SLIME

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Punk im Kopf

Welche ist „die“ deutsche Punkband? Ich würde diese Frage immer noch ohne zu zögern mit „SLIME natürlich!“ beantworten. Natürlich, es gibt zig andere mit herausragenden Platten, spannender Historie und ähnlich klarer politischer Einstellung, doch die 1979 gegründeten Hamburger sind es, die trotz Pausen (1984-1990, 1995-2010) immer wieder und immer noch präsent sind. Mit „Deutschland“, „Bullenschweine“ und „Polizei SA/SS“ veröffentlichten sie skandalisierte und auch indizierte Punk-Gassenhauer, können aber auch subtiler analysieren wie in „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ oder „Schweineherbst“. Mit „Wem gehört die Angst“ ist SLIME nun ein Album geglückt, das jenseits von jeder Parolendrescherei als geglücktes Spätwerk bezeichnet werden kann. Wir trafen uns mit den drei Ur-Mitgliedern Dirk „Dicken“ Jora (Gesang), Elf (Gitarre) und Christian Mevs (Gitarre) vor dem Auftritt im Kölner Gebäude 9 im Hotelfoyer zum Interview – Schlagzeuger Alex Schwers und Bassistin Nici, beide seit 2010 Teil der Band, waren nicht dabei.

Unser Gedanke nach dem Hören des neuen Albums war: Warum nicht gleich so? Also warum nicht dieses starke Album gleich nach der letzten Reunion?

Elf:
Es dauert halt. Bei der Reunion 1990 haben wir das ja ähnlich gemacht. Erst gab es „Die Letzten“, das waren ja nur ein paar Coverversionen und eigene Songs neu aufgenommen, plus Pankehallen-Reste live von ’84. Dann haben wir „Viva La Muerte“ gemacht, ein Doppelalbum mit musikalisch ganz unterschiedlichem Kram, und dann kam „Schweineherbst“. Diese Ähnlichkeit haben wir jetzt festgestellt, als wir so viel über das neue Album geredet haben: „Hier und jetzt“ ist „Viva La Muerte“, das Neue „Schweineherbst“.

Dirk: „Hier und jetzt“ ist aber tatsächlich mein liebstes SLIME-Album, vor „Schweineherbst“ und allen anderen. Gerade weil es so eine Bandbreite hat, wegen „Patrioten“ zusammen mit Swiss und Pablo, wegen der Bläsersätze von SEEED bei „Elbe“, wegen so Rock’n’Roll-Punk-Dingern wie „Brandstifter“.

Das Comeback-Album mit den Texten des Anarchisten Erich Mühsam wirkte sicher auf manche so, als sei euch nichts eingefallen, wohingegen in Kombination mit den mitreißenden Konzerten der letzten Monate das neue Album schon so einen „Wow, die sind ja wieder richtig gut!“-Effekt auslöste. Da hatte ich das Gefühl, dass da was brennt in euch, dass SLIME nicht eine weitere alte Punkband sind, die durch die Lande tingelt.

Elf:
Das stimmt ja auch.

Christian: Was man damals gesehen hat und jetzt auch, ist, dass die Band eine Weile braucht, um wieder zusammenzufinden, bis wieder alles auf den Punkt ist. Wir sind ja keine GmbH, deren Controlling analysiert, was man verbessern muss. Das ist einfach eine Band, und die macht, was sie will.

Dirk: Bei uns gibt es eben keinen Marketingplan wie bei DIE TOTEN HOSEN. Da gibt es nichts zu lachen, so schreiben DIE TOTEN HOSEN ihre Songs. Punkt. Aus. Ende. Das kannst du scheiße finden, und ich finde es eben scheiße, aber Hosen-Fans haben damit kein Problem. Zur WM damals haben die „Tage wie diese“ doch ganz klar genau für den Zweck geschrieben. Ich finde das kacke, ich finde die Hosen zum Kotzen. Ich mag Thees Uhlmann als Mensch sehr gerne, aber diese Lesereise zu seinem Buch über seine Liebe zu DIE TOTEN HOSEN würde bei mir heißen „Warum ich DIE TOTEN HOSEN abgrundtief verabscheue für das, was sie heute tun.“ Wie Christian schon sagte, weiß ich nicht, was die Leute glauben, wie so eine Band funktioniert. Wir sind eben ’ne Band, und es muss genug gutes Material da sein. Wir müssen ja nicht irgendwas machen, wenn nicht genug Material da ist. Neulich fragte jemand von einer Musikzeitschrift, ob wir denn jetzt das Tempo hoch halten wollten, aber damit hat das nichts zu tun. Damit hat das aber gar nichts zu tun! Wenn genug Songs da sind, kommt ein neues Album, und das braucht seine Zeit. Das Ganze ist ein Prozess, und da wir nicht mehr alle in einer Stadt wohnen, kommt da auch noch die geografische Komponente hinzu. Neues Album nur über E-Mail, das funktioniert nicht. Also fahren wir zum Proben immer zu Elf nach Bremen, und das ist mit Aufwand verbunden und was anderes als früher, als fünf Leute in Hamburg sich für den Abend zum Proben verabredet haben und dafür nur ihren Arsch auf das Fahrrad schwingen mussten.

Christian: Unser Vorteil und manchmal eben auch Nachteil ist, dass wir nicht professionell arbeiten, sondern alle noch was anderes machen. Und so müssen wir alle immer ganz schön lange warten, bis irgendwas passiert, bis die richtigen Songs da sind. Welche Songs wir auf das Album nehmen, welche nicht, um welche Themen wir uns kümmern müssen und welche wir nicht unbedingt besingen müssen – das dauert. Wir sind quasi eine semi-professionelle Amateurband.

Wenn ihr mal zurückdenkt an die Zeit, als SLIME ihre ersten Erfolge feierten. Damals gab es ja Punkbands, gerade aus England, die sehr professionell agierten, deren Alben, etwa das legendäre „Never Mind The Bollocks“ der SEX PISTOLS, teure Industrie-Produktionen waren. Und auf der anderen Seite standen totale DIY-Bands. Wo standen SLIME?

Elf:
Das erste Album war quasi das einer Schülerband, die zwei Jahre lang geprobt und auch schon mal live gespielt hat und jetzt ein Album machen wollte. Wir haben uns das Geld zusammengeliehen von Freunden und Eltern. 6.000 Mark für eine Woche Studio mit Aufnehmen und Abmischen war der Deal. Das war damals DIY, wie es sich gehört.

Christian: Es hatte aber ein gewisses Niveau, das Studio war kein schlechtes, sondern hatte professionelle Technik mit 16 Spuren. Man hört, dass die Technik okay war, nur wir waren noch nicht so weit, und das hat man gemerkt.

Dirk: Wir waren weit entfernt von jedem Kalkül. Am ersten Abend der Aufnahmen bin ich, weil ich ja nichts zu tun hatte, in der Badewanne eingepennt und dann war das Wasser kalt und meine Stimme war weg. Das hatte wenig mit Kalkül zu tun.

Elf: Bei den beiden nächsten Platten lief es auch nicht viel anders, wobei wir die dritte dann endlich mal mit Harris Johns aufgenommen haben, was wir schon bei der zweiten hätten machen sollen. Die nahmen wir im gleichen Studio auf wie die erste, nur klang die noch beschissener, weil der Typ echt keinen Plan hatte, das war ein Scheiß-Hippie. Der wusste nicht, wie er mit dieser Musik umgehen sollte, wie die geil klingen kann mit seiner doch recht guten Technik. Und wir wussten das ja auch nicht, also haben wir ihn machen lassen und das kam dabei heraus. Es klingt, als sei es durch den Telefonhörer aufgenommen.

Damals gab es außer euren eigenen Erwartungen keine, denen ihr gerecht werden musstet. Heute ist das anders, gerade Menschen über vierzig haben wohl klare Erwartungen an ein SLIME-Album. Wie geht man da an ein Album heran, auch mit den Hatern? Deutscher W von OHL bezeichnete euch mir gegenüber als „langweiliger Altherrenrock“.

Dirk:
Der hat das Album ja noch nicht gehört!

Elf: Und OHL sind an der Grenze zur Grauzone. Dieser Spacko, ey ...

Christian: Das ist völlig egal, es interessiert uns überhaupt nicht, wirklich null. Wir denken nicht so, dass wir glauben, wir müssten irgendwelche Erwartungen erfüllen. Die einzigen Erwartungen, die wir haben, sind die an uns selbst. Dass wir zu fünft es schaffen, etwas gemeinsam zu machen, denn das ist nicht so leicht.

Dirk: 2010 haben wir die Messlatte für uns selbst sehr hoch gelegt. Wir wussten, was wir nicht wollen, also zur eigenen Coverband zu mutieren, zu einer Band zu werden, die zum eigenen Klassentreffen aufspielt. Deshalb finde ich das Mühsam-Album auch immer noch großartig, auch wenn es damals aus der Not heraus geboren wurde. Unsere Plattenfirma war davon nicht so begeistert, das kann ich dir sagen. Die hätten lieber was in Richtung DIE TOTEN HOSEN oder zumindest BEATSTEAKS oder DONOTS gehabt. Wir haben das Konträre gemacht und uns einen alten Anarchisten vorgenommen, das fand ich cool daran. Ja, das ist etwas sperrig zu hören, wegen dieser alten Sprache, das gebe ich zu.

Ihr habt immer wieder gesagt, dass ihr euch in der Nachfolge von TON STEINE SCHERBEN seht. Ist in diesem Kontext „Paradies“ als melancholischer Song zu sehen? Thematisiert wird da der Protest gegen das AKW Brokdorf.

Dirk:
Melancholie in „Paradies“? Das hoffe ich ehrlich gesagt nicht, denn der Text ist zu 80% von mir. Eigentlich soll der eher eine Aufbruchstimmung rüberbringen. Ich will zeigen, wie wir uns damals gefühlt haben, aber das vierzig Jahre später zu transportieren ist unglaublich schwer. Ich wollte dieses „Wir heben die Welt aus den Angeln“-Gefühl vermitteln, dieses „We are on top of the world“, wir sind auf der Titelseite der Bild. Das Melancholische kommt dann vielleicht automatisch, wenn man weiß, dass von dieser Aufbruchstimmung vierzig Jahre später wenig geblieben ist. Und die Bewegungen, die danach kamen, sind auch nicht meine gewesen, ganz klar.

Welche meinst du?

Dirk:
Techno zum Beispiel, für mich unhörbar. Da bin ich oldschool, da lasse ich mir auch nichts erzählen. Klar, über Geschmack kann man nicht streiten, aber so, wie mir viele Leute in Hamburg einst versuchten, das als den neuen Punkrock zu verkaufen, das mache ich nicht mit. Für mich ist das unhörbarer Scheiß. Punkt. Aus. Ende. Feierabend. Und nebenbei gesagt ist für mich auch Heavy Metal unhörbarer Scheiß. Musikalisch kam für mich nach Punk eben nichts mehr, wobei das natürlich eine große Gefahr ist, denn da wirst du irgendwann ein verbitterter alter Mann und guckst nur noch zurück. Und deshalb hoffe ich, dass „Paradies“ nicht so rüberkommt. „Rio sang vom Paradies“, das ist vierzig Jahre her, das ist automatisch nicht mehr aktuell, aber ich habe die Hoffnung, dass die Idee irgendwie rüberkommt.

Techno ist heute aber ja nicht mehr das „Problem“, relevant sind Hip-Hop beziehungsweise Rap, konkret deutschsprachiger Rap. Und wer heute jung ist und Punk oder Hardcore hört, hört oft parallel auch Rap, ganz vorurteilsfrei. Wo in diese Welt passen SLIME da rein? Seid ihr eine Band für die Generation Ü40 und Ü50?

Christian:
Das, was heute die Charts dominiert, Gangsta-Rap oder was auch immer, das war doch früher auch nicht anders. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger war doch auch nicht Punkrock in den Charts. In England war das anders, aber da hat man auch einen anderen Zugang zu Rock’n’Roll als in Deutschland. Ich finde, diesen ganzen Mainstream wie Gangsta-Rap muss man erst mal beiseite wischen und schauen, was es für Subkulturen gibt. Dass das dann nicht vergleichbar ist mit unserer Subkultur damals in den Siebzigern, das ist doch klar. Die Welt hat sich verändert, die Gesellschaft, und es gab die Digitalisierung, die alles komplett umgekrempelt hat, auch den Punkrock. Und da muss man sich mal anschauen, was ist noch da. Da sehe ich dann etwa Fridays for Future, eine Graswurzelbewegung, die absolut das Zeug hat, auf einer Stufe zu stehen mit dem, was Punkrock früher mal gekonnt hat, mit einer weltweiten Vernetzung.

Dirk: Aber wo ist da die Musik? Hören die so sexistischen Scheißdreck wie RAF Camorra? So was hab ich neulich im Spiegel gelesen. Das geht doch gar nicht!

Elf: Vielleicht will so jemand das Gleiche bezwecken wie wir damals. Provokation eben.

Wir haben uns früher über DIE KASSIERER und LOKALMATADORE amüsiert und deren Texte. Und wie man manche von deren Texten lustig finden konnte, haben in den Neunzigern auch viele nicht verstanden. Und gegen manche Rap-Texte waren die ja gar nichts.

Christian:
Wenn es um Musik geht, ist Provokation heute auch gar nicht mehr schwer. Als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger kannst du dich doch in jeder Schublade bedienen, es gibt alles an Rebellion, was du willst, und du stellst dir die Musik zusammen, die in dein Leben passt. Das war damals völlig anders, da gab es Rock’n’Roll und es gab Punkrock.

Elf: Aber elektronische Musik und Pop gab es auch.

Christian: Ich rede von rebellischer Musik.

Elf: Der Gangsta-Rap mag ja rebellisch rüberkommen und es sein wollen, aber er ist ja Mainstream. Und neben Mainstream-Rap gibt es dann eben auch Mainstream-Rock wie DIE TOTEN HOSEN. Aber den Mainstream gab es immer, und da waren wir nie dabei, wir waren Untergrund, auch wenn wir mal tausend Zuschauer hatten.

Dirk: Und genau das war auf der Insel anders, da wurden damals STIFF LITTLE FINGERS im Radio gespielt, auch wenn die kein Mainstream waren. Wir hier nicht – und das wollten wir ehrlich gesagt auch nicht, das war Teil unserer Rebellion. Wenn man uns gefragt hätte, hätten wir die ausgelacht.

Dennoch ist, wie wir nach einem Blick auf die Wartenden vor dem Club gesehen haben, euer Publikum teilweise recht jung, da sind auch Menschen um die zwanzig. Ist das generell so bei dieser Tour, die ja schon Ende letzten Jahres anfing?

Elf:
Es sind mehr Junge als noch vor ein, zwei Jahren.

Dirk: Es gab da so einen richtigen Schub, wobei das nicht immer gut sein muss. Bei dem Konzert in Schweinfurt war das wie mit den Ultras, da haben die sich nur gegenseitig abgefeiert, hinsetzen, aufstehen und so, und das mag ich bei den Ultras schon nicht. Bei Swiss passt das, bei uns nicht. Unser Mixer sagte, das hätte gut ausgesehen von hinten, mir war das zu viel Selbstabgefeiere. Vielleicht tue ich den Leuten da Unrecht, aber ich hatte das Gefühl, dass das Zuhören, das bei SLIME sehr wichtig ist, da etwas zu kurz kam bei all dem Rumgehüpfe.

Elf: Also beim Konzert ist Zuhören ja nicht das Wichtigste. Die Älteren kennen die Texte ja.

Dirk: Aber nicht die, die da rumhüpften!

Christian: Eine andere Beobachtung ist, dass mittlerweile mehr Frauen im Publikum sind. Wir waren von unserer Geschichte her immer eine sehr maskuline Band und haben nun seit 2010 mit Nici am Bass eine Frau dabei. Zunächst hatten wir nach der Reunion die üblichen Herren im Publikum, aber das hat sich in den letzten Jahren verändert – positiv, wie ich finde, und mich würde interessieren, woran das liegt.

Elf: Wir machen das jetzt seit zehn Jahren wieder, das ist also wirklich eine neue Entwicklung: Wer heute mit 18 zu unseren Shows kommt, der war 2010 noch in der Grundschule. Die haben uns in den letzten Jahren erst entdeckt, vielleicht ja durch eine Band wie FEINE SAHNE FISCHFILET. Und wer bei YouTube FEINE SAHNE FISCHFILET schaut, der bekommt dann vielleicht mal SLIME vorgeschlagen – ich schätze, so läuft das. Oder die erwähnen uns in Interviews oder so.

Dirk: So eine Zusammenarbeit wie die mit Swiss spielt da sicher auch eine Rolle. Der hat genau diese Jungspundgeneration als Publikum.

Elf: Auch die gemeinsamen Konzerte mit DRITTE WAHL und ZSK könnten eine Rolle gespielt haben. Wahrscheinlich kam das alles irgendwie zusammen und dadurch kommen jetzt Jüngere, und auch mal 100, 200 Leute mehr am Abend als früher.

Kommen wir mal auf die Platte „Wem gehört die Angst“ zu sprechen. Es geht da sehr viel um die Neue Rechte, um Wutbürger. Wart ihr vor diesem Hintergrund überrascht von den Ereignissen in Thüringen, wo AfD, CDU und FDP für einen FDP-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten stimmten?

Elf:
Endlich haben diese Parteien mal gezeigt, wie sie drauf sind. Sie sind dann zwar zurückgerudert, nachdem protestiert wurde, aber ... fick dieses Art von Demokratie.

Christian: Meiner Meinung nach ist das ein Indiz dafür, dass das demokratische System, wie es in den letzten fünfzig, sechzig, siebzig Jahren gewachsen ist, am Ende ist. Das funktioniert so nicht mehr, das regeneriert sich nicht mehr, das ist nur noch auf Machtsicherung dieser Kreise ausgerichtet. Die sind nicht mal mehr ansatzweise dazu in der Lage, auf so eine Entwicklung wie jetzt in Thüringen zu reagieren. Und das setzt sich in jeder Kleinigkeit fort.

Was haben wir denn für eine Alternative?

Dirk:
Ich sehe mich immer noch als Anarchist. Mir fällt es schwer, über die parlamentarische Demokratie zu reden, für mich ist das Ganze nur eine Quasselbude, die bloß dazu dient, den Anschein einer Demokratie aufrechtzuerhalten. Letztlich geht es nur darum, dass die Konzerne die Macht in den Händen halten, Punkt, Aus, Ende. Ich wähle nie – das heißt, einmal habe ich Die PARTEI gewählt. Ich bin also kein Experte für Parteiendemokratie, Elf kann da sicher mehr dazu sagen.

Elf: Ich sehe das etwas anders. Das System ist nun mal da und es ist keine Diktatur, das ist klar. Mit 50, 60% von mancher Partei bin ich vielleicht einverstanden, also von Die Linke oder auch teilweise Die Grünen und natürlich Die PARTEI, die ja gar nicht mehr die Spaßpartei ist, die sie mal waren – der Sonneborn macht im EU-Parlament gute Arbeit. Und es ist eben so, dass wenn du nicht wählen gehst, hast du quasi denen zugestimmt, die gewonnen haben.

Dirk: Das ist ein scheiß Totschlagargument.

Elf: Nein. Unser Freund Bill aus den USA, der auf dem Album bei „Solidarity“ Mandoline spielt und singt und den Text geschrieben hat, der war bei den beiden Obama-Wahlkämpfen dabei und hat zusammen mit seiner Frau Menschen in schwarzen Wohnvierteln geholfen, sich überhaupt mal für die Wahl registrieren zu lassen. Die haben sich total aufgeregt über die Arroganz von vielen Linken auch aus der Punk-Szene bezüglich der Wahlen: „Wenn Bernie Sanders zur Wahl gestanden hätte, wäre ich hingegangen. Aber Clinton? Niemals!“ Also gingen sie nicht wählen und dann kam Trump.

Elf, hättest du so eine Aussage wie eben jetzt auch ein Elf vor dreißig, vierzig Jahren gemacht?

Elf:
Da war ich wohl eher so wie Dirk drauf. Da bin ich auch nicht wählen gegangen. Aber das war auch eine andere Parteienlandschaft, da gab es nur CDU, SPD und FDP, und die fanden wir alle scheiße.

Christian: Ich hätte nicht gedacht, dass das ganze System und unsere Lebensgrundlagen so in ihren Grundfesten erschüttert werden, wie das jetzt gerade der Fall ist. Das war damals alles noch gar nicht denkbar, so mit dem Klimawandel und so weiter. Das ist allgegenwärtig, das beeinflusst alles. Und mein Vertrauen in demokratische Funktionen ist einfach weg. Wie Dirk eben schon sagte, haben wir hier so eine Art Wirtschafts- und Kapitalismus-Diktatur. Und die Parteien und das Parlament hängen da irgendwie dran.

Elf: Wobei eine linksgrüne Regierung vielleicht doch was anderes wäre, glaube ich.

Christian: In den Achtzigern dachte ich noch, das kann man alles ändern, auf einen anderen Weg bringen – und das denke ich jetzt nicht mehr. So wie jetzt wird das nichts mehr werden, wir steuern auf den Abgrund zu. Und zwar ziemlich schnell.

Was ist die Alternative? Und wie sieht es im Vergleich anderswo aus? China betrachte ich mit extremen Argwohn, das ist eine verdammte Scheißdiktatur mit Orwell’schem Charakter, aber manche Linke begeistern sich für die Leistungen der dortigen kommunistischen Partei. Andere feiern bankrotte Diktaturen wie Kuba und Venezuela ab und fordern Solidarität, von der Sympathie mancher für Russland und Putin ganz zu schweigen. Man bekommt mit, was in der Türkei, in Polen, in Ungarn läuft, und denkt sich dann, dass hier in Deutschland zwar so manches ganz schön scheiße ist, aber zumindest stehe ich als Journalist nicht mit jedem Satz, den ich schreibe, mit einem Bein im Knast. Und dann sage ich mir, dass es sich ja vielleicht doch lohnt, für das eine oder andere hier zu kämpfen und Engagement zu zeigen.

Dirk:
Natürlich, wenn man das runterbricht, befinden wir uns unterm Strich in einer Schnittmenge mit Frau Merkel wieder, so unglaublich das klingt. Man kann das kaum fassen. Und klar, wenn man das Thema Journalisten nimmt, muss man hier als solcher – noch! – keine Angst haben, dass sie dir vor der Tür auflauern.

Elf: Trotzdem würde dieser Staat weder Edward Snowden noch Julian Assange Asyl gewähren. Aber warum eigentlich nicht?

Christian: Aber auch da bröckelt es ja. Die Auslieferung von Assange an die USA seitens der Briten könnte einen Präzedenzfall liefern, der es erlauben würde, Journalisten in jeder Demokratie, auch der deutschen, so unter Druck zu setzen, dass man sich als solcher überlegt, wenn man dies oder jenes schreibt, dass man auch gleich in den Untergrund gehen kann. Natürlich sind wir da noch nicht, aber die Zeichen sind eindeutig da. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie diese Anklage gegen Assange, die Psychofolter, über Jahre aufrecht erhalten werden konnte. Das interessiert aber keinen, obwohl es einen weltweiten Aufschrei auslösen müsste.

Elf: Das war eine gut gemachte Kampagne der USA, mit Hilfe der Schweden und der Engländer.

Dirk: Und damit sind wir wieder bei „Yankees raus“. Und deshalb werden wir nie im Conne Island in Leipzig spielen. Als die großen Anti-Amerikanisten, die wir sind ...

Wo in der Linken stehen SLIME heute? Früher habt ihr wegen „Yankees raus“ verbale Prügel bezogen, wie ist es heute?

Elf:
Komplizierter. Es hat sich alles noch stärker ausdifferenziert, in Antideutsche, in Antiimps und was es noch alles gibt. Allein das ganze P.c.-Gequatsche, du darfst nicht mehr „ficken“ sagen ... Die Ultras von St. Pauli haben mal eine Liste aufgestellt von unerwünschten Worten, die man im Stadion nicht von sich geben soll, und da fragt man sich schon, was das soll, denn es kommt ja immer darauf an, in welchem Zusammenhang die geäußert werden. Aber nein, hieß es, ganz grundsätzlich nicht.

