In Zeiten von musikalischer Übersättigung in allen Lebensbereichen, aber auch im Mikrokosmos Punk/Hardcore, wo jeden Monat tonnenweise Neuveröffentlichungen auf den Markt geschmissen werden, gilt es immer wieder, sich auf das Wesentliche und wirklich Essentielle zu konzentrieren. Auf Bands und Musiker, die es wirklich können, die einen Stil (mit)geprägt haben und nicht nur massenkompatibel reproduzieren. Bands, die authentisch sind, eben ehrlich. Musiker, die unten angefangen haben und darum jetzt auch gerne weiter oben auf der Treppe des Erfolges stehen dürfen. All das trifft sicherlich auf Chris Wollard zu, der vor allem durch seine Tätigkeit bei HOT WATER MUSIC an der Gitarre bekannt sein dürfte. Mit den SHIP THIEVES hat er jetzt – nach vielen längst dahingeschiedenen Formationen wie BLACKTOP CADENCE, CRO(W)S und RUMBLESEAT – eine neue Band ins Leben gerufen und auf dem Heimatlabel No Idea ein Studioalbum veröffentlicht.
Und während viele der aktuellen Soloscheiben vornehmlich den Pfad des amerikanischen Folk und Country beschreiten, geht Wollard einen etwas anderen Weg: Größtenteils im Indie-Genre angesiedelt, ist ein vielseitiges Album entstanden, welches vor allem durch seine Entspanntheit auffällt, die sich wie ein roter Faden durch das Debüt zieht. Diese Erkenntnis ist im Hause Wollard durchaus ein Novum und im direkten Vergleich mit alten Projekten in der Form nicht anzutreffen. Grund genug also, noch einmal genau nachzufragen. Ich traf dabei auf einen überaus offenen und interessanten Gesprächspartner, der trotz einer zuletzt schwierigen Zeit einiges zu erzählen hatte.
Chris, reden wir über dein neues Album: Die meisten Songs auf der SHIP THIEVES-Platte hören sich wie nichts an, was du zuvor gemacht hast ...
Ich glaube, ich weiß, was du meinst und ich kann deine Ansicht nachvollziehen. Für mich stellt sich das allerdings etwas anders dar. Die Songs sind über einen eher langen Zeitraum von ungefähr fünf Jahren entstanden, an unterschiedlichen Orten aufgenommen worden und spiegeln dadurch natürlich auch unterschiedliche Stimmungen wider. Ich habe Ben, der bei SHIP THIEVES unter anderem Akustikgitarre spielt, 2003 getroffen. Zu der Zeit hatte er das Sunny Heights-Studio in Los Angeles und wir haben da sporadisch immer wieder etwas aufgenommen. Der Song „The same to you“ stammt zum Beispiel aus dieser Zeit. Die Jahre danach habe ich dann an unterschiedlichen Orten hier in Gainesville weitergemacht, bis dann irgendwann klar war, dass daraus ein ganzes Album werden soll. Die Songs waren vorher nie für eine bestimmte Band gedacht, ich habe sie einfach gespielt und aufgenommen. Bis dahin war auch nicht wirklich sicher, ob und wo das Ganze veröffentlicht wird. Demnach hatten wir auch kein Geld fürs Studio und so weiter, weil wir einfach kein Label im Rücken hatten, das das finanzieren konnte. Das ist der Grund, warum das Album im Prinzip bei Freunden aufgenommen wurde. Epitaph stand dann als möglicher Partner irgendwann mal im Raum und Brett Gurewitz ist ein guter Freund von mir, aber ich wollte die Scheibe dann doch lieber heimatnah veröffentlichen. No Idea bot sich da natürlich an und Var, der Chef, hat sofort zugestimmt. Abgesehen davon, ist es so, dass ich, während ich Songs schreibe, eigentlich nie weiß, für welche Band sie später benutzt werden. Um es klar zu sagen: Bei einigen der Songs auf der neuen Platte war es nicht immer sicher, dass es SHIP THIEVES-Songs werden oder sie vielleicht doch bei THE DRAFT Verwendung finden. Darum war es für mich auch so wie immer, ich habe Songs nie anders geschrieben. Neu war diesmal einfach der Aufnahmeprozess, der sich, wie eben erwähnt, über einige Jahre erstreckt hat.
„No exception“, der erste Titel, ist ein sehr geradliniger, klassischer Rock-Song, der mich immer wieder an die REPLACEMENTS erinnert, alles andere ist eher ruhig.
Ja, „No exception“ ist ein typischer Rock-Song. Es ist wohl der Song auf der LP, der die meisten klassischen Rock-Elemente aufweist.
Andererseits finden sich in einigen Songs von dir, auch bei THE DRAFT, immer wieder Blues-Themen, womit wir wiederum bei einem altbewährten Modell wären, was schon seit Jahrzehnten funktioniert.
Du bist einer der Ersten, der das zur Sprache bringt, und ich muss sagen, es stimmt. Ich benutze immer mal wieder bestimmte Elemente aus dem Blues, das sind ganz einfache musikalische Abfolgen, die aber unglaublich intensiv klingen und wirken können. Da gibt es dann nicht viel Drumherum, die Songs sind auf das Wesentliche reduziert, alles andere spielt keine Rolle und es ist nicht entscheidend, ob der Verstärker nun richtig eingestellt ist oder die Gitarre perfekt gestimmt ist. Ich weiß auch, dass es zig Songs über gebrochene Herzen gibt, aber verdammt noch mal, hier geht es um mein Herz, um meine Verzweiflung, die einfach raus muss, da interessiert es mich nicht, dass es so etwas irgendwann vorher schon einmal gegeben hat. Eine Freundin von mir ist Künstlerin und hat eine Galerie hier in der Stadt. Ich bin da letztens mal vorbei gegangen und wir kamen auf das Thema Blues zu sprechen. Ich sagte ihr, dass Etta James eine meiner absoluten Lieblingssängerinnen ist, und sie sagte, das würde gut passen, sie arbeite gerade an einem Bild von ihr. Sie hat mir dann einen Tausch angeboten, ich bekomme das Bild, wenn ich auf einer Ausstellung von ihr mit ein paar Freunden zusammen ein paar Blues-Songs spiele. Ich habe natürlich sofort zugesagt. Es gab auch Barbecue und Wein, hehe.
Das Coverartwork beziehungsweise die Bilder, die sich im Booklet finden, sind alle sehr naturbezogen. Gibt es dafür einen Grund?
Als ich mit einer alten Band von mir, den CRO(W)S, die damalige LP geschrieben habe, war ich ziemlich angepisst und wollte das auch zum Ausdruck bringen. Mit anderen Worten: Die Grundstimmungen auf den unterschiedlichsten Veröffentlichungen haben sich auch immer im Artwork niedergeschlagen. Bei den SHIP THIEVES war es diesmal etwas anders, ich wollte einfach nur das zeigen, was mein Leben in diesem Zeitraum ausgemacht hat. Es ging also darum, ein möglichst neutrales Artwork zu suchen, was solche Dinge wie Raum und voranschreitende Zeit wiedergibt. Ich bin mit meiner Freundin immer viel unterwegs und da sie leidenschaftliche Fotografin ist, haben wir einfach mal die ganzen Fotos durchgeschaut, die wir hatten. Von ihr sind auch alle Fotos, die im Booklet abgedruckt sind. Das Coverfoto jedoch stammt von Chuck Ragan. Als wir das gesehen haben, wussten wir sofort, dass es das Cover wird. Ich habe Chuck dann nur kurz angerufen und gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn wir sein Foto benutzen, und damit war die Sache beschlossen.
Wo kommt der Name SHIP THIEVES überhaupt her?
Von dem gleichnamigen Buch einer Autorin namens Siân Rees. Ich habe es gelesen, als ich in Tasmanien war. Es geht in dem Buch um Gefangene, die von Australien nach Tasmanien verschifft werden sollen. Irgendwann wehren sich diese Männer, kapern das Schiff und segeln auf der Flucht um die halbe Welt, bevor sie entdeckt werden. Im Prinzip geht es um Freiheit und darum, dafür zu kämpfen. Das Ganze basiert auf einer realen Person und hat mich irgendwie fasziniert. Ich lese viel so historische Geschichten, das interessiert mich.
