APPLESEED CAST

Kopfhörermusik

Für jede Stimmung gibt es die richtige Musik, und auf der Zugfahrt nach Münster stellen sich die bisherigen drei bzw. vier Alben von THE APPLESEED CAST als optimale Weggefährten heraus. Endlich wagt sich an diesem Tag im späten März die Sonne mal etwas heraus und tastet sich über die Felder, Wiesen und Städte, die wir passieren, bis in mein Gesicht und lässt mich für ein paar selige Minuten glauben, dass jetzt endlich der Frühling anfangen wird. Warm umspielen mich dabei die Lieder, die ich schon seit langer Zeit mit mir im Discman herumtrage. Hätten THE APPLESEED CAST weitergemacht, wie sie auf ihrem Debüt („The End of The Ring Wars“, 1998) angefangen haben, hätten sie als gute Epigonen von SUNNY DAY REAL ESTATE enden können. Das Album ist sehr gut, aber dennoch fehlt der gewisse Kick, die Luftigkeit, die Verspieltheit (die Drums!), die Dramatik und das Quentchen Eigenständigkeit, die die letzten Alben auszeichnen. So lege ich den Zweitling („Mare Vitalis“, 2000) ein und lasse mich mitreißen, fortspülen, wegtragen in die Ferne, von der die Songs mir erzählen. Mein Blick wandert in der Ferne umher, die an mir vorbeirauscht – kann sich nirgendwo festhalten. Alles ist im nächsten Moment vorbeigefahren, verschwunden. Die Musik baut die Brücke zwischen mir und dem, was an mir vorbeizieht: Sie ist ebenso hier, sehr präsent, es rockt, hat aber dennoch den Blick immer auf den Horizont gerichtet, ist sphärisch und will den Hörer wegtragen. „The fair in the park, by the sea in my heart, is never gone“. Beinahe könnte man von einem transzendentalen Ereignis sprechen, wenn man sich auf die Musik einlässt. Doch noch bevor mich die Musik vollständig forttragen kann, erreicht mein Zug Münster, wo an diesem Abend das Quartett aus Lawrence, Kansas, im Gleis 22 auftreten soll. Manche Reisen dauern einfach nicht lang genug, denke ich mir, und freue mich zugleich auf das Konzert.

Lawrence, Kansas, das ist nicht wirklich der Nabel der Welt. Vor allem, wenn man in Los Angeles gewohnt hat und dann dorthin zieht. Für TAC war der Umzug, wie mir Aaron, Gitarrist und Sänger in einem Nebenraum vom Gleis 22 erzählt, u.a. Reaktion auf die dortige Musikszene:

Keiner dort machte Musik wie wir, so zogen wir einfach weiter. Außerdem war gerade unser Drummer ausgestiegen, unter anderem um zu heiraten. In Lawrence trafen wir dann auf Josh...

Und das kann man nur als Glücksfall werten, denn es gibt nur sehr wenige Drummer, die einen so eigenwilligen Stil besitzen wie „Cobra“, wie er auch genannt wird und wenige Bands, die vom Stil ihres Drummers so geprägt werden: Verspielt um die Rhythmen herum, aber dennoch im Zentrum des Flows, kraftvoll und zerbrechlich zugleich bedient er virtuos sein Drumset, dass es nur so eine Freude ist, ihm beim Spielen zuzusehen. Nicht, dass der alte Drummer schlecht gewesen wäre, aber im direkten Vergleich fehlte ihm der Charakter.

Das geradlinige Rockding war mit dem Wechsel unseres Drummers vorbei. Außerdem sind wir alle mit der Zeit besser geworden.

Eine Entwicklung, die man den Alben anhört und die sicher vom Umzug unterstützt wurde:

In Lawrence wohnte außerdem die Familie unseres damaligen Bassisten Jason, bei der wir umsonst wohnen konnten, und auch unsere Freunde, die Jungs von THE CASKET LOTTERY.

Zusätzlich begaben sie sich dort auf die Suche nach einem eigenen Haus, Proberaum und nicht zuletzt auch Jobs.

In Lawrence verdient man viel weniger Geld als in LA. Dort musst du 40 Stunden in der Woche arbeiten, um dein Leben zu finanzieren, wenn die Musik nicht genug abwirft. Und bei uns warf es nicht genug ab. Jetzt arbeiten wir part-time und das reicht.

Insgesamt also eine Verbesserung der Bandsituation und Verlegung in ein angenehmeres Klima, mit Bands wie THE ANNIVERSARY und COALESCE in direkter Nachbarschaft. Dass ihnen das Leben abseits der Metropolen gut tut, hört man den letzten beiden Alben („Low Level Owl Vol. I und II“, beide 2001, alle Platten bei Deep Elm Records) an. Diesmal hatte man sich richtig Zeit für die Aufnahmen genommen und viele Ideen entstanden auch erst im Studio. Neues wurde ausprobiert, vieles verworfen, aber unterm Strich eine Menge gelernt und das Spektrum des TACschen Sounds nochmals erweitert. Die „richtigen“ Songs werden eingerahmt von langen Instrumentalpassagen, sphärischen Flächen, Experimenten mit Orgeln und Effekten. Dabei stechen die klassischen Songs zwar heraus, die anderen Stücke sind aber nie nur Beiwerk oder sogar Füllmaterial, sondern halten die Alben zusammen und schaffen insgesamt einen homogenen Eindruck beider Platten. Doch warum sind es zwei getrennte Platten geworden?

