Studioalben sind reine Inszenierung, so statisch, durchdacht und arrangiert wie inszenierte Bandfotos im Gegensatz zu Livefotos. Das wahre Leben tobt auf der Bühne, da wird geschwitzt und improvisiert, da kann man nichts faken. Oder doch? Sind Livealben auch nur Kalkül, ein billiger Albumersatz, wenn Bands gerade nichts anderes einfällt? Es ist wie immer eine grundsätzliche Frage, über die wir uns hier Gedanken gemacht haben.
Dafür
Das wahre Leben spielt sich auf der Bühne ab. Da erkennt man schnell, ob ein Studioalbum nur ein mühsam zusammenproduziertes Werk ist, auf dem im Zweifelsfall Studiomusiker, Mischer, Aufnahmetechniker, Produzenten gemeinsam die Band, den Künstler über die Ziellinie geschoben haben. Live, auf der Bühne, offenbart sich dann, ob hier gefaket, getrickst wurde, sofern nicht auch hier gefaket und getrickst wird, mit Zusatzgitarrist hinter dem Vorhang, mit Tonspuren aus dem Rechner. Liveplatten von „echten“ Bands hingegen, die solche Tricks nicht nötig haben, dokumentieren die Spielfreude einer Band auf ideale Weise, die sich ja unmittelbar aus der Interaktion mit dem Publikum speist. Auf dem Konzert ist man direkt involviert, tanzt, passt auf sein Bier auf, muss mit der Begleitung die Eindrücke erörtern – eine Rockshow ist eben kein Klassikkonzert, wo man mucksmäuschenstill auf seinem unbequemen Sitz hockt und konzentriert lauscht – und idealerweise nicht einnickt ... Veröffentlicht eine geschätzte Band dann eine Liveplatte – hoffentlich wirklich live, also von einem Konzert, ohne viel Nachbearbeitung, und nicht aus fünf Mitschnitten zusammenhomunkelt –, hat man die Möglichkeit, sich mal auf die „Performance“ zu konzentrieren. Singt der Sänger wirklich den Text, wie er abgedruckt ist? Trommelt der Drummer live anders als in der Studiokabine, kann der Gitarrist echt was? Ach, der Song ist eigentlich viel schneller? Und die Ansagen: kreativ oder jeden Abend anders? Interessant wird all das auch bei Bands, die nicht nur fünf Jahre aktiv sind, sondern über Jahrzehnte. Zugegeben, hier ist viel musikhistorische Sicht in die Argumentation eingeflossen, nicht alle Liveplatten sind relevant, aber ohne „It’s Alive“ von den RAMONES, „Lights Out in Tokyo“ von UFO, die zehn (!) Liveplatten von MOTÖRHEAD würde mir, würde uns was fehlen. Auch und gerade in Zeiten von zig YouTube-Livevideos.
Joachim Hiller
Dagegen
Gute Live-Alben fallen mir nicht viele ein. „It’s Alive“ vielleicht, das legendäre Doppel-Livealbum der RAMONES, „Concert“ von THE CURE oder „No Sleep ’til Hammersmith“ von MOTÖRHEAD noch. Dann wird’s aber auch schon dünn. Die allermeisten Live-Alben sind überflüssig wie ein Kropf. Auch Konzertfilme interessieren mich überhaupt nicht. Warum? Finde ich einfach total langweilig. Ich höre mir entweder die Studioalben in bestmöglicher Tonqualität an oder besuche das Konzert und erlebe die Band selbst mit allen Sinnen. Auf den wenigsten Live-Alben wagen die Bands mal was Neues, interpretieren ihre Stücke völlig anders oder bieten eine echte Alternative zum Studioalbum. Meistens werden die Studioproduktionen eins zu eins auf die Bühne übertragen und so dann auch fürs Live-Album aufgezeichnet. Der Mehrwert ist also für mich sehr überschaubar. In meinen Augen gehören Live-Alben zu den vielfältigen Möglichkeiten einer Band, ihrem Publikum noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen oder unliebsam gewordene vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen. Neben Unplugged-Versionen oder Best of-Compilations eben. Am besten noch veröffentlicht kurz vor Weihnachten. Vor allem große Bands können sich darauf verlassen, dass Die Hard-Fans zugreifen, um die Lücken in ihren Sammlungen zu schließen. Ein guter deutscher Sammel-Nerd denkt in Reihen und Seriennummern. Bands wie die TOTEN HOSEN haben ihre Vermarktungsstrategie perfektioniert. Mit „Alles ohne Strom“ ist ganz aktuell im November ein Live-Album im Big Band-Style erschienen. Eingespielt in der Düsseldorfer Tonhalle. Schon 2005 hatten die Hosen ein Unplugged-Album im Wiener Burgtheater aufgezeichnet. Und dazwischen gab es im März 2019 noch das Live-Album „Zuhause Live: Das Laune der Natour-Finale“. Alles natürlich auch erhältlich als Deluxe-Boxset mit Bonus-Schnick Schnack. Wer hört sich das alles an? Ich nicht.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #147 Dezember/Januar 2019 und Wolfram Hanke