Was hast du denn mit den SHIP THIEVES noch geplant?
Eine ganze Menge. Die Songs für das aktuelle Album waren im Oktober letzten Jahres alle fertig. Ich habe seitdem viel geschrieben und war extrem produktiv, ich hatte einfach so viel Zeug in meinem Kopf, das raus musste. Ich versuche im Moment wirklich, jeden Tag weiterzukommen und an den Songs zu arbeiten. Als Nächstes erscheint erstmal eine Splitsingle mit NINJA GUN, die aber gerade auf Tour sind, weswegen ich nicht genau weiß, wann alles aufgenommen wird. Dann habe ich wieder ein paar Songs zusammen mit Mike Hale von IN THE RED und ehemals GUNMOLL aufgenommen, die wohl auch auf einer Single veröffentlicht werden. Abgesehen davon, arbeiten wir schon am nächsten Album, das bereits zur Hälfte fertig ist. Da steht aber noch kein Label oder Veröffentlichungsdatum fest. Diverse Touren in diverse Länder sind auch im Gespräch, aber da ist auch noch nichts spruchreif. Man muss sich das heute alles gut überlegen. Es ist doch relativ risikoreich, mit einer Band von der Größe, wie wir sie gerade haben, einfach mal im Ausland auf Tour zu gehen.
Also wenn ich mir angucke, wie oft Chuck Ragan hier spielt und wie voll seine Shows sind, scheint es nicht wirklich schlecht zu laufen. Das ist ja schon vergleichbar.
Ja, das stimmt schon, aber es gibt einfach so viele Dinge, die es zu beachten gilt. Nehmen wir eine andere US-Band mit oder spielen wir besser mit europäischen Bands zusammen? Wenn wir eine US-Band und einen Techniker mitnehmen, sind wir schon mal ganz schnell zehn Leute, oder besser gesagt: zehn Flugtickets, die bezahlt werden wollen. Spielen wir 14 Tage nur in Deutschland und in England, oder bleiben wir besser sechs Wochen und packen Spanien, Frankreich und Italien noch mit auf den Tourplan? Genau das sind die Fragen, die alles so schwierig und risikoreich machen, und die wir gerade diskutieren.
Kannst du von der Musik allein leben oder hast du noch einen „richtigen“ Job?
Ein Freund von mir hat eine Baufirma, wo ich immer arbeiten kann, wenn es mir zu Hause zu langweilig wird, aber fest angestellt bin ich da nicht. Das würde aufgrund meines Terminkalenders auch gar nicht gehen, aber es ist gut zu wissen, dass ich dort immer einen Job haben kann, wenn ich ihn brauche. Von der Musik zu leben ist nicht ganz einfach, man kann schlecht planen und weiß nie, was passiert. Ich habe ja keine Ahnung, ob meine neuen Veröffentlichungen gut ankommen und gekauft werden oder eben nicht. Ich habe auch noch einen Sohn, der bei seiner Mutter lebt und für den ich mit sorgen muss.
Wie stehen denn die Chancen, noch mal neues Material von THE DRAFT zu hören?
Nun ja, es gab da einige Dinge in der Band, die uns dazu veranlasst haben, eine Pause zu machen. Aus dieser Pause wurde dann eine größere Pause und im Moment haben wir alle so viel zu tun, dass ich nicht genau weiß, wie und ob es weitergeht. George von THE DRAFT und HOT WATER MUSIC spielt ja auch bei den SHIP THIEVES Schlagzeug. Abgesehen davon haben wir noch einige Songs, die nie veröffentlicht worden sind. Auch ein paar wirklich dunkle Blues-Songs. Im Moment konzentriere ich mich aber auf die SHIP THIEVES.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #84 Juni/Juli 2009 und Timo Iden
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