Wir hatten die Songs geschrieben und wussten, dass sie nicht auf eine CD passen würden. Unser Label meinte, dass niemand für eine Platte 20 Dollar bezahlen würde. Und so dachten wir uns: Machen wir einfach das verrückte GUNS’N’ROSES-Ding. Wenn es letzten Endes als Doppelalbum erscheinen würde, wäre das großartig, aber das wären dann vier Vinyl-Alben und das würde ziemlich teuer...

Das scheint alles schwer umsetzbar, wenn man es live spielen will.

Für die Shows in den USA haben wir noch extra jemanden, der Keyboard spielt, hier in Europa ist das etwas abgespeckt. Dafür kriegen wir inzwischen den Sound ganz gut hin.

So wurde es später auch eine ziemlich straighte Rockshow, die leider unter dem mäßigen Sound litt. Die eine oder andere Extragitarre mehr wäre auch hilfreich gewesen, damit zwischendurch nicht immer umgestimmt werden muss. Andere Probleme sind dagegen bisher unlösbar:

Wir sind als Band nicht groß genug, um jemanden mitzunehmen, der sich nur um den Sound kümmert. Wir haben Songs, da wird die ganze Zeit das Schlagzeug rückwärts abgespielt und ich weiß nicht, wie man das realistisch gesehen umsetzen soll...

Da hat er recht und unterm Strich war der Auftritt auch sehr gut. Nicht phänomenal, dafür ist vor allem das neue Material zu sehr „headphone stuff“, aber trotzdem konnten sie viel der Energie ihrer Studioplatten live umsetzen. Und genauso wie sie mit ihrer Musik mit den Hörern in Kontakt treten können, können sie es auch über das Internet.
Natürlich betreiben TAC ihre eigene Website, bei der vor allem auf dem Message Board einiges los ist. Hier tauschen sich die Fans über alles Mögliche aus, TAC-bezogen oder nicht, und sprechen nicht zuletzt Unangenehmes an.


Wir hatten eine Menge tolle Dialoge über Religion und Politik und so weiter.

Darüber hinaus nutzten es Fans aber auch, um eine Diskussion weiterzuführen, die auf dem Message Board von Deep Elm begonnen hatte. Denn es war ein Song der TAC-Labelmates von POP UNKNOWN in einer Werbung für The Gap (eine Modekette à la H&M) aufgetaucht, was an sich für viele schon indiskutabel war. Als sich herausstellte, dass die Band vom Label deswegen nicht gefragt worden war und dies zur Sprache kam, wurde das Board aus dem Netz genommen, was die Diskussion auf die TAC-Seite spülte.

Eines Tages war ich auf der Seite und dachte: Das ist ziemlich cool. Am nächsten Tag war’s weg. Und ich weiß nicht, ob das, was auf unserer Website stand, der Grund dafür ist und ich habe John von Deep Elm noch nicht danach fragen können. Mit Deep Elm sind wir schon sehr lang verbunden, sowohl persönlich, als auch geschäftlich. Unsere Meinung dazu ist – Chris hat das auf unserem Message Board geschrieben –, dass man kein Web Board betreiben sollte, wenn keiner sagen darf, dass die Bands auf dem Label nicht gut sind. Das passiert andauernd.

Würde er denn gern seine Songs in Werbeclips sehen?

Ich weiß nicht, ob ihr die kennt, aber auf MTV läuft eine Show, die nennt sich ‘The Making of a Band’, in der eine Boyband produziert wird. Einer unserer Songs lief dort und wir bekamen ziemlich viel Geld dafür. Das fand ich in Ordnung. Um Weihnachten herum lief ein Clip von The Gap mit Musik von LOW, der war sehr gut und sie haben da wahnsinnig viel Geld für bekommen. Von daher ist das okay. In der letzten Staffel von ‘MTV’s Real World’ lief eine Menge Indierock und dieses Jahr nur so was wie LIMP BIZKIT. Das ist Mist. Diese Top 40-Bands haben schon genug Kohle.

Damit hat er allerdings recht.
Egal, wie man dazu steht, wenn eine Band Songs für Werbespots verkauft (man muss ja nicht gleich die ganze Platte à la MOBY verticken), fest steht, dass das Geld, was dabei abfällt, kleinen Bands sehr helfen kann. Wenn man sich so wie THE APPLESEED CAST als Musiker versteht, aber dennoch nebenher jobben muss (Aaron arbeitet nebenher in einer Catering-Firma), geraten höhere Ideale schnell in den Hintergrund, sobald auf diese Art einfach Geld zu machen ist.
Für den Abschluss habe ich mir noch die Gretchenfrage aufbewahrt, nämlich die Alben welcher Band er auf eine einsame Insel mitnehmen würde – DEAD KENNEDYS (ein Bekenntnis zum Punkrock), DINOSAUR JR. (oder doch zum Indie-Slackerrock) oder RADIOHEAD (zum Mut zu Experimenten). Nach langem Zögern entscheidet er sich für DINOSAUR JR. und nach der folgenden Show weiß ich, warum.
Gitarrenrock rules nach wie vor und man kann sich auf das nächste „more rocking“ Album freuen.