Ihr letztes Album mit eigenen Texten liegt lange zurück: 1994 kam „Schweineherbst“ heraus, als in Mölln und Solingen Brandsätze auf Asylbewerberheime flogen und ein durch die deutsche Wiedervereinigung zumindest begünstigter Rechtsruck durchs Land ging. Nun schreiben wir das Jahr 2017, die Dinge wiederholen sich – und SLIME haben mit „Hier und jetzt“ den Nachfolger am Start, übergeht man einmal das auf Erich Mühsam-Texten beruhende „Sich fügen heißt lügen“ von 2012. Warum diese neue Platte notwendig war, warum SLIME noch immer als Punkrock-Institution wahrgenommen werden und wie sie die Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg erlebten, der „ihre“ Szene, die linke Szene, erschütterte, erzählen uns Sänger Dirk „Dicken“ Jora und die beiden Gitarristen und Songschreiber Christian Mevs und Michael „Elf“ Meyer beim Gespräch im Büro ihres Label in Dortmund.
Ist „Hier und jetzt“ das notwendigste Album, das ihr je aufgenommen habt?
Christian: Das aktuelle Album ist ja immer das notwendigste für eine Band. Aber wenn du die Platte als Statement siehst, dann würde ich das nicht so sagen. Denn ich könnte beispielsweise 1994, also das Jahr, in dem wir „Schweineherbst“ rausbrachten, nicht mit 2017 vergleichen. Ich vermag nicht zu sagen, ob es damals oder heute schlimmer war oder ist. Es ist nach wie vor irgendwie schlimm.
Dirk: Man kann „Hier und jetzt“ sowieso nicht einfach mit unseren anderen Platten vergleichen. Man kann nicht sagen: Dieses Album ist notwendiger oder besser als zum Beispiel „Alle gegen alle“. Das ist ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Das aktuelle Album ist zwar immer das wichtigste, gerade, wenn es um die politische Situation geht, in der es entstanden ist. Aber genau darum war und ist „Schweineherbst“ als Antwort auf die Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte damals mindestens genauso wichtig und notwendig, wie es unsere neue Platte heute ist.
Christian: Es ist im Grunde ja auch egal. Fakt ist: Wir haben lange gebraucht für „Hier und Jetzt“. Wir haben uns vier Jahre Zeit genommen – weil wir die Situation 2017 erst einmal mit uns, mit SLIME als Band, abgleichen mussten. Wir mussten an den Inhalten arbeiten. Es ging darum, zu klären: Was machen wir jetzt überhaupt? Was ist authentisch? Denn Authentizität ist unser Markenzeichen. Mehr noch, es ist unsere Philosophie.
Der Begriff Authentizität wird inflationär verwendet. Was genau bedeutet Authentizität für euch?
Elf: Vielleicht kann man es so sagen: Wir bringen Alben ja nicht raus wie Parteien ein Parteiprogramm. Wir machen das, weil wir wirklich Bock darauf haben. Wir sind eben SLIME. Nichts anderes. Und die aktuelle Situation gibt so ein Album her. Der Rechtsruck, der ganze Mist, der weltweit passiert: Es war ja immer das Ding von SLIME, das zu kommentieren. Dadurch sind wir authentisch.
Dirk: Darum haben wir auch einen Song wie „Unsere Lieder“ geschrieben, der genau das zum Inhalt hat. Wir haben ja eine unglaublich lange gemeinsame Geschichte als Band. Und „Unsere Lieder“ reflektiert das: Wo stehen wir? Wo ordnen wir uns heutzutage ein? Es mag zynisch klingen, aber die Themen, die fliegen uns ja gerade zu. Da ist es wichtig zu klären, wie reagieren wir als Band darauf.
Christian: Wenn man sich die gesellschaftlichen Umwälzungen in vielen Teilen der Erde und dazu dieses Rumgeeiere gerade in Deutschland anschaut, wo viele Künstler nach dem Motto handeln „Bloß nicht festlegen, bloß nichts sagen, sonst verkaufen wir keine Platten mehr“, dann kann man nur festhalten: Es war wirklich wichtig, jetzt mit einem Album wie diesem zu reagieren. Es war notwendig.
Meine eingangs gestellte Frage nach der Einschätzung als das notwendigste Album basiert auf einer Textzeile im Titelsong: „Wir machen weiter, auch wenn der Weg noch dunkler ist.“ Dunkler bedeutet doch: Es ist jetzt noch schlimmer als früher. Weshalb gilt: „Schweineherbst“ war damals notwendig. „Hier und jetzt“ ist nun noch notwendiger, weil immer noch nichts passiert ist und SLIME als Band, die beispielhaft für derlei Kommentare zur Weltlage steht, nach dem Motto „Jetzt erst recht“ noch mal ein Statement abgeben muss.
Elf: Das ist schon irgendwie richtig. Aber es reduziert uns auf diese Schublade ...
Welche Schublade meinst du?
Elf: Punk. Polit-Punk. Wir sind keine Polit-Punkband. Wir verstehen uns als eine Band mit Protestsongs, die aber nicht nur Punk macht.
Dirk: In dieser engen Schublade haben wir uns nie gesehen. Natürlich basiert all das, was wir machen, auf Punk. Aber wir haben uns ja schon sehr früh von diesem Punk-Ding verabschiedet und die Grenzen verschoben. „Deutschland muss sterben“ ist zum großen Teil ein Reggae-Song. Auf „Viva La Muerte“ finden sich Metal-Elemente. Das sind Sachen, die die Punk-Polizei ja nicht so mag. Aber scheiß auf die Punk-Polizei!
Noch mal zurück zu eurer langen Pause, 23 Jahre seit dem letzten Album mit eigenen Texten. Ihr sagt: „Wir mussten an den Inhalten arbeiten.“ War „Hier und jetzt“ also eine sehr große Herausforderung, nachdem „Sich fügen heißt lügen“ 2012 ja ausschließlich Texte des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam enthielt?
Dirk: Sicher. Wir mussten viel mehr feilen. Viel mehr reflektieren als beim Album zuvor – eben weil wir auf keine bereits fertigen Texte zurückgreifen konnten. Bei „Sich fügen heißt lügen“ ging es abseits der Musik ja wirklich nur noch darum, aus einem großen Fundus von Schriften auszuwählen, weil die Platte diesen Konzeptalbum-Charakter hatte. Das war dieses Mal ein ganz anderer, ein viel längerer Prozess. Er dauerte.
Elf: Das ging sogar soweit, dass wir uns vorher erst mal einig werden mussten. Dirk beispielsweise hatte sich gefragt: Brauchen wir das wirklich, ein neues Album?
Dirk: So war es. Ich war mir nicht ganz sicher. Ich hatte das Gefühl: Haben wir nicht schon alles gesagt? Und kriegen wir das hin? Will ich das überhaupt noch mal?
Christian: Vor allem aber: Können wir dem Ganzen noch etwas Sinnvolles und Gutes hinzufügen? Das war auch ein Selbstfindungsprozess für jeden von uns. Ich meine: Ich bin jetzt 54. In diesem Alter hat man normalerweise seine Sturm-und-Drang-Zeit hinter sich. Man hat sich gemütlich eingerichtet. Man hat vielleicht Familie. Und dann kommt da plötzlich dieses SLIME-Thema wieder um die Ecke. Die Geschichte holt uns ein. Unsere Geschichte. Und wir kommen zum Schluss: Es ist alles eine riesige Scheiße. Und man muss was tun. Es gibt nicht dieses richtige Leben im Falschen. Das funktioniert nicht. Dadurch kam langsam Fahrt in die Sache. Und wir merkten: Das klappt noch mit uns. Da ist noch was.
Dirk: Plötzlich war da dieses Gefühl von: Dann los! Es kam eine Eigendynamik hinzu. Und so ist letztlich auch diese Qualität entstanden ... Ja, es ist das beste Album in der SLIME-Geschichte.
Das ist doch mal eine selbstbewusste Aussage!
Dirk: Ernsthaft! Als die Songs standen, habe ich vier Tage lang kein Radio mehr gehört und keinen Fernseher mehr angemacht. Ich habe mir ein Sixpack Tuborg gekauft und in einer Tour nur die neue Platte gehört. Bei mir auf dem Land geht das. Da kann ich den Lautstärkeregler schön nach rechts drehen, haha. Wohlgemerkt: um zwei Uhr nachts. In der Woche. Soll heißen: Ich bin in „Hier und jetzt“ versunken. Und ich versinke immer noch darin. Weil es so vielschichtig ist. Ich habe auch mehrere Listening-Sessions mit Freunde veranstaltet. Und auch die waren begeistert. Das war total spannend!
Auf welchen Song fuhren deine Mithörer am meisten ab?
Dirk: Ich habe jedem, der da war, einen Zettel und einen Stift in die Hand gedrückt – und dann sollten sie ihre Lieblingssongs notieren. Und am Ende wurde tatsächlich „Patrioten“ am häufigsten genannt. Ein Stück also, das wir ja gemeinsam mit Swiss von SWISS UND DIE ANDERN eingespielt hatten. Das fand ich spannend. Denn das ist ja HipHop.
HipHop als der neue Punk ...
Dirk: Natürlich. Es sind dieselben Inhalte. Deshalb spielen Bands wie zum Beispiel IRIE RÉVOLTÉS ja auch bei Festivals wie dem Ruhrpott Rodeo. Wenn man sich am Schubladendenken orientiert, an der Punk-Polizei, dann dürfte das natürlich gar nicht sein. Dann haben die da nix zu suchen. Aber glücklicherweise scheren diese Bands sich nicht darum. Und Swiss, der schwebt derzeit ja sowieso auf Wolke 27. Der hat gerade zum zweiten Mal die Große Freiheit in Hamburg ausverkauft. Der trifft den Nerv der Leute und kriegt vom Metalhead bis zum Punkrocker alle. Ich habe ja mit ihm seinen Song „Wir gegen die!“ aufgenommen und stand beim Konzert in Lübeck mit auf der Bühne. Da kam ich schon nachmittags an und dachte beim Soundcheck, ich wäre bei SLIME 1981 in Kreuzberg! Diese Klarheit, diese Direktheit, dieses Nicht-Rumgeeiere, immer nach dem Motto: Dies ist falsch und das ist richtig! Das war ein totales Flashback. Und so was bringt Bock! Wie gesagt: Es sind dieselben Inhalte, nur in anderer musikalischer Form.
Für euch als Institution in Sachen Punkrock aus Deutschland muss es doch sehr befriedigend sein zu sehen, dass euch auch Bands aus anderen Genres nacheifern, auf dieser Schiene des musikalischen Protests weiterfahren und auf dieselben Werte verweisen, oder?
Dirk: Natürlich. Das ist es. Und es führt zu skurrilen Situationen. Da kommt eine 16-Jährige bei diesem erwähnten Swiss-Konzert zu mir und fragt mit „Sie“ nach einem Autogramm. Ich erkläre ihr dann, dass sie das „Sie“ bitte schön mal schnell sein lassen soll, haha. Und hinter ihr steht ihr Vater und grinst mich an und erzählt mir, dass er seine Tochter und ihre Freundinnen hergefahren und ihnen im Auto erst mal erklärt habe, wer denn da bei diesem einen Song auf der Platte mitsingt.
Elf: Autogramme geben ... Das kenne ich auch vom Merchstand nach dem Konzert. Ist ja nicht gerade punkrockig, haha.
Dirk: Ja, aber es ist doch vollkommen okay. Ich erinnere mich noch: 1993 oder so stehe ich vor einem Punk, der ein Autogramm von mir haben will. Und ich halte dem da erst mal einen Vortrag, warum Autogramme ideologisch und politisch und überhaupt kacke sind. Der guckt mich nur an und sagt zu mir: „Alter, quatsch’ mich nicht voll! Kriege ich nun ein Autogramm oder nicht?“ Und damals habe ich mir gedacht: Ja, er hat eigentlich recht. Was soll das? Warum mache ich hier so eine Welle? Haha.
Da warst du also selber die Punk-Polizei.
Dirk: So ist es. Lächerlich.
Da dieser Ausdruck nun schon mehrfach bis hierher gefallen ist, frage ich dann mal nach: Habt ihr von der Punk-Polizei auch schon Kommentare zum neuen Album bekommen?
Elf: Ja, klar. Aber nur sehr spärlich. Es gab Sprüche zu „Unsere Lieder“ wie: Das klingt ja nach BROILERS und DIE TOTEN HOSEN!
Das ist in Deutschland derzeit ja der am liebsten gewählte Vergleich.
Elf: Ja, aber in diesem Fall ist das wirklich totaler Blödsinn. Wie kann ein Song, der von den WIPERS inspiriert ist, nach den BROILERS oder den Hosen klingen?
Dirk: Aber 90% der Reaktionen sind gut. Das muss man festhalten. Vor allem von „Sie wollen wieder schießen dürfen“, dem Song zur AfD, waren und sind alle begeistert. Den finden alle geil.
Was meint ihr: Hört die Punk-Polizei SLIME noch?
Dirk: Das ist die Frage ... Vorletztes Jahr haben wir in Berlin gespielt und ich ging nach dem Gig in eine Kneipe, den Trinkteufel. Da saß ein Pärchen, das war wie aus dem Klischee-Ei hoch dreitausend gepellt. Alles aus dem Katalog. Und die drücken mir eine Diskussion auf, ob wir denn noch Punk wären ... Ich habe ihnen dann einfach irgendwann gesagt, dass das letzte Album, das ich mir gekauft hätte, „Best Of Pink“ war, haha. Da sind gute Songs drauf. Aber was ich damit sagen will: Mir macht es Spaß, aus solchen Situationen einen Witz zu machen. Ganz ehrlich, wenn uns jemand nicht mehr für Punk hält, dann interessiert mich das einfach nicht. Diese Leute hören uns ohnehin nicht mehr. Und das ist in Ordnung. Die sollen doch hören, was sie wollen, wenn sie uns nicht mögen. Von mir aus Ufftata-Kram. Völlig egal.
Sind SLIME hinsichtlich Image und Attitüde denn noch Punk oder Teil der Punk-Szene?
Dirk: Wir haben immer unsere eigene Definition als Band gehabt. Mit der Szene selber haben wir gar nicht mehr so viele Berührungspunkte. Und so viele Punks gab es 1983 ja auch gar nicht.
Elf: Ist heute doch nicht anders. Es gibt in jeder Stadt ein paar Personen, aber eine riesige Szene war das noch nie. Wo finden denn seit jeher diese ganzen D.I.Y.-Konzerte statt? In kleinen Läden. Und da kommen an einem Abend Bands aus den USA, England, Italien und noch ein lokaler Support. Die kriegen dann 100 Euro in die Hand gedrückt, Spritgeld bis zum nächsten Auftrittsort. Das Ganze ist noch nicht mal ausverkauft. Da kommen meist keine hundert Zuschauer, das war es dann. Soll heißen: Die Szene ist megaklein. Und das war schon immer so. Aber dieses Punkrock-Ding hat uns ja auch nie wirklich interessiert. Das war vielleicht mal so, ehe wir die Band hatten, 1977, 1978. Da haben wir das nachgemacht, was wir zuvor bei Johnny Rotten gesehen hatten.
Christian: Ich erinnere mich noch: 1980 dachte ich schon in Hamburg, als es da einige Leute mit Lederjacken und Iros und gefärbten Haaren gab: Was ist hier los? Das ist doch genau die Uniformierung, die wir eigentlich immer ablehnen. Da habe ich mir gleich aus Protest die Haare wachsen lassen.
Dirk: Es existiert noch eine Aufnahme aus unserer Anfangszeit, da schreit einer aus dem Publikum: „Hol’ mal den Langhaarigen von der Bühne!“ Haha, wir waren damals schon der Protest.
Elf: Man muss sich doch nur einmal die Rückseite des „Yankees raus!“-Covers ansehen. Das Foto ist um 1981 herum entstanden. Da ist ja unter anderem auch Rodrigo González von DIE ÄRZTE drauf. Aber da findest du kaum jemanden, der wie der typische Punk aussieht. Unsere Leute waren kaum punkmäßig gestylet.
Dirk: Wir sind nun einmal tatsächlich so etwas wie die Nachfolgeband von TON STEINE SCHERBEN. Das heißt: Wir haben die Leute immer über die Inhalte unserer Songs angesprochen, nicht über eine punkmäßige Attitüde, ein punkmäßiges Outfit oder die Musik. Und wenn ich heute von der Bühne runterschaue, dann sehe ich mehr Metalheads als Klischeepunks. Vielleicht sind wir denen schon wieder zu politisch. Zu intellektuell.
Christian: Man darf sich nicht begrenzen. Schau mal: Ich habe 1983 schon HipHop gehört, Grandmaster Flash, PUBLIC ENEMY ... Diese ersten kommerziellen Sachen. Das fand ich super. Aber ich war auch großer LEVEL-42-Fan, haha. Punk stand nie allein im Mittelpunkt.
Elf: Und das ist gut. Es ist doch total beschissen, wenn du immer nur den gleichen Mist hörst. Oder den gleichen Mist machst. Dann landest du eben in der Schublade und bleibst da hängen.
Zum Beispiel in der Schublade „Deutschpunk“ ...?
Elf: Zum Beispiel. Ich war mal mit den MIMMI’S unterwegs, da quatschte mich ein Typ backstage zu, wie toll er SLIME finde und dass er ja überhaupt nur Deutschpunk höre. Unglaublich ... Ich meine: Was ist das denn für ein Musikgeschmack? Was ist das denn bitte schön für eine Bandbreite? Kleiner geht es doch nicht. Da braucht man sich ja gar nicht weiter zu unterhalten.
Wie würdet ihr euch selber beschreiben?
Elf: Als Punkrock-Band mit deutschen Texten. Und die Betonung liegt dabei auf „Rock“.
Wie in „Deutschrock“.
Dirk: Haha, genau. Das ist auch so eine Sache ... Wenn du ein gewisses Alter hast wie wir, dann verstehst du das ohnehin nicht: Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich: „Ja, klar. Deutschrock. Die meinen Udo Lindenberg.“ Haha! Völliger Blödsinn. Ich sage mal so: Wir können mit allem leben. Aber nicht mit Deutschpunk oder Deutschrock. Das geht gar nicht.
Würde es SLIME in einer idealen Welt ohne Rassismus und Terrorismus, ohne Trump und Turbokapitalismus noch geben?
Dirk: Eine sehr gute Frage ... Aber die ideale Welt ist gerade schwer vorstellbar.
Christian: Wenn wir konsequent bleiben würden, dann muss ich sagen: Nein. Das wäre nicht vorstellbar. Denn was macht uns aus? Es ist der Widerstand gegen das, was schlecht ist und schlecht läuft. Und wenn das wegfallen würde, dann gäbe es keine Existenzgrundlage mehr für SLIME.
Ein anderes, ein aktuelles und euch betreffendes Thema sind die Proteste gegen G20 in Hamburg. Ihr wart daran beteiligt und seid da sogar aufgetreten. Könnt ihr denen, die nicht vor Ort waren und alles nur durch die Medien mitbekommen haben, sagen, was da wirklich passiert ist und wie ihr das empfunden habt?
Christian: Es ist müßig, danach zu fragen, was wirklich vorgefallen ist. Es geht um die Essenz des Ganzen. Es geht darum: Was passiert jetzt mit all diesen Behauptungen und Wahrheiten und Halbwahrheiten und Bildern? Und da bleibt festzuhalten: Das, was an Protest gegen den Gipfel zusammenkam, egal ob von links oder rechts, hat die Medien dominiert. Die Welt weiß jetzt einmal mehr, dass es sehr, sehr viele Menschen gibt, die mit diesem Mist völlig unzufrieden sind. Das ist schon mal gut. Das ist nicht selbstverständlich. Und wenn man jetzt ins Detail geht und sieht, dass da auch Menschen hinkamen, unter anderem aus Italien und Griechenland, die man in Hamburg und Berlin bei Protesten so noch nicht kannte, dann muss man schon sagen: Es ist vieles eskaliert, weil diese Leute auf ihre Weise demonstriert haben. Das Ganze hat dadurch ein ganz anderes Level erreicht – in einer Stadt, in der das normalerweise anders gemacht wird. Kurzum: Da ist auch Scheiße passiert. Aber das gilt auch für die andere Seite.
Elf: Eben. Es gab teilweise massive Gewalt seitens der Polizei. Eine massive Provokation bei der „Welcome To Hell!“-Demo. Da hieß es vom Innensenator zwar nur: „Jaaaa, Moment. Die Demonstranten wollten ja auch ganz klar Gewalt ausüben.“ Und es wurde viel vom „Schwarzen Block“ geredet. Und natürlich waren da Leute dabei, die entsprechend gekleidet und vermummt waren. Aber das macht man dann eben durchaus so, einfach um nicht erkannt zu werden. Auf Demos wird man ja die ganze Zeit gefilmt und überwacht. Und dann wundern sich die Menschen allen Ernstes darüber, dass manche Demonstranten später ausrasten.
Christian: Es gibt ja nicht umsonst Theorien, die besagen, dass solche Ereignisse, ein solches Aus-dem-Ruder-Laufen, mit der Unfähigkeit der Polizei zu tun haben. Die Polizei ist nicht in der Lage, mit derlei komplexen Situationen, die etwas heikler sind, umzugehen. Das geht auf die Zeit von Ronald Schill als Innensenator zurück. Der hat das Vorgehen der Polizei damals ja schon auf eine Trump-mäßige Art und Weise so vereinfacht, dass das mit der Deeskalation gar nicht funktionieren kann.
Dirk: Letztlich muss man doch mal einen Schnitt machen, innehalten und festhalten: Was ist denn in Hamburg überhaupt passiert? Hamburg hat die Herrschenden der Welt eingeladen. Und damit lädt man sich logischerweise – und völlig zu Recht! – auch den Gegenprotest ein. Woraus bestand dieser Gegenprotest nun? Aus der „Welcome To Hell!“-Demo. Die wurde unter wirklich massiver Polizeigewalt zerschlagen. Die journalistische Freiheit wurden außer Kraft gesetzt. Ein offiziell von einem Hamburger Gericht genehmigtes Lager der Demonstranten auf der Elbinsel Finkenwerder wurde brutal geräumt. Also ging die Gewalt doch ganz klar von der Polizei aus. Sie haben sie reingetragen in die Demonstration. Sie wollten die Gewalt haben. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist nun folgender: Was ist später geschehen? Ja, ich finde es scheiße, die eigenen Viertel zu demolieren. Das sind unsere eigenen Leute. Das sind Linke. Das sind Menschen, die irgendwie über die Runden kommen wollen. Und diese Eigendynamik, die sich da entwickelte, ist zum Kotzen. Aber wo kam die Scheiße denn her? Da waren Leute, Christian erwähnte es, aus Italien oder Griechenland, die sind ganz andere Sachen, ganz andere Demonstrationen gewohnt. Es gab zudem diesen typischen 1.-Mai-Tourismus der Art „Hooligans auf Speed“ aus den Vorstädten. Und dann lassen die Cops das laufen, während sie die Leute, die mit den Zügen ankommen und friedlich demonstrieren, wie im Krieg begrüßen?!
Fakt ist: Es gab brennende Autos, eingeworfene Fensterscheiben. Das finde ich persönlich nicht, nun ja, harmlos ...