Dirk: Der Ansatz ist ja richtig, aber immer dann, wenn dieses Missionarische, dieses Religiöse oder Sektenhafte dazukommt, in dem Moment ist Feierabend.

Dann sind wir Punks und dagegen?

Dirk:
Dann würde ich die Punk-Fahne hochhalten. Unser Verständnis von Punk beinhaltet das auf jeden Fall nicht. Man muss aber auch aufpassen, dass man das nicht ins Gegenteil verkehrt. Ich bin jahrelang auf Sankt Pauli ins Jolly Roger reingelaufen, wo auch eine Liste hing, was man nicht sagen darf, und habe fröhlich mit einem „Moin, ihr Schwuchteln!“ gegrüßt. Ich fand das witzig, einfach dagegen zu sein, bis mir mal erklärt wurde, dass das doch nicht so witzig ist, weil wenn Leute aus Pinneberg oder Castrop-Rauxel ankommen zu einem St. Pauli-Heimspiel und mitbekommen, dass der Sänger von SLIME solche Sprüche bringt, dann denken die, dass sei hier der allgemeine Ton und man könne auch mal die Frau hinterm Tresen als Fotze bezeichnen. Okay, musste ich dann sagen, ja, Leute, stimmt. Aber was aus so einem eigentlich richtigen Ansatz manchmal wird, diese ganze antideutsche Getue ... also nee, Punkrock ist das nicht.

Elf: Aus diesem Anlass haben wir so was gemacht wie „Let’s get united“ in drei Sprachen.

Dirk: Den gesamten Nationalismus, egal wo, kann man sich rektal einführen. Ich weiß, dass ein baskischer Nationalismus ein Widerstand gegen Madrid ist, ein nordirischer sich gegen Downing Street No. 10 richtet, aber trotzdem, Nationalismus ist immer kacke, denn wie kann man stolz auf etwas sein, das man nur durch Zufall ist? Wäre ich eine Stunde nördlich geboren, wäre ich Däne. Macht mich das eine oder andere zu einem besseren Menschen? Nationalismus ist und bleibt der widersinnigste Blödsinn, den es gibt. Damals gab es so Sprüche wie „RAF, ETA, IRA – eine Front“, das wurde auf Demos gebrüllt und damit dieser Nationalismus mitgetragen. Ja, der baskische Nationalismus war eine Art von Widerstand gegen Madrid und wahrscheinlich auch nötig, und von anderen wurde die irische Nationalhymne gesungen – aber da bleibe ich sitzen und singe nicht mit. Ich singe höchstens „God save the queen“ in der Fassung der SEX PISTOLS.

Und die Antwort auf Nationalismus ist euer „Solidarity“?

Dirk:
So haben wir das gemeint, mit „Die Internationale“ am Schluss.

Was treibt euch an nach vierzig Jahren, immer noch eure Messages rauszubrüllen? Man könnte doch auch gemütlich zu Hause sitzen und sich irgendein „normales“ Hobby suchen.

Elf:
Musikmachen mit einer Band ist ein viel geileres Hobby. Und es ist auch kein Hobby von mir, es ist eine Berufung und ich werde das immer weiter machen, auch wenn diese Band mal nicht mehr existieren sollte. Musikmachen werde ich immer, das ist ganz klar. Und wenn man das mit so einer geilen Band machen kann, wo auch Leute kommen, auch mal 1.500 wie in Hamburg oder Berlin, dann macht man das lieber als nur vor zwanzig Leuten in einem Kellerclub.

Christian: Mich treibt die Möglichkeit an, die gewichtige Stimme dieser Band zu nutzen, weil ich sehr unzufrieden bin, nach wie vor. Wenn man mal begriffen hat, dass durch den Klimawandel nichts mehr so sein wird wie zuvor, dann kann man nicht einfach so unwichtigen Dingen wie einem Hobby nachgehen, um das alles auszublenden – das geht überhaupt nicht, das ist unmöglich. Wie für Elf ist auch für mich die Musik mein Leben, ich habe auch ein Studio, beschäftige mich immer mit Musik und werde immer Musik machen. Ob nun diese Band oder eine andere, da wird immer was sein mit Musik. Das ist kein Hobby, das ist eine Berufung. Und das treibt mich an. Leidenschaft.

Elf: Wenn man diese Leidenschaft nicht mehr hätte, dann würde man aufhören. Diese Band mit einer „Kein Bock mehr“-Einstellung zu machen, das geht nicht – da hörst du einfach auf. Wahrscheinlich haben wir deshalb auch diese beiden Male mit der Band aufgehört. Das hat nicht mehr funktioniert, untereinander nicht und auch so. Beim ersten Mal war die deutsche Punk-Szene am Arsch, von 1984 bis 1988 oder so lief gar nichts mehr, da fingen dann Bands wie die SPERMBIRDS an, die ja eher so Hardcore-mäßig waren, aber diese Deutschpunk-Nummer, die war echt gelaufen damals. Das musste ich dann feststellen mit den TARGETS, der Band direkt nach SLIME zusammen mit Eddie und Stephan Larsson. Da kamen dann fünfzig Leute, trotz „ex-SLIME“.

„Die“ Punks waren damals die Kaputtgesoffenen, Hardcore war frisch und wach und kreativ – so nahm ich das damals pauschalisierend war.

Dirk:
So war das ja schon auch. Ich, wir hatten damals schon auch das Gefühl, dass die Punk-Szene nur noch aus solchen Leuten besteht. Die hingen an der Sternschanze oder am Kotti rum – „Haste mal ’ne Mark?“ –, und das entsprach nicht unserem Lebensgefühl, nicht unserem Verständnis von Punk.

Elf: Die teilten ja wahrscheinlich nicht mal unsere politische Haltung.

Dirk: Die hatten gar keine, nur sahen sie so aus, als hätten sie eine!

Christian: Mir kam das so vor wie ein Verharren in einem Stillstand. Wir sind dagegen und kleiden uns so, aber eigentlich war es Stillstand, und Stillstand war nie meine Sache. Stillstand funktioniert für mich überhaupt nicht.

Colin von WIRE sagte das im Interview im letzen Ox ganz ähnlich. Nun war Punk ja nie für die Ewigkeit gebaut, so wie die Flüchtlingsbaracken nach dem Zweiten Weltkrieg für all die Vertriebenen aus dem Osten. Doch so, wie viele dieser Behelfsbauten von damals heute noch stehen und bewohnt werden, ist auch Punk geblieben. Warum hält man an der alten Hütte Punk immer noch fest nach vierzig Jahren?

Christian:
Also das ist eine super Metapher, da habe ich so noch nie drüber nachgedacht.

Dirk: Mir ist das alles scheißegal. Ich brauche keine fucking Schublade, um mein Leben zu bestimmen. Ich bin Dicken. Moin! So einfach und simpel sehe ich das. Punk, Hardcore, Politpunk ... wir sind SLIME! Christian hat vor ein paar Jahren mal angefangen, uns damit zu beschreiben, dass wir Protestlieder spielen, und das gefällt mir. Dieses „Bin ich noch Punk oder nicht?“ – meine Fresse! Schubladen sind, sorry, was für Musikjournalisten. Ich wohne auf dem Land, ich bin St. Pauli-Fan und Punk ist nicht mehr so präsent für mich – außer dass ich das höre. Aber dieses Lebensgefühl? Für mich stimmt der Spruch „Punk findet nicht auf, sondern im Kopf statt“ absolut.

Bist du also doch Punk?

Dirk:
Ich sage ja nicht, dass ich kein Punk bin. Nur wenn es darum geht, das in diese institutionalisierte Form zu pressen, von wegen „Ist das noch Punkrock?“, dann haben DIE ÄRZTE das schon gesungen – ich glaube nicht.

In „Hölle“ singt ihr „Die Hölle, das sind wir“ und dann zitiert ihr euch selbst mit „Alle gegen alle“. Da dachte ich mir, jetzt isses soweit, SLIME zitieren sich selbst. Ich finde das charmant.

Dirk:
Einmal darf man das schon machen. Wenn es dabei bleibt, ist es, wie du sagtest, charmant. Würde man das im größeren Stil machen, würde man zur Coverband seiner selbst.

Elf: Die Zeile war da einfach drin, „jeder gegen jeden, alle gegen alle“, und dann standen wir im Studio und dachten uns, das müssen wir tonal genau so hinkriegen in dem Song, wo ein ganz anderer Akkordhintergrund stattfindet. Da mussten wir schon etwas herumprobieren, damit dieser „Alle gegen alle“-Refrain genau so klingt.

Insgesamt wirkt das neue Album auch keineswegs wie ein Selbstzitat. Es ist das dritte Album der dritten Episode SLIME und ist wie „Schweineherbst“ voller Wut. Da ist viel drin, was bei „Hier und jetzt“ auch schon drin war, aber ...

Dirk:
... es ist kompakter, glaube ich. „Hier und jetzt“ war breitgefächerter, auch durch die vielen Gäste, und das hier ist jetzt „back to the roots“, kompakter.

Elf: Wir haben auch keine Ballade drauf, auf dem letzten waren es zwei.

Die Dub-Nummer „Die Suchenden“ gefällt mir auch gut.

Dirk:
Danke, den Song wollen wir auch live spielen, den proben wir jetzt beim Soundcheck.

Elf: Wir packen jetzt peu à peu neue Songs in das Set mit rein, und der gehört dazu.

Dirk: „Ebbe und Flut“ auch, das ist ein Rockmonster, den finde ich richtig gut. Der Text ist von Andy Hüging, der hat auch damals für Elf und RUBBERSLIME „St. Pauli leuchtet nur hier“ geschrieben.

Elf: Der war mal Drummer bei meiner Band ELF.

Dirk: Andy ist zuständig für die Kneipen-Kiez-Texte. Das ist fast, als hätte er den Text für mich geschrieben, denn ich habe zu viele Nächte zum Tag gemacht und zu oft am Tresen gesessen, morgens um sechs noch, während die Stadt da draußen sich poliert und zur Arbeit geht. Das fühlt sich echt so an, als hätte er mir den auf den Leib geschneidert. Und da geht es dann ja auch darum, verkatert wie Phoenix aus der Asche aufzuerstehen und doch wieder die alte Power zu verspüren. Genau das habe ich letztendlich vor 13 Jahren gemacht, ich bin aufs Land gegangen, habe alles runtergefahren und fahre heute nur noch zu Konzerten und St. Pauli-Heimspielen nach Hamburg rein und bin dann auch froh, wenn ich wieder auf dem Land bin. „Paradies“ und „Ebbe und Flut“ sind für mich ganz wichtige Songs auf dem Album, aber ... eigentlich sind alle geil.

Eine Rubrik im Ox, die ich hasse, sind die Todesmeldungen bei den News. Was habt ihr in Sachen Selbsterhalt über die Jahre dazugelernt, um nicht verfrüht in dieser Rubrik zu landen? Was lässt man besser bleiben, wenn man das mit dieser Band noch ein paar Jahre machen will?

Dirk:
Koks weg, ganz klar! Charlie vom Spiegel genommen, Alkohol runtergefahren: während der Woche null, nada, nur noch am Wochenende. Zweimal die Woche in die Therme, Sauna und Schwimmen. Jeden Tag im Wald spazieren gehen. Sich vernünftig ernähren. Dazu gehört auch, dass ich Vegetarier geworden bin, weil so automatisch eine höhere Beschäftigung damit einhergeht, was du da zu dir nimmst. Das ist so meine Strategie.

Elf: Ich habe mit dem Kiffen aufgehört. Koks war sowieso nie wirklich mein Ding. Aber ich habe ganz gut gekifft, wobei das schon lange her ist. Seit ich mit Nici zusammen bin, sowieso nicht, außer Alkohol und Zigaretten hat die mit Drogen nichts am Hut. Mit dem Rauchen aufzuhören ist schwer, Kiffen war ganz einfach. Denn wenn kein anderer mitkifft, macht das keinen Spaß. Aus Versehen habe ich danach noch zweimal an einem Joint genuckelt und bin fast ins Koma gefallen, das Zeug ist mittlerweile so derbe. Den ganzen Scheiß brauche ich echt nicht mehr, und weniger trinken ist auf jeden Fall auch wichtig.

Christian: Was Drogen betrifft, habe ich nie große Probleme gehabt. Eigentlich würde ich nichts ändern. Höchstens mein Zeitmanagement: Ich mache so viele Sachen, dass ich zu wenig Zeit habe für meine Freundin und meine Freunde. Aber dafür habe ich keine Lösung.

Wie anstrengend sind die Bandaktivitäten für euch?

Elf:
SLIME sind ja keine Band, die 300 Shows spielt im Jahr. Das sind in dieser „Runde“ jetzt an die vierzig, aber was ist das schon aufs Jahr gerechnet? Da machen andere Bands ganz andere Sachen.

Dirk: Ja, aber ich finde das anstrengend genug!

Elf: Ja, das ist anstrengend, aber wir machen das ja immer auch nur zwei Tage und dann fahren wir wieder nach Hause. Freitag, Samstag – Pause, nächstes Wochenende. Das ist was ganz anderes als dauernd auf Tour zu sein, das bekommt man gebacken.

Christian: Ich halte es für sehr wichtig, dass eine Band wie SLIME niemals richtig professionell arbeitet, um weiterhin in jeder Beziehung frei zu sein.

Anfangs sprachen wir schon über den Plattentitel „Wem gehört die Angst“ und über Angst. Seit dem Buch „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck aus den Achtzigern ist man sich bewusst, dass viele Menschen das Leben nur noch als Anhäufung von Risiken wahrnehmen, und vor Risiken muss man sich absichern, vor denen hat man Angst. Klimanwandel? Angst! AfD? Angst! Zuwanderung? Angst! Corona-Virus? Angst! Wie kamt ihr also zum Albumtitel „Wem gehört die Angst“?

Elf:
Weil das offensichtlich ist, und weil das überall stattfindet. Gerade diese ganzen Rechtspopulisten, Rechtsextremisten und Nazis arbeiten damit, die gewinnen damit Stimmen und Wahlen. Es geht immer um Angst. Angst vor Geflüchteten natürlich als Erstes, dann der Quatsch über den angeblich nicht stattfindenden Klimawandel, Angst vor dem Corona-Virus.

Auch Greta Thunberg sagte: „I want you to be afraid!“

Elf:
Aber die hat natürlich recht. Die rüttelt die Leute auf. Und sie sagt, dass die Leute auf die Wissenschaft hören sollen, dass das Pariser Klimaschutzabkommen umgesetzt werden muss, sonst wird alles überschwemmt. So wie wir in unserem Song „Wenn wir wollen“ singen: „Bremen und Hamburg unter Wasser, Berlin hat jetzt ’nen Strand“ – das ist die Vision. Wenn der Meeresspiegel entsprechend steigt, stehen Bremen und Hamburg durch Weser und Elbe unter Wasser.

Christian: Ich sehe das alles noch viel grundsätzlicher. Ich habe irgendwann in den letzten Jahren für mich mal den Satz formuliert „Die Menschen sitzen in ihren Zimmern und haben Angst“, aufgrund von allen möglichen Dingen. Und ich führe das darauf zurück, dass so ein Zusammenhalt in der Gesellschaft, der früher vielleicht über die Religion hergestellt wurde, dass das alles weggefallen ist und die Menschen jetzt denken, sie seien frei, frei, alles zu haben, was sie wollen, und da setzt dann der Kapitalismus an, und der ist überhaupt nicht daran interessiert, dass irgendwer mal irgendwann glücklich oder zufrieden ist oder ein gutes Gefühl hat. Denn es muss ja immer eine Nachfrage, ein Mangel erzeugt werden, damit das Ganze weiterläuft. Also sitzen die Menschen zu Hause und haben Angst – vor allem weil sie keinen Kontakt mehr haben zu anderen. Für mich stehen Songs wie „United“ oder „Wenn wir wollen“ in diesem Zusammenhang. Angst ist das, was diese Gesellschaft umtreibt, in jeder Beziehung, und deshalb ist „Wem gehört die Angst“ ein Titel, wie er besser für eine SLIME-Platte nicht sein könnte.

Warum ist es anno 2020 an einer Punkband, sich für grundsätzliche menschliche Werte einzusetzen? Das ist ja was anderes als „Brüllen, zertrümmern und weg“?

Christian:
Das hat was mit unserer persönlichen Entwicklung zu tun, wir sind keine 17 mehr, als wir uns darüber definiert haben, was alles scheiße ist. Wir haben ja auch alle ein Leben und tun gewisse Dinge, die auch positiv sein sollen.

Dirk: Ja, tatsächlich! In dem Text von „Paradies“ beschreibe ich, wie wir am Abend vor der Brokdorf-Demo unsere schwarzen Helme geputzt haben, und dazu haben wir „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ gehört. Das wollte ich aber nicht aufgreifen, sondern „Schritt für Schritt ins Paradies“, was ja auch ein alter TON STEINE SCHERBEN-Song ist. Wahrscheinlich hätte ich, wenn ich vor dreißig Jahren diesen Text geschrieben hätte, Rio Reiser mit „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ zitiert. Das wollte ich heute aber nicht mehr, ich wollte was Positives aufgreifen, und deshalb heißt es „... und Rio Reiser sang vom Paradies“.

Christian: Keine Ahnung, ob und warum eine Band wie SLIME das jetzt machen muss. Wir machen Musik, das darf man nicht überbewerten.

Dirk: Die Texte haben diese Band immer ausgezeichnet.

Elf: Aber wir haben auch gestern erst so einen Quatsch wie „1,7‰ Blues“ gespielt.

Dirk: Und eigentlich sollten wir auch wieder mal ein bisschen mehr von so was machen. Mir ist das manchmal zu viel politischer Überbau, ich würde auch gerne mal wieder was wie „Karlsquell“ oder eben „1,7‰ Blues“ machen. Das ist ja auch ein Teil unseres Lebens. Wir brauchen auch mal wieder witzige Texte, Satire, sollten von DIE ÄRZTE lernen. Das halte ich für den einzigen gerechtfertigten Kritikpunkt an uns. Auf der Bühne sind wir ja keine verbitterten Politbarden, nur spiegelt sich unsere humorvolle Art nicht in den aktuellen Texten wider.

Christian: Aber ironisch oder witzig, das waren SLIME nie.

Dirk: Ja, diese Band steht für was anderes, aber trotzdem kann ich es ja schade finden.

Elf: Zumindest lassen wir in den Ansagen unsere andere Seite mal durchscheinen. Wobei diese internen Scherze keiner versteht.

Dirk: Man muss dafür wohl Monty Python und Loriot auswendig kennen, sonst kommt man bei uns nicht weit.

Und da liegt das Problem: Wer heute 21 ist, versteht solche Anspielungen nicht mehr.

Dirk:
Wahrscheinlich halten die Monty Python für einen Gangsta-Rapper.

 


Diskografie

„Slime I“ (LP, Eigenproduktion 1981, Aggressive Rockproduktionen 1982) • „Yankees raus“ (LP, Aggressive Rockproduktionen, 1982) • „Alle gegen Alle“ (LP, Aggressive Rockproduktionen, 1983) • „Viva la Muerte“ (LP/CD, Aggressive Rockproduktionen, 1992) • „Schweineherbst“ (LP/CD, Indigo, 1994) • „Sich fügen heißt lügen“ (LP/CD, People Like You, 2012) • „Hier und jetzt“ (LP/CD, People Like You, 2017) • „Wem gehört die Angst“ (LP/CD, Arising Empire, 2020)

 


AKW nee

Die Anti-AKW-Bewegung, also der Protest gegen die „friedliche Nutzung der Kernenergie“, begann in den frühen Siebziger Jahren in Deutschland. So konnte in Wyhl (Baden-Württemberg) durch die Bauplatzbesetzung im Frühjahr 1975 und den langjährigen, massiven Widerstand der Bevölkerung der Bau eines Atomkraftwerks (AKW) verhindert werden. In Brokdorf (Schleswig-Holstein) wurde am 26.10.1976 mit dem Bau eines AKWs begonnen. Am 30.10. demonstrierten 8.000 Menschen dagegen, dabei gelang es 2.000 Demonstranten einen Teil des mit Gräben und Maschendrahtzaun gesicherten Bauplatzes zu besetzen. Entgegen ihrer Zusage räumte die Polizei kurze Zeit später brutal den Platz. Es gab zahlreiche Verletzte. Das Zeltlager wurde verbrannt und eingeebnet. Am 30.11. demonstrierten 45.000 Menschen vor dem mittlerweile wie ein Hochsicherheitstrakt geschützten Bauplatz. Den Versuch, den Bauplatz erneut zu besetzen, verhinderte die Polizei brutal mit Wasserwerfern, Rauch- und Tränengasgranaten, die auch aus Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes abgeworfen wurden. Es gab über 700 verletzte Demonstranten. Am 17.12. verhängte das Verwaltungsgericht einen vorläufigen Baustopp für das AKW. Am 19.02.1977 demonstrierten erneut über 30.000 Menschen in der Nähe des Bauplatzes. Nach der Aufhebung des Baustopps Ende 1980, machten sich am 28.02.1981 trotz Verbots und erheblichen Versuchen der Polizei, das durchzusetzen, 100.000 Menschen auf den Weg zur Großkundgebung vor dem AKW Brokdorf. Das Bundesverfassungsgericht beurteilte später im wegweisenden „Brokdorf-Urteil“ das Demonstrationsverbot als rechtswidrig. Im Juni 1986 sollte das inzwischen fertiggestellte AKW ans Netz gehen. Deshalb folgten am 07.06. mindestens 60.000 Menschen dem Aufruf zu einer Kundgebung am AKW-Gelände. Dabei kam es zu massiven Behinderungen durch die Polizei, so dass nur ein kleiner Teil der Demonstranten zum Kundgebungsplatz gelangen konnten. Die daraufhin in Hamburg stattfindende spontane Protestversammlung wurde von der Polizei rechtswidrig eingekesselt und bis zu 15 Stunden festgehalten („Hamburger Kessel“).

Triebi Instabil

 


Paradies

Ende 70, Anfang 80, Brokdorf AKW / Für uns war sofort klar / Auf welcher Seite wir hier stehen / Mit fünf KB-Genossen in Steilshoop im Beton / Wir hielten zusammen, die Ziele waren klar / Die Zukunft leicht verschwommen

Und Rio Reiser sang vom Paradies / Wir alle glaubten fest daran, dass es das gibt / Und Rio Reiser sang vom Paradies / Wir alle glaubten fest daran, dass es das gibt

Dreieckstücher vorm Gesicht / Aus Verbandskasten geklaut / Wir wussten, dir kann nichts passieren / Solange du an etwas glaubst

An der Wand hing Che Guevara / Black Panthers und Lenin / Wir zogen aus, um diese Welt / aus den Angeln zu heben

Ich erinner’ mich noch gut, erinnerst du dich auch / Wir haben auf der Fensterbank die Boxen aufgebaut / Wir hörten MC5, Iggy & the Stooges / Die Lage war oft angespannt, doch die Stimmung gut

Und während Rio sang. putzen wir die schwarzen Helme / Wir waren so verschieden, doch wir wollten dasselbe

Und Rio Reiser sang vom Paradies / Wir alle glaubten fest daran, dass es das gibt

 


TON STEINE SCHERBEN

... gründeten sich 1970 in West-Berlin. Die Band um Sänger Rio Reiser wurde mit ihren politischen Texten und Songs wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Der Kampf geht weiter“ oder dem „Rauchhaus Song“ zum musikalischen Sprachrohr der linken Szene und Hausbesetzerbewegung. In „Der Traum ist aus“ und „Schritt für Schritt ins Paradies“ auf ihrer zweiten LP „Keine Macht für Niemand“ von 1972 besingen TON STEINE SCHERBEN ihre Vorstellung von einer besseren und gerechteren Welt. 1975 verließ die Band West-Berlin und zog auf einen Bauernhof in Fresenhagen (Nordfriesland). Dieses war sowohl eine Flucht vor den Erwartungen der Szene als auch Kommerzvorwürfen. Obwohl sie sich weniger stark politisch betätigten, blieben sie auch nach ihrer Auflösung im Jahr 1985 für viele eine Kultband.

Triebi Instabil, Uschi Herzer