CHAOSTAGE

Foto© by Triebi Instabil

Versuch eines Rückblicks - Teil 3: Die Neunziger Jahre/Hannover

Chaostage sind heute überall. Bei der Bahn, bei der CDU, im US-Repräsentantenhaus, wo immer etwas schiefläuft. Aber wer hat’s erfunden? Wir Punks! Deshalb diese Serie. Wir werfen zunächst noch einen Blick zurück in das Jahr 1995, um die Konsequenzen der damaligen Chaostage zu skizzieren, und berichten dann von den Ereignissen 1996.

1995

Am Montagmorgen danach wachte Hannover geschockt auf. Das, was die Medien und auch die Cops herbeifabuliert hatten, war zumindest ansatzweise am ersten Augustwochenende passiert. „Punks verbreiten Chaos in Hannover“ oder „2.500 Punker versetzten mit brutaler Gewalt eine ganze Stadt in Angst und Schrecken. Die Bilanz der Chaostage von Hannover: Mehr 130 Polizisten von den Chaoten zum Teil schwer verletzt“, so schrieb die Lokalpresse über das Geschehene. Von dem desaströsen Einsatzkonzept der Cops, das zu den zu tagelangen Straßenschlachten vor allem in der Nordstadt rund um das Sprengelgelände geführt hatte, war keine Rede, genau wie von der Unzahl verletzter Punks. Dass über 1.300 Punks in Gewahrsam genommen oder verhaftet worden waren, war dann schon eher ein Thema, ebenso wie die vollständige Plünderung des Penny-Markts – unter anderem auch durch die Anwohner: innen. Und die Rufe nach „Law and Order“ wurden richtig laut. Denn das innenpolitische Beben, das die Chaostage auslösten, traf auch die Landespolitik und vor allem auch „Landesvater“ Gerhard Schröder, der dabei war, sich als zukünftiger Kanzlerkandidat zu positionieren.

Von daher dürfte ihn der am 14. September 1995 im Niedersächsischen Landtag eingesetzte Untersuchungsausschuss ziemlich belastet haben. Das geschah auf Grund des Antrags des CDU-Abgeordneten und späteren Bundespräsidenten Christian Wulff und hatte den Auftrag, „den Ablauf des sog. Chaoswochenendes vom 3. bis 7. 1995 sowie die Ursachen und die Bilanz des Schreckens zu ermitteln, die nach jenem Wochenende zu verzeichnen war“. Die Stadt Hannover erhielt mit Hans-Dieter Klosa außerdem einen neuen Polizeipräsidenten. Klosa hatte sich in seiner Zeit in Braunschweig schon einen Namen als Hardliner gegen die linke Opposition gemacht und dort eng mit dem niedersächsischen Innenminister Glogowski zusammengearbeitet. Die Hannoveraner Punk-Szene sollte in den Folgejahren noch viel „Freude“ mit Klosa haben ...

Während der Chaostage in Hannover und eine Woche später in Oldenburg (dort trafen sich etwa hundert Punks) wurden die Daten von insgesamt 3.237 Menschen gespeichert, darunter 973 Minderjährige. In Hannover wurden zwei Spurendokumentationsdateien (abgekürzt „SpuDok“) angelegt. In diesen wurden alle Ingewahrsamnahmen, Festnahmen, aber auch alle ausgesprochenen Platzverweise und Stadtteilverbote erfasst. Da auch in Stuttgart zu Chaostagen aufgerufen worden war, wurden diese Daten nach Anforderung an die Polizei in Baden-Württemberg übermittelt, ohne die Rechtmäßigkeit der Datenerhebung zu überprüfen. Die erhobenen Daten wurden sowohl von der niedersächsischen als auch baden-württembergischen Polizei genutzt, um sogenannte Störer-Dateien anzulegen.

Die Auswirkungen auf die Punk-Szene in Hannover
Während die Chaostage von vielen, vor allem auswärtigen Punks als Erfolg gesehen wurden, wurden die Konsequenzen für die Punk-Szene in Hannover schnell spürbar. Die von Punks bewohnten Häuser in der Heisenstraße und das Sprengelgelände galten in der Öffentlichkeit und bei den Bullen nun als „Terrorzentralen“ und standen unter besonderer Beobachtung. Darunter fielen auch weitere alternative Wohnprojekte und Wagenplätze. Die Punks, die auf dem Sprengelgelände wohnten und von denen sich einige an dem Angriff auf die Queer-Kneipe Die schwule Sau beteiligt hatten, wurden aus der Sprengel geworfen. Das führte in der Folgezeit zu schweren Spannungen zwischen Punks und den Menschen der Sprengel. RECHARGE aus Hannover verarbeiten das in ihrem Song „Am Ende siegt der Staat“. Im Oktober wurde dann das Punk-Wohnprojekt in der Heisenstraße/Nordstadt von den Cops gestürmt, geräumt und sofort abgerissen. Die Bewohner:innen standen somit auf der Straße. Des Weiteren durften Punk-Konzerte im öffentlichen Jugendzentren nicht mehr stattfinden. Die zahlreichen festgenommenen Punks wurden mit Prozessen überzogen. Die ausländischen Punks, unter anderem Briten und Russen, blieben bis zu ihrer Aburteilung in Untersuchungshaft, darunter auch Iggy, Gitarrist der britischen Punkband CONTEMPT, der für einen angeblichen Flaschenwurf aus einer Menge von rund hundert Punks zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.

Reaktionen auf die Chaostage in der bundesweiten Punk-Szene
Auch dieses Mal fand sich in gefühlt jedem Fanzine ein Bericht über die Chaostage. Meist euphorisch, weil Punk ja definitiv nicht tot war und immer noch für einen Schocker gut, bei anderen klangen eher wehmütige Töne aufgrund der „ganzen Stumpfheit“ an. Dieses Mal gab es auch kein Zap-Sonderheft – es wurde gleich ein neunzigminütiger Film mit dem Titel „Krieg der Welten“. Es ist ein bunt-chaotischer Zusammenschnitt von Chaostage-Berichten von allen TV-Sendern, die übergangslos mit Szenen aus den beiden Weltkriegen und NS-Propagandafilmen wie „Jud Süß“ kombiniert wurden. So entsteht eine zynische Parodie auf die oft wirklichkeitsfremde Berichterstattung der Medien und die Forderung, die Chaoten wegzusperren. Unschlagbar ist das Interview mit HAMMERHEAD und die Aussage von Tobias Scheiße: „Ich bin Punkrocker und schmeiß Mülltonnen!“ Moses Arndt, seines Zeichens Zap-Herausgeber, schrieb ein Buch mit dem Titel „Chaostage“. Das Einzige, was es mit den Chaostagen verbindet, ist das Coverfoto von den Straßenschlachten in der Schaufelderstraße, davor ist ein Bild von Moses montiert. Das Buch selbst erzählt eine krude Story von Nazis, Punks, Skins, Autonomen und Bullen, die aufeinandertreffen und losgehen, die 2008 verfilmt werden sollte.

1996
Im Frühling wurde deutlich, dass sich die Polizeiführung ein zweites 1995 nicht bieten lassen würde. Die in der Szene kursierenden Flugblätter mit Titeln wie „Von Hannover lernen heißt siegen lernen“ mit einem Bild von den Chaostagen 1995, das die unter Flaschenbeschuss stehende Bullenschildkröte in der Schaufelder Straße zeigt, wurden natürlich von den Cops so verstanden, wie sie nicht gemeint waren. Schon am 2. Mai kündigte Polizeipräsident Klosa ein Verbot der Chaostage nach dem Versammlungsgesetz an. Grund sei, dass zu den Chaostagen 1995 auch Autonome angereist seien, die „erkennbare Organisationsstrukturen“ hätten. Am 8. Mai wurde ein neues Gefahrenabwehrgesetz mit drastischen Verschärfungen mit der SPD-Mehrheit durch den niedersächsisches Landtag gepeitscht und verabschiedet. Es gab drastische Verschärfungen wie die Aufnahme des Aufenthaltsverbots und die Umwandlung der Ingewahrsamnahme in Vorbeugehaft. So wurde es möglich, unliebsamen Personen oder gleich ganzen Gruppen Stadtteilverbot oder Stadtverbot zu erteilen. Der Zeitrahmen für Polizeigewahrsam wurde von bisher zwei auf vier Tage erhöht. Das Gesetz wurde zur äußerst wackligen Grundlage, um die für 1996 angekündigten Chaostage als Versammlung einzustufen und per Allgemeinverfügung vom 27.06.1996 zu verbieten.

Es gab also ein Versammlungsverbot für Punks, wobei eine Gruppe ab drei Personen als Versammlung gewertet wurde. Ein Verstoß dagegen wurde als Ordnungswidrigkeit eingestuft und sollte mit 1.000 DM Strafe geahndet werden. Der Verbotszeitraum begann am 26. Juli und dauerte bis zum 5. August. Der Verbotsraum umfasste den gesamten Landkreis Hannover. Die Bullen hatten einen Katalog von „punktypischem Verhalten“ aufgestellt, dazu zählten unter anderem „Alkoholgenuss und demonstratives Urinieren in der Öffentlichkeit“, „Anbetteln von Passanten“, „Diebstahl geringwertiger oder zum Verzehr geeigneter Sachen“ bis hin zu „Werfen von Steinen, Getränkedosen/flaschen“. Die Cops erwarteten rund 3.000 Autonome und Punks, und deshalb wurde Hannover selbst durch den Einsatz von über 10.000 Bullen, 18 Räumpanzern, 12 Wasserwerfern und 20 Lufttransportern (!) zur Festung gemacht. Auch das Fährmannsfest musste um eine Woche verschoben werden.

In dieser Zeit entstand auf Initiative von Menschen aus dem CRASSSFISH-Umfeld die Idee zu einem Sampler mit Hannoveraner Punkbands, um so ein Stimmungsbild der Hannoveraner Punk-Szene zu den Chaostagen 1996 abzubilden. Denn es war uns allen klar, wer als Punk zu den Chaostagen nach Hannover kommen sollte, würde direkt in den Knast wandern. Der Gewinn des Samplers sollte an die Rote Hilfe gehen, um so von Verfahren betroffene Punks zu unterstützen. Auf die CD mit dem Namen „Chaostage. Grüße aus Hannover“, die auf Konrad Kittners Label Highdive erschien, schafften es dann 26 Bands, darunter GIGANTOR, ANFALL, GAY CITY ROLLERS, BOSKOPS, DIE KELLOX, RECHARGE und auch PSYCHISCH INSTABIL. Noch mehr Bands kamen dann leider nicht auf die Compilation, wie etwa BURNED OUT. Das Projekt stieß allerdings nicht nur auf Zustimmung, Vorwürfe, zu „Ordnungstagen“ aufzurufen und die Szene zu spalten, kamen unter anderem vom so genannten Spiritus Rector oder auch vom Zap, wo dann von „echten Punks“ fabuliert wurde. Schnell gab es auch ein Flugblatt, das zu „Ordnungstagen“ einlud. Bei diesen mehr als unterirdischen Angriffen ging es eindeutig um die Deutungshoheit über die „Chaostage“. Allerdings ist es immer einfach, zu so etwas wie zur „Ab ins Lager Tour“ aufzurufen, wenn man entweder nicht vor Ort oder auf dem Sprengelgelände lebte oder optisch nicht ins Beuteschema passte. In anderen kursierenden Flugblättern wurde vorgeschlagen, bei einer totalen Abriegelung Hannovers einfach nach Bremen auszuweichen.

Anfang Juni wurde der über 430 Seiten lange Bericht des Untersuchungsausschusses zu den Chaostagen 1995 veröffentlicht. Silke Stokar von Bündnis 90/Die Grünen arbeitete diesen als innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen kritisch auf und stellte eklatante Mängel an der Polizeitaktik fest. Das reichte vom Einsatz von Pflastersteinen durch die Cops als Distanzwaffen bei der Auseinandersetzung ums Sprengelgelände über die Stürmung des als „Ruhezone“ ausgeschriebenen Welfengartens und des Fährmannsfests bis zu der oben genannten unkontrollierten Weitergabe von erfassten Daten an andere Polizeistellen.

