SPRAY PAINT THE WALLS

Stevie Chick

Wollte man sich bislang in Buchform mit BLACK FLAG beschäftgen, blieb nur Michael Azzerads „Our Band Could Be Your Life“, das die 1976 in Hermosa Beach gegründete Band um SST-Labelboss Greg Ginn im Kontext von Freunden und Zeitgenossen wie MINUTEMEN, HÜSKER DÜ, MINOR THREAT, DINOSAUR JR.

und SONIC YOUTH abhandelt, sowie „American Hardcore“. Der Musikjournalist Stevie Chick, der zu jung ist, um die 1986 aufgelöste Band aktiv begleitet zu haben, hat sich nach seiner SONIC YOUTH-Biographie „Psychic Confusion“ in den Jahren 2008 und 2009 ausgiebig mit dem Phänomen BLACK FLAG auseinandergesetzt und aus seinen Recherchen und Interviews ein über 400 Seiten dickes Monstrum geschaffen.

Mit BLACK FLAG geht es hier sowohl exemplarisch wie im Detail um eine Band, die in den Vororten von Los Angeles mit den Auswirkungen der Hippie-Nachwehen, Seventies-Rock-Gigantomanie und Polizeigewalt gleichermaßen zu kämpfen hatte – nicht zu vergessen die menschlichen Faktoren wie Neid, Missgunst, Drogen, Alkohol und Adoleszenz.

Die Band um Greg Ginn und Chuck Dukowski schaffte es, abseits der etablierten Szene von Hollywood ihr eigenes Projekt einer an maximaler Härte orientierten Band durchzuziehen, gegen alle Widrigkeiten, und neben Bands wie YOUTH BRIGADE in L.A., DEAD KENNEDYS in San Francisco, MINOR THREAT in Washington, D.C.

und D.O.A. in Vancouver zu Pionieren des Hardcore zu werden, die für Generationen von Bands nach ihnen jene Touring- und Szene-Strukturen etablierten, die für sie schlichtweg nicht vorhanden waren.

Dazu gehört auch das von Greg Ginn gegründete Label SST, auf dem fast alle BLACK FLAG-Platten erschienen sind. Stevie Chick widmet sich in seinem sehr detailreichen Werk jedem einzelnen Bandmitglied, vor allem aber Greg Ginn, Chuck Dukowski, Bill Stevenson, Kira Roessler, Chuck Biscuits und Roberto „Robo“ Valverde“ sowie den Sängern Keith Morris (1976–1979), Ron Reyes (1979–1980), Dez Cadena, (1980–1981, 2003) und natürlich Henry Rollins (1981–1986).

Chicks konnte dabei in vielen Fällen auf eigene Interviews zurückgreifen, oft zitiert er aber auch aus Interviews anderer, da wohl nicht jeder der damals Beteiligten übermäßig auskunftsfreudig war.

Chicks Verdienst ist es, einerseits BLACK FLAG in ihrer Rolle als Pioniere und Stil-Ikonen zu würdigen, andererseits aber auch die Konflikte und Widersprüche aufzuzeigen. Speziell Band-Diktator Greg Ginn kommt hier bei genauem Lesen zwischen den Zeilen nicht wirklich gut weg: Einerseits wird klar, wie visionär und besessen Ginn seine musikalischen Ziele verfolgte, wie klar seine Vorstellung von seinem Label in der Frühphase war, aber aus den Aussagen enttäuschter Wegbegleiter wie Kira Roessler, Chuck Dukowski oder Bill Stevenson wird auch klar, dass Ginn ein manipulativer Egomane ist, der BLACK FLAG letztlich auch deshalb auflöste, weil er mit Henry Rollins eine gleich starke Person in der Band herangezogen hatte, die seiner Kontrolle entglitten war – er konnte Rollins nicht mehr feuern.

Wer immer BLACK FLAG sklavisch verehrt, sollte dieses Buch nicht lesen, denn es zerstört auch ein idealisiertes Bild, macht klar, wieviel Blut, Schweiss und Tränen in dieser Band steckten.

Chicks ist es überdies gelungen, aus zweiter Hand ein beeindruckendes Portrait der US-Suburbia-Gesellschaft der späten Siebziger zu zeichnen, in der so viele Wurzeln der Punk- und Hardcore-Szene liegen – ohne diese zu kennen, ist ein Verständnis der aus dieser hervorgehenden Bands aus europäischer Sicht nicht möglich.

Einziger negativer Aspekt dieses Buches sind die sehr detaillierten Beschreibungen der Musik von BLACK FLAG seitens Chick, bei der er oftmals zu floskelhaft vorgeht. Deshalb: Essentieller Lesestoff, sofern man der englischen Sprache halbwegs mