Anfang der Neunziger waren die Chaostage oder größere Punktreffen eigentlich für niemanden mehr ein Thema. Die für mich letzten Chaostage waren die in Bielefeld im Jahr 1987. Das Treffen 1989 in Hannover ließ ich sausen, weil niemand mitkommen wollte. Nur das Nachfolge-Label von Mülleimer, A.M. Music, erinnerte noch an die Chaostage der Achtziger, indem es für seine „Schlachtrufe BRD“-Sampler die Fotos von damals als Coverartwork benutzte. Aber gefühlt hatte das eher einen Hauch von Nostalgie ...
Umso erstaunter und auch irgendwie gleichzeitig euphorisiert war ich, als Anfang 1994 wieder zu Chaostagen in Hannover aufgerufen wurde. Die ersten Flugblätter wurden kopiert und verteilt. Denn anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Chaostage 1984 sollte vom 5. bis 7. August 1994 das „größte Punktreffen der letzten 10 Jahre“ stattfinden. Angesprochen wurden „junge Leute mit Lust auf Zukunft und Europa! In sympathischer Kleidung, farbenfroh und geruchsneutral“. Die Parole „Hannover in Schutt und Asche legen“ wurde allerdings von den Cops ausgegeben und von der Presse begeistert aufgegriffen. Das Zap Fanzine veröffentlichte zusammen mit Karl Nagel eine Sonderausgabe namens „Streetpunk“, in dem auf die Chaostage der Achtziger zurückgeblickt wurde – na ja, immerhin bis 1984. Dadurch wurde die Vorfreude bei vielen noch mehr angeheizt, und so hatte ich, mittlerweile im Speckgürtel von Hannover wohnend, für das erste Augustwochenende eine Abordnung von Hamburger Punks, die Feindbild-Fanzine- und Übersteiger-Crew, als Schlafgäste.
Der Freitagabend wurde noch ganz klassisch eingeleitet vielmehr eingetrunken, denn wir planten, am Samstag am offiziellen Treffpunkt am Hannoveraner Hauptbahnhof aufzutauchen. An diesem Abend gab es in Hannover schon die ersten Auseinandersetzungen mit den Bullen und 178 Punks wurden eingeknastet, wie wir aus dem Radio erfuhren. Und es sollten nicht die letzten bleiben ... Als wir am Samstagmittag den Hannoveraner Hauptbahnhof verließen, liefen wir direkt in den Bullenkessel und standen so für einige Stunden im Freilichtzoo, begafft von Touris und den üblichen Shopping-Besuchern. Die Cops machten in der Innenstadt gezielt Jagd auf Punks und Artverwandtes, so dass es im Kessel immer voller wurde. Das wurden wir natürlich auch, weil wir logo unsere Biervorräte wegtranken. Einige auswärtige Punks, so etwa die Kölner, durften unter dem Versprechen, gleich wieder nach Hause zu fahren, raus dem Kessel – was sie natürlich nicht taten. Für uns dagegen ging es irgendwann dicht gequetscht im Bullen-Transporter zur Polizeiwache in der Herrschelstraße. Dort wurden alle erkennungsdienstlich behandelt und zu zweit in Einzelzellen gesteckt. Für mich waren die Chaostage damit beendet, da ich bis Sonntagabend eingeknastet blieb, während die Hamburger nach acht Stunden wieder entlassen wurden ...
Diejenigen, die das Glück hatten, Samstagmittag nicht in der Innenstadt beim „offiziellen“ Treffpunkt am Hauptbahnhof aufzutauchen, konnten vor der Lutherkirche in der Nordstadt einen spontanen Gig von WIZO und DIE LETZTEN erleben. Danach verlagerte sich das Geschehen nach Linden auf das Fährmannsfest. [Das Fährmannsfest ist ein Musik- und Kulturfest in den Stadtteilen Linden-Nord und Calenberger Neustadt und findet südlich des Faust-Geländes am Zusammenfluss von Ihme und Leine statt. Das größte alternative Open-Air-Festival in der Region Hannover gilt auch als „Das kleine Woodstock an der Leine“, Anm. d. Red.] Dort traten unter anderem die BOSKOPS auf und versuchten, die anwesenden Punks zu beschwichtigen. Da es am Abend im Kesselhaus auf dem Sprengelgelände in der Nordstadt ein Konzert mit PUBLIC TOYS und RECHARGE geben sollte, zogen viele eben dorthin. Doch die Punk-Party vor dem Sprengelgelände und das Konzert wurden trotz Barrikadenbau und nach einer kurzen Auseinandersetzung von den Bullen gestürmt. Rund 250 Punks wurden verhaftet.
Insgesamt landeten 600 Punks im Polizeigewahrsam. Das friedliche Treffen wurde von Cops und Presse zur Gewaltorgie aufgebauscht. Den 17 verletzten Bullen stand eine große Zahl zum Teil schwerverletzter Punks gegenüber. Das mediale Echo war enorm. Vor allem die regionale Presse überbot sich mit Schlagzeilen wie „Blutige Punker-Schlacht – in ihren Augen war nur Haß“, „Punker-Krieg“, „Punkertreffen eine Orgie der Gewalt“, „Punker Terror vor den Haustüren“ und „Blut an Müllcontainern“. Die Macher von „Spiegel TV“ waren sich nicht zu schade, ein brennendes Papiertaschentuch im Rinnstein vor der Sprengel zu filmen, um so die Gewalttätigkeit der Chaostage zu unterstreichen. Eine bessere Werbung für die nächsten Chaostage konnte es fast nicht geben!
Reaktionen der Punk-Szene
Und auch die Fanzine-Szene tat ihren Teil, es gab kaum jemanden, der nicht in Hannover war, so dass in der Folgezeit in fast jedem Zine ein ausführlicher Chaostage-Report erschien. Auch die Hochglanz-Kataloge der Mailorder A.M. und Impact hatten ihre Chaostage-Storys. Und das Zap legte eine weitere Sonderausgabe auf. Unter dem Titel „Punker-Terror! Die Chaos-Tage von Hannover“ gab es nicht nur ausführliche Berichte über das, was in Hannover passiert war, auch die Leserschaft ließ man zu Wort kommen, so dass der Untertitel „Wie 1000 Punks ganz Deutschland in Angst und Schrecken versetzten ...“ zusammen mit vielen Fotos und den reißerischen Zeitungsartikeln die Vorfreude auf das erste Augustwochenende doch eher steigerte – auch für die, die1994 zu Hause geblieben waren.
Reaktionen der Cops
Doch nicht nur die Punk-Szene mobilisierte, das taten auch die Cops. Der Einsatzbefehl Nr. 1 vom 17. Juli 1995 besagte unter der Überschrift „Einsatzlinien“, dass klar ein Offensivkonzept verfolgt werden sollte, in dem grundsätzlich keine Rechtsverstöße geduldet werden sollten. Alle rechtlichen Möglichkeiten sollten bei einer niedrigen Einschreitschwelle von Anfang an ausgeschöpft werden. Entschlossenheit sollte durch energisches und konsequentes Eingreifen demonstriert werden und frühzeitige Ingewahrsamnahmen beziehungsweise Platzverweise durchgeführt werden. Laut Gesamteinsatzleiter Polizeidirektor Uwe Wiedemann, der schon bei den Chaostagen 1984 für die Einkesselung des UJZ Glocksee verantwortlich war, sollte so die Entwicklung und Ausbreitung von sicherheitsgefährdendem und strafbarem Verhalten verhindert werden. Ein vom Jugendamt Hannover in Zusammenarbeit mit Hannoveraner Punks ausgearbeitetes Alternativkonzept zum Ablauf der Chaostage wurde von der Polizeiführung abgelehnt. Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sah für die Cops so aus, dass bei Ingewahrsamnahmen von Kindern und Jugendlichen diese bei städtischen Bediensteten abzugeben waren, die sich dann um die Betreuung und Rückführung zu den Eltern kümmern sollten. Also anders als von der Polizeiführung in der Presse verkündet wurde, setzte sie von Anfang an auf einen offensiven Einsatz.
Die Chaostage 1995 – Versuch einer Chronologie
Schon ein Wochenende vor den eigentlichen Chaostagen kamen viele Punks nach Hannover. Irmgard veranstaltete am Samstag, 29. Juli 1995 ein Konzert mit BOSKOPS, ABSCHAUM, IRGENDWAS!?! und INRI aus Polen im JUZ Döhren. Viele auswärtige Punks bevölkerten die Straße vor dem JUZ, und die Bullen ließen auch nicht lange auf sich warten, wollten mit der Verantwortlichen sprechen und waren aber dann davon zu überzeugen, die Straße vor dem JUZ nicht abzuräumen. Und auch in unsere WG in Hannover kamen an diesem Wochenende die ersten „Schlafgäste“ ... Im Laufe der der folgenden Tage kamen immer mehr Punks nach Hannover, Presse, Funk und Fernsehen rührten auch schon fleißig die Werbetrommel für das kommende Wochenende. So war schon ab Montag Dauerparty in der Innenstadt. Da die Cops sich merklich zurückhielten, blieb auch alles friedlich, sodass wir ohne Probleme unseren Sohn mit in die Stadt nehmen konnten.
Feiernde Punks überall in Hannover, Gelage vor dem Hauptbahnhof. Während wir am Donnerstagnachmittag unseren Sohn zu den Großeltern brachten, änderte sich die Lage in der City. Die Bullen trieben nun die Punks aus der Innenstadt in die Nordstadt und an der Lutherkirche gab es ebenfalls Platzverweise. Die Punks flüchteten sich daraufhin auf das nahegelegene Sprengelgelände in der Schaufelderstraße, Als die Bullen versuchten, dort Festnahmen durchzuführen, wurden sie von einem Stein- und Flaschenhagel empfangen und zogen ab. Die ersten Barrikaden wurden nun auf der Schaufelderstraße aufgebaut. Die Cops versuchten, die Barrikaden zu stürmen. In der darauffolgenden Straßenschlacht mussten sich die Cops wiederum zurückziehen. Am Freitag wurden ankommende Punks aus der City von den Cops mit der festen Zusage in den Welfengarten in der Nordstadt geleitet, dass sie dort ungestört bleiben würden. Wir waren selbst den Freitagnachmittag über im Welfengarten, wo zunächst alles friedlich war. Am frühen Abend machten wir uns dann auf. In der Dämmerung griffen die Cops auf einmal an und die Punks, die sich im Welfengarten befanden, wurden übelst abgeräumt. Die, die nicht eingesackt wurden, zogen sich abermals auf das Sprengelgelände zurück.
Nun überschlugen sich die Ereignisse: Brennende Barrikaden, Cops auf dem Rückzug, die anschließend mit Pflastersteinen bewaffnet wieder angriffen. Denn da der Wasserwerfer sich als Distanzwaffe als untauglich erwiesen hatte, setzen die Cops nun auf Empfehlung des Einsatzabschnittführers Langer, nebenbei Leiter des Spezialeinsatzkommando SEK, Steine als Distanzwaffen ein. Während sich einige Cops weigerten, griffen die anderen zu Pflastersteinen und warfen diese auf die zumeist ungeschützte Menschenmenge auf dem Sprengelvorplatz. So gelang es den Cops, den Vorplatz zu stürmen, viele Punks konnten sich in die besetzten Häuser retten. Die Nordstadt wurde komplett abgeriegelt. Im Laufe des Abends versuchten die Cops noch, das Punkhaus in der Heisenstraße zu stürmen und zielten mit dem Wasserwerfer in die Fenster – ein Foto davon wurde später das Cover der Split-EP der Hannoveraner Hardcore-Punk-Band RECHARGE mit EXTERNAL MENACE mit dem passenden Track „Wasserwerferfahrer“. Auch damit scheiterten die Cops. In der Nacht kam es auch zur Plünderung des Penny-Markts in der Schaufelderstraße zunächst nur durch Punks, aber bald schlossen sich auch Anwohner:innen aus der Nordstadt ihnen an.
Am Samstagmorgen wollten Irmgard und ich in die Heisenstraße. Auf dem Weg dorthin stiegen wir in der City um und konnten am Kröpke sehen wie in der unteren Ebene der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade schon zahlreiche Punks gekesselt waren, wie immer begafft von Touris und Shoppingwütigen. Wir blieben unbehelligt, obwohl die Cops auch hier Jagd auf Punks machten. In der Nordstadt liefen wir an der Lutherkirche in die erste Bullenkette. Wir bekamen beide Verbote für insgesamt drei Stadtteile – Nordstadt, Linden und die City. Als Irmgard ihren Verweis schriftlich haben wollte, wurde sie kurzerhand trotz Zusicherung freien Geleits auf Befehl des Einsatzführers festgenommen. Ich konnte das Ganze nur von Weitem beobachten, ohne etwas machen zu können, und zog dann auf Umwegen Richtung Fährmannsfest. Auf der Glockseestraße traf ich auf einen Haufen Punks, unter anderem die Plastic Bomb-Crew und Düsseldorfer Punks wie PUBLIC TOYS. Zusammen gingen wir unter massivem Begleitschutz durch die Cops zum Fährmannsfestgelände, wo sich schon hunderte von Punks aufhielten. Die schmale Fußgängerbrücke wurde für Abstecher ans andere Ufer benutzt, da das Bier an den Kiosken in Linden billiger war als auf dem Festival.
Die Stimmung war entspannt, einige sprangen von der Brücke in die Ihme, andere lieferten sich eine wilde Bierdosenschlacht, und als dann TOTAL CHAOS, die gerade auf Europatour waren, unangekündigt – und auf Druck der Punks – die Bühne betraten, gab es auch einen musikalischen Höhepunkt. TOTAL CHAOS widmeten ihren Song „Riot city“ spontan den Chaostagen und forderten alle auf, wieder in die Innenstadt zu ziehen. Die Party ging vor Ort weiter, und die ankommenden Punks berichteten von einer konfusen Polizeitaktik. Einige seien direkt vom Hauptbahnhof zum Fährmannsfest geleitet worden, andere wurde zunächst der Zutritt verwehrt. An die 1.000 Punks dürften es schließlich auf dem Fährmannsfest gewesen sein. Als im Laufe des späten Nachmittags die Bierbuden schlossen, versuchte einige diese unter Rufen wie „Freibier für alle“ zu stürmen ...
Parallel dazu gingen die Straßenschlachten in der Nordstadt weiter, auch unter der Beteiligung von Autonomen und Jugendlichen aus Hannover. Mit Räumpanzern und Wasserwerfern stürmten die Cops schließlich das Sprengelgelände. Dabei wurden mehrere Punks schwer verletzt. Als vom Sprengelgelände die Nachricht von der Stürmung kam und es hieß, dass im Zuge dessen ein Punk von einem Räumpanzer an die Hauswand gedrückt worden war, ging das Gerücht um, dass es eine Tote gegeben hätte. Die Botschaft lautete: „Die haben eine von uns umgebracht. Die sind mit dem Räumpanzer drübergefahren.“ Daraufhin machte sich eine große Gruppe von zornigen Punks auf Richtung Nordstadt. Die Wut entlud sich schnell an parkenden Autos, ein Kumpel konnte gerade noch verhindern, dass sein Wagen ebenfalls aufs Dach gelegt wurde. Doch wir kamen nicht weit. Die Cops gingen zum Angriff über und verfolgten uns auf das Fährmannsfestgelände, das schnell von ihnen gestürmt wurde. Der einzige Fluchtweg war die kleine Fußgängerbrücke, wo es nur dank des besonnenen Agierens einiger Menschen nicht zu einer Massenpanik und damit zu Verletzten kam.
In Linden ging die Jagd auf Punks weiter, ich flüchtete mit mehreren Menschen in einen Hinterhof, in dem gerade eine türkische Großfamilie feierte. Als wir ihnen erzählten, was los war, schlossen sie sofort das Tor ab, wir konnten bleiben und wurden sogar noch mit Getränken und Essen versorgt. Kurze Zeit später rüttelten schon die Cops am Tor. Als niemand reagierte, zogen sie unverrichteter Dinge wieder ab. Während von draußen Geräusche von klirrenden Flaschen, „Pöbel und Gesocks“-Sprechchöre sowie Sirenengeheul zu hören waren, flog in der Dämmerung auch ein Polizeihubschrauber über Linden, der mit seinem Suchscheinwerfer die Hinterhöfe ausleuchtete. Wir blieben allerdings unentdeckt. Nach gut zwei Stunden beruhigte sich die Lage und wir trauten uns wieder nach draußen. Der Weg in die Nordstadt war am Schnellweg zu Ende, da die Straße mit Wannen zugestellt war. Im Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers bekamen wir per Lautsprecherdurchsage das nächste Stadtteilverbot ausgesprochen.
Zurück in unserer WG, war auch Irmgard aus dem Polizeigewahrsam wieder da, den sie auf dem Gelände der Einsatzpolizei in einer großen Turnhalle verbracht hatte, die sich im Laufe des Nachmittags immer mehr mit festgesetzten Punks gefüllt hatte. Einige unserer Logiergäste berichteten von Nazihool-Angriffen in der Innenstadt und hatten deswegen Freunde mitgebracht. In dieser Nacht schliefen wohl über dreißig auswärtige Punks bei uns, teilweise aus der Schweiz und Jugoslawien.
Fazit der Chaostage 1995
Rund 2.500 Punks kamen nach Hannover, davon landeten circa 1.300 in Gewahrsam oder wurden festgenommen. Es gab 130 verletzte Cops und unzählige verletzte Punks. Nicht verschwiegen werden soll, dass im Laufe des Wochenendes auch die queere Bar Schwule Sau auf dem Sprengelgelände von bunthaarigen Idioten attackiert worden ist. Während die auswärtigen Punks sie am Sonntag verließen, wachte die Hannoveraner Punk-Szene mit einem gehörigen Kater auf. Auch unsere WG bekam die Androhung einer fristlosen Kündigung aufgrund der einwöchigen Dauerparty ...
Im nächsten Teil geht es um die Konsequenzen der Chaostage 1995, sei es für die Freiräume in Hannover als auch in der juristischen Aufarbeitung, und dann folgen die Chaostage 1996.
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