Trauer führt zu Wut, Wut führt zu Widerstand. „Sad In The City“ heißt das neue Album von BROADWAY CALLS aus Oregon. „Riot In the City“ hätte in Anbetracht der aktuellen „Black Lives Matter“-Proteste in den USA auch gut gepasst. Und der Geist des politischen Widerstands und zivilen Ungehorsams weht auch durch die Texte von Sänger und Gitarrist Ty Vaughn. Sieben Jahre nach dem letzten Album „Comfort/Distraction“ sowie einer längeren Pause (siehe dazu auch Ox #149) scheint das Trio doch noch nicht alles gesagt zu haben, was zu sagen war. Und das lässt sich ungefähr auf diese Formel reduzieren: Leg dich nicht mit den Falschen an!
Ty, das letzte Mal haben wir uns vor dem Corona-Lockdown gesprochen. Wie hast du die letzten Monate überstanden? Waren Menschen in deiner unmittelbaren Umgebung betroffen?
Was unsere Familien betrifft, so haben wir großes Glück gehabt. Bis jetzt sind alle gesund. Joshs Frau ist als Krankenschwester in einem Krankenhaus beschäftigt, das für die Aufnahme von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde, so dass sie täglich davon betroffen ist. Aber alle sind klug genug, Masken zu tragen und Abstand zu halten.
Wie bleibst du während des Lockdowns kreativ? Ich habe deine YouTube-Session mit Chris Creswell von den FLATLINERS gesehen. Was hast du sonst noch gemacht?
Da wir momentan keine Shows spielen können, haben wir uns darauf konzentriert, Musikvideos zu drehen. Das ist nicht so einfach. Wir leben alle in verschiedenen Städten. Aber irgendetwas muss man ja machen, kreativ werden und einige Sachen filmen, die wir dann irgendwann auch herausbringen werden. Unser Bassist Josh bildet sich autodidaktisch in Videoschnitt und Kameraarbeit weiter. Es war alles eine ziemlich lustige Ablenkung von der ganzen Corona-Situation.
Jetzt ist eure neue Platte auf Red Scare veröffentlicht worden, mitten in der Krise. Das bringt den typischen Ablauf von Promo und Auftritten durcheinander, oder? Ein denkbar schlechter Zeitpunkt für eine neue Veröffentlichung. Oder findest du das sogar angenehm, weil dir der geschäftliche Teil des Musikmachens eh nicht gefällt?
Es macht absolut alles kaputt, aber ich habe es kommen sehen. Die Booker der FLATLINERS, mit denen wir auf Tour gehen wollten, hatten uns schon gewarnt, dass wir das Virus im Auge behalten müssen. Und ein paar Wochen später wurde dann alles verschoben. Kein Weltuntergang, aber es nervt. Ich spiele gerne Shows. Sie sind das Beste an der Musik. Unsere Texte sind zu relevant, um sie jetzt auf Eis zu legen. Außerdem ist das letzte Album schon sieben Jahre her, also wollen wir nicht länger warten.
Elf Lieder, elf passende Bilder auf dem Cover. Ein Konzeptalbum?
Nein, ursprünglich nicht. Jamie Morrison ist einer meiner Lieblingskünstler und einer unserer ältesten Freunde. Ich wollte, dass er das Cover gestaltet, und er sagte sofort ja. Uns alle gefällt es sehr, wie er das umgesetzt hat. Die Platte verfolgt aber kein Konzept. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie die Texte aufeinander aufbauend entstanden sind, nachdem ich schrittweise über das geschrieben habe, was ich in den letzten Jahren erlebt und befürchtet habe.
Gleich am Anfang des Albums heißt es: „The country is collapsing / But you find room on a friend’s couch / The apocalypse is near.“ Die Texte stammen wahrscheinlich aus der Zeit vor dem Corona-Virus, aber sie passen gut zur heutigen Situation. Sind diese Worte deiner Meinung nach Ausdruck von Hoffnung, Ironie oder Sarkasmus? Was bedeuten sie für dich?
Es ist komisch, denn ich habe in meinem Leben auf Hunderten von Sofas geschlafen, und auch heute noch ist es etwas, das wir uns als Freunde ohne Bedenken anbieten. Also habe ich diesen Gedanken einfach aufgegriffen und weiter gesponnen. Als 2016 die Wahl kam, erinnere ich mich, dass ich sagte, dies sei das Ende des Landes und der Welt, wie wir und unsere Freunde sie kannten. Und schau, wo wir jetzt stehen! Amerika befindet sich in diesem Augenblick in einer Art sanftem Bürgerkrieg. Es sterben Menschen. Die Situation wird sich noch verschlimmern. Daher stelle ich in dem Text des Openers mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung fest, dass Amerika am Ende ist.
Ich finde teilweise die Texte persönlicher, schonungsloser und aggressiver als früher. „The rich man’s blood spilled on my shirt / I’m glad he’s dead and I hope it hurt / The rich man’s blood hot on my hands / As the news of the war spreads across the land“. Oder etwa: „Ever lash out? Fuck with the freaks? / Gas in a bottle! Block off the streets!“ Diese Zeilen klingen ziemlich heftig.
Der Text ist mit Sicherheit brutaler. Und das liegt daran, dass ich wütender als vorher bin. Stilistisch habe ich mich an alte Outlaw-Country-Songs angelehnt. Das wollte ich in unseren typischen Stil integrieren. Der Song „Radiophobia“, auf den du anspielst, ist ein aufwühlender Appell, dass man auf den Wahnsinn, den der militärisch-industrielle Komplex in den USA darstellt, mit Nachdruck reagieren muss.
Obwohl die Texte älter sind, scheinen sie einen Bezug zur aktuellen Situation mit der „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA zu haben. Wie erlebst du die Proteste in deinem Umfeld? Nimmst du an ihnen teil?
Ich und so ziemlich jeder, den ich kenne, hat auf die eine oder andere Weise an den Protesten teilgenommen. Ich habe diese Texte 2019 geschrieben, aber in Portland wird seit Jahren mit Demos auf Polizeigewalt und rechtsextreme Straßenbanden reagiert. 2020 hat sich das noch intensiviert. Ich lebe in einer kleineren Stadt, etwa vierzig Minuten von Portland entfernt, in der das offene Tragen von Waffen legal ist. Bei „Black Lives Matter“-Aktionen kommt es vor, dass erwachsene Männer mit Gewehren versuchen, schwarze Teenager einzuschüchtern, die sich auf der Straße organisieren. Das ist ekelhaft. Da bekommt man schon Lust, auf die Barrikaden zu gehen.
Dein Gesang erscheint auf dem Album – im positiven Sinn – deutlich dominanter. Du hast mehr Effekte eingesetzt und singst aggressiver. Das macht die Stimme noch mehr zum vierten Instrument der Band.
Ich achte mehr als in der Vergangenheit darauf, in Tonlagen zu schreiben, die meine Stimme schonen. Früher habe ich mir das Leben selber schwer gemacht, indem ich außerhalb meiner tonalen Reichweite geschrieben habe. Was die Dominanz der Stimme angeht, verdanke ich das Josh. Er hat sie bei den Aufnahmen immer weiter nach vorne gemischt. Ich wäre da vorsichtiger gewesen, aber das Resultat gibt ihm recht.
Das Thema „Stadt“ ist ein zentrales Motiv auf dem Album. Wie ist deine Einstellung zum Leben in der Stadt? Eine Subkultur wie die Punk-Szene braucht die Infrastruktur und die kulturellen Möglichkeiten einer Großstadt. Aber gleichzeitig sehnen sich viele Menschen nach der Ruhe und Gelassenheit einer Kleinstadt.
Ich bin 2017 aus finanziellen Gründen aus Portland weggezogen. Ein paar Tage pro Woche arbeite immer noch dort, und die meisten meiner engen Freunde leben auch noch da. Als ich „Sad in the city“ schrieb, war das im Grunde eine düstere Zukunftsprognose. Die größeren Städte sind die Orte, an denen Entwicklungen eine andere Dynamik haben; Proteste entstehen schneller, organisieren sich breiter. Portland hat eine lange Tradition mit Polizei-, Rassen- und Klassenkonflikten. Menschen von außerhalb sehen Portland häufig als eine liberale Insel der Glückseligkeit. Aber das gilt vielleicht für reiche weiße Menschen, die bei Nike arbeiten. Manchmal fühle ich mich schuldig, weil ich die Stadt verlassen habe, also halte ich mich dort wieder häufiger auf und beteilige mich an den Protesten.
Ich mag Pop-Punk-Liebeslieder, die nicht kitschig sind, wie den Song „Big mouth“ auf dem neuen Album: „I’ve got a big mouth / And it gets me into trouble / But you like a little trouble / So it looks like you might stay“. Welcher Punk-Song ist für dich der perfekte Love-Song?
Das erste Pop-Punk-Liebeslied, das mich definitiv umgehauen hat, war „Fuck the world (I’m hanging out with you tonight)“ von den QUEERS. Das ist immer noch einer meiner ewigen Lieblingssongs, einfach brillant.
Kannst du schon etwas zu euren weiteren Plänen sagen?
Leider nicht. Wir haben keine Pläne. Hoffentlich können wir die Tour mit den FLATLINERS 2021 nachholen, dann kämen wir auch nach Europa. Aber da unsere Regierung mit der Pandemie so schlecht umgegangen ist, weiß ich nicht, ob und wann Amerikaner Europa überhaupt wieder besuchen können. Die FALTLINERS werden dann alleine kommen müssen. Die sind ja glücklicherweise Kanadier.
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