Dirk: Der Typ von N24 stand da mit dem Kamerateam vor einem Feuer. Ich wiederhole: einem Feuer! Und der will mir stundenlang erzählen, dass es da Gewaltexzesse gab?! Entschuldige bitte! Auch wenn es nach „Großvater erzählt von 1718“ klingt, aber: Darüber hätten wir damals in der Hafenstraße gelacht! Da hätten wir gefragt: „Sorry, aber wo ist denn hier der Gewaltexzess? Ich sehe den einfach nicht.“ Ja, es ist viel Scheiße passiert. Aber jeder da draußen nimmt sich jetzt das Recht heraus, die umfassende Deutungshoheit darüber zu haben, wie das gelaufen ist. Und dem Hamburger Senat liefert das jetzt den lange gesuchten Vorwand, um die Flora zu räumen. Und das obwohl die Flora die Türen zugelassen und nur von der Polizei verletzte Leute reingelassen hat. Die hatten gar keinen Bock auf die Gewalt.
Christian: So ein Gipfel ist ja auch eine fragwürdige Angelegenheit. Er ist völlig abstrakt. Man sieht keinen von denen, die sich da treffen. Die lassen sich nicht blicken. Es geht um ein paar Vollpfosten, die mal gut gemeinsam essen und in die Elbphilharmonie gehen wollen. Und dann gibt es eben jede Menge Widerstand gegen dieses Abstrakte. Und es gibt den Widerstand gegen den Widerstand. Und all das wird dann zu einem Event aufgebauscht. Ein Freund von mir, ein professioneller Fotograf, hat ein wunderbares Foto geschossen: Links stehen die Polizisten im Kostüm, in Kampfmontur. Ihnen gegenüber der Schwarze Block. Und drumherum steht das Publikum. Da wird ein Krieg, ein Kampf geradezu inszeniert und in einer Spirale aufgepeitscht. Aber die eigentliche Schlacht, die findet hinterher im Internet statt.
Dennoch, es gab die Gewalt. Und ich stelle einmal die Behauptung auf: Gewalt ist der falsche Weg.
Dirk: Das ist auch so eine Sache. Es werden jetzt Diskussionen aufgemacht über die Gewaltfrage. Und deren Legitimation sehe ich anders. Ich sage: Wenn die Herrschenden der Welt sich wie in diesem Falle treffen, dann ist das für mich schon ein Akt der Gewalt, der entsprechend auch eine Reaktion hervorruft. Aber das Problem in Hamburg war: Diese Reaktion, diese Gewalt war nicht zielgerichtet. Weißt du: Ich komme aus einer militanten Bewegung. Wir haben als Band dieser Bewegung ja sogar den Soundtrack geliefert. Aber damals ging es um feste Gebäude, die wir verteidigen oder plattmachen wollten, weil es um das Wohl unserer Kinder und Kindeskinder ging. Das war ganz klar zielgerichtet. Warum wurde beim Gipfel die Energie, die in die Randale im Schanzenviertel gesteckt wurde, nicht dazu genutzt, zu den Messehallen als dem Treffpunkt der Gipfelteilnehmer durchzubrechen? Das hätten wir damals versucht. Und zwar so, dass den Mächtigen zumindest der Arsch auf Grundeis geht. Ich habe in den Achtzigern beim AKW Brokdorf auf dem Zaun gestanden. Da waren 40.000 Leute, die wollten das Ding auseinandernehmen. Das war zielgerichtete Militanz auf einem sehr hohen Niveau. Und wir haben damals mit SLIME in Berlin bei der Ankunft des damaligen amerikanischen Außenministers Alexander Haig vor dem Roten Rathaus in Schöneberg gespielt. Wir waren bis auf 100 Meter an ihm dran. Und ich weiß von Journalisten, unter anderem von der taz, dass ihm und seiner Abordnung der Arsch tatsächlich auf Grundeis ging. Darum geht es! Er hat – als Adressat – den Protest gespürt. Und es macht mich darum umso wütender, wenn in Hamburg einfach grund- und ziellos randaliert wird.
Christian: Ich sehe das mit der Gewalt bei diesem Gipfel kritischer. Wäre es gelungen, die Speerspitze des Protestes in die Flanke des Gipfels zu treiben, weiß trotzdem niemand, ob das etwas genützt hätte. Es bleibt zweifelhaft. Wäre es nicht viel besser, mit direkten Aktionen etwas zu machen? Mit Gruppen, die mit Demos gegen Lohn-Dumping protestieren? Die sich Hammer und Zange schnappen und alte, marode Spielplätze für die Kinder selber auf Vordermann bringen? Aber das ist eben ein Protest, für den man sehr dicke Bretter bohren muss. Das ist Arbeitskampf. Das ist kein Partyprotest, für den man mal nach Hamburg fährt und bei dem man weiß, dass man es im gleißenden Scheinwerferlicht vielleicht sogar in die Tagesschau schafft.
Dirk: Ich habe einfach eine andere Definition von Gewalt. Und somit auch eine andere Definition von Gegengewalt.
Und wirst als Linker nach Hamburg dafür härter angegangen als jemals zuvor ...
Dirk: Ich habe das nun einmal verinnerlicht und für mich definiert, seitdem ich 16 bin. Auch mit SLIME. Aber nimm einen Song wie „A.C.A.B.“. Natürlich richtet der sich nicht gegen irgendeinen Kripo-Beamten, der versucht, einen Kindervergewaltiger, einen Mörder zu kriegen. Songs wie dieser haben sich immer nur gegen die uniformierte Polizeigewalt gerichtet. Das ist doch klar! Das muss man alles immer differenzieren. Aber das wollen einige Leute eben nicht. Die wollen alles schön schwarzweiß sehen. Genauso funktioniert ja letztendlich auch die Bild-Zeitung.
Elf: Und die nächste Folge ist dann dieser ungeheuerliche Vergleich von linksextrem und rechtsextrem, bei dem die Anzahl der angeblichen Opfer gegeneinander aufgerechnet werden. Zahlen, die ganz offensichtlich gefälscht sind. Aber das spielt natürlich auch Parteien wie der CDU vor der Wahl schön in die Karten.
Das stimmt. Wer links ist, gilt spätestens jetzt als geächtet. Und dem Land geht dadurch ein wichtiges Korrektiv in der politischen Meinungsbildung verloren.
Elf: So ist es. Leider. Aber hinzu kommt ja auch, dass es mittlerweile völlig unklar ist, wer heutzutage überhaupt noch zur politischen Linken gehört. Die Linkspartei? Splitterparteien wie die MLPD? Das ist doch ein Witz. Und aus der SPD spricht doch auch nur noch rechtes Spießertum. Eine klare Abgrenzung zur CDU gibt es nicht.
Welche Fehler hat die Linke in der Vergangenheit gemacht, dass sie nun in dieser Lage ist?
Dirk: Oha, zu diesem Thema könntet ihr eine Sonderausgabe des Ox machen.
Dann kürze ich mal ab: Ihr gebt auf eurem neuen Album in Songform die Empfehlung: „Let’s get united“.
Christian: Genau darum geht es auch. Die Frage „Was ist links?“ ist ja schon länger das Problem. Und warum? Weil ein gemeinsamer Widerstand unmöglich gemacht wurde. Die verschiedenen linken Gruppen zerfleischen sich gegenseitig. Darum gehört „Let’s get united“ auch zu den wichtigsten Songs auf unserer neuen Platte. Es gibt vielleicht kein Universalrezept, um diese Misere zu beheben. Aber es hilft schon mal, dieser Tendenz entgegenzuwirken, die über Konsum- und Technikwahn zu einer Individualisierung und Vereinzelung geführt hat. Jeder meint, sich im Internet und den Medien möglichst breitmachen zu müssen, weil er nur dann glücklich werden kann. Dabei macht man sich dadurch noch viel angreifbarer. Wir müssen wieder zueinander finden.
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