„In Hannover gilt nun jeder Punk als krawallverdächtig“ (Schlagzeile HAZ)
In der Woche vor dem Verbotszeitraum ließen die immer mehr werdenden Bullen in der City die am Bahnhof abhängenden Punks noch in Ruhe. Dafür war die Presse da und gierte nach Interviews – der Preis dafür war in der Regel eine Palette Dosenbier. Am 26. Juli war es damit vorbei. Klosas Schergen – kurz Klo-SA genannt – gingen auf die Jagd. Für „Punk-typisches Aussehen“ reichte schon ein Nasenring und es wurden fleißig Platzverweise verteilt. Unser Gast Jan aus Kassel kam am frühen Nachmittag aus der City zurück, mit einem Platzverweis und der Information, dass beim Verwaltungsgericht Hannover Klage gegen das Verbot der Chaostage eingereicht worden war. Außerdem sollte am morgigen Samstag eine Kundgebung gegen das Verbot am Kröpke in der Innenstadt stattfinden. Angemeldet war diese vom Bürgerstammtisch Chaostage, Bürgis, die aus dem Umfeld einer Kneipe in der Nordstadt kamen. Am Samstag kamen dann rund hundert Menschen zum Kröpke, es gab drei Redebeiträge, massig Presse und die Menschen vom Bürgerstammtisch trugen Papp-Iros. Die Cops verteilten Flugblätter, auf denen zu lesen war: „Eine ‚farbige Haartracht‘ ist kein Grund für polizeiliche Maßnahmen.“

Wie viel davon zu halten war, erfuhren Irmgard und ich nur Stunden später, als Jan, der nach der Demo noch in der City geblieben war, zurückkehrte. Er war beim Verlassen der Straßenbahn von einer Bullenstreife angehalten worden, musste seine Wohnadresse, sprich unsere, angeben und erhielt Stadtverbot. Außerdem sollte er uns mitteilen, dass das Stadtverbot auch für uns gelte. Das war logo nicht rechtskräftig, aber trotzdem ... Die Woche verlief wie erwartet. Anreisende Punks wurden zurückgeschickt oder gleich eingeknastet. Für einen Platzverweis reichte schon ein Nasenring oder eingefärbte rote Strähnen, wobei es auch zahlreiche Friseur:innen auf dem Weg zur Arbeit traf. Die Platzverweise wurden oft gleich für mehrere Tage für die Verbotszonen verhängt, also die Stadtteile Innenstadt, Nordstadt, Linden-Nord und um den Maschsee herum. Die Hannoveraner Punks wurden ebenfalls drangsaliert und auch schon mal alle Leute an der Lutherkirche eingefahren. Ständige Bullenkontrollen, vor allem in der Nordstadt – unser Rekord liegt bei fünfmal in einer Stunde – waren die Regel. Die Bewohner der Nordstadt waren dabei mit den Punks sehr solidarisch, Anwohner:innen kamen zu den häufigen Bullenkontrollen hinzu, um diese kritisch und solidarisch zu beobachten. Darüber waren die Cops logo nicht erfreut, während Kinder bald schon mit „Punkkontrolle“ den Alltag nachspielten, und sich natürlich auch auf die wenigen Punks stürzten.

Während des Verbotszeitraums waren sämtliche Endhaltestellen der Straßenbahnen von Cops besetzt, so wie die Bahnhöfe, auch im Umland, die Einfallstraßen wurden ebenfalls streng kontrolliert. Insgesamt wurden in den zehn Tagen mehr als 2.000 Platzverweise und Aufenthaltsverbote durch die Polizei ausgesprochen und noch mal zusätzlich 1.000 Platzverweise vom ebenfalls eingesetzten Bundesgrenzschutz. Niedersachsens Innenminister Glogowski verkündete stolz: „Es wird nie wieder Chaostage geben!“ Dass dabei massiv die Grundrechte verletzt wurden, interessierte ihn dabei nicht. Um die vielen Betroffenen bei ihren Klagen gegen die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zu unterstützen, gründete sich nach den Chaostagen mit PUNK – PlatzverweisUNtersuchungsKomitee – eine Initiative, um das Verhalten der Cops zu erfassen und zu dokumentieren. Dabei entstand die Idee eines Soli-Konzerts in der Faust, das am 05.10.1996 stattfand. Mit dabei waren zehn Bands, nicht nur aus Hannover, darunter CRASSFISH, FUCKIN’ FACES, HEITER BIS WOLKIG und auch PSYCHISCH INSTABIL.
Nachtrag: Am 18. August 1996 trafen sich rund 300 Punks in der Hannoveraner Nordstadt zu „Ersatz-Chaos-Tagen“. Diese waren allerdings so konspirativ vorbereitet, dass selbst Hannoveraner Punks erst am Montag danach aus den Medien davon erfuhren.

Im nächsten Teil geht es dann um die Chaostage 1996 in Bremen, das Verhalten der Cops in Hannover in den Folgejahren, die Chaostage 2000, 2005 sowie die Folgezeit bis 2022.