Reißzähne zeigen, wenn du es nicht so streichelst, wie es ihm gefällt. Elya konnte schon mal die Probe verpassen und nicht ans Telefon gehen, wenn ich angerufen habe. Aber sie hat so coole Auftritte hingelegt! Und jetzt ist Nataliia meine Bassistin. Ich bin jedes Mal überrascht, wenn sie mich aus Australien anruft, nur um zu reden: „Hi Darling! Ich habe mir im Salon eine Maniküre und die Augenbrauen machen lassen, jetzt bin ich beim Kickboxtraining. Lass uns einen Kaffee trinken gehen, nachdem ich ein paar Ideen für die Basslinie in diesem Lied habe, tschüss!“ Und ich denke mir nur: Was zum Teufel?! Meine Schlagzeugerin Nafa zieht einen achtjährigen Sohn groß, spielt mit uns in einer Band und noch in einer anderen Band. Zu Hause, jetzt in Spanien, lernt sie Gitarre spielen, bereitet das Essen für den Sohn zu, putzt das Haus, bringt ihn zur Schule, holt ihn von der Schule ab, schneidet unser Video, geht auch zur Maniküre, zur Arbeit – sie ist Video-Cutterin, Regisseurin und Schlagzeuglehrerin –, zum Training, zum Training ihres Sohnes, zum Spanischunterricht. Soll ich weiter machen? Frauen. Nur Frauen können das tun. Amazonen. Schneiden sich die linke Brust ab, damit sie sie nicht beim Bogenschießen behindert. Weißt du, Gitarre spielen im Sitzen ist auch sehr lästig, wobei moderne Frauen sich die Brüste eher nicht amputieren. Männer gehen auch zum Boxen. Und zur Arbeit. Aber das ist die technische Seite des Themas. Frauen füllen ihr Leben mit Emotionen. Gefühlen. Der Künstler, Ilya, der das Albumcover gemacht hat, ist männlich. Und ich denke, dass er in der Lage war, eine erstaunliche Symbiose aus unseren Gefühlen und seinen Gefühlen herzustellen, und das ist es, was wir bekommen haben!
Nataliia: Wir nennen Ilya auch scherzhaft „die vierte Pille“, weil er nie die Kamera anmacht, wenn wir ein Meeting haben, um über das Artwork zu reden. Deshalb vergessen wir manchmal, dass er bei dieser Konferenz anwesend ist, und fangen an, unsere Mädelswitze zu machen oder über Unterwäsche, Tampons, Menstruation zu diskutieren oder wer einen Pickel am Hintern hat. Dann merken wir plötzlich, dass er bei uns ist, und sagen: „Ilya, es tut uns leid, halte uns das nächste Mal auf, denn wir können stundenlang vom Thema abschweifen, tut uns leid, vielleicht hast du etwas gehört, das dich verstört hat.“ Und er antwortet: „Hahaha, keine Problem, haha, so verstehe ich euch viel besser. Ich bin gerade dabei, eine Idee zu skizzieren und Notizen zu machen, macht weiter!“

Letzte Frage: Könnt ihr euch vorstellen, eines Tages in Russland auf Tour zu gehen, nachdem sich die Aggressoren hinter die Grenze zurückgezogen haben und eine Art Frieden herrscht?
Anastasiia: Ich kann mir eine Tour durch Russland vorstellen, aber erst, wenn Russland weg ist. Tatsächlich wurden wir immer wieder eingeladen, in Russland zu touren, aber meine klare Antwort lautet: nein. Selbst wenn der Krieg vorbei ist, haben wir kein Recht, alles zu vergessen, was sie uns angetan haben.
Mariana: Dass du dieses Thema ernsthaft als Letztes auf der Liste hast, tut mir sehr leid. Es tut mir sehr leid, dass all der Schmerz, die moralischen Verletzungen, die vielen Tränen und das Blut, das unser Volk in den letzten zehn Jahren vergossen hat, offenbar nichts bedeutet!? Soll ich mir einen Timer stellen und zählen, wie viele Stunden ich nach der Beantwortung dieses Interviews geweint habe? Die Antwort auf deine Frage lautet also: nein, niemals! Weder nach dem Ende des Krieges noch nach der Anerkennung aller ukrainischen Gebiete, auch nicht in zehn Jahren – unter keinen Umständen werde ich auf dem Territorium des Aggressorstaates auftreten!
Nataliia: Nein. In einem unabhängigen Tschetschenien, unabhängigen Tatarstan, unabhängigen Baschkortostan, unabhängigen Dagestan, unabhängigen Jakutien, unabhängigen Tuva, unabhängigen Chakassien: ja. In Russland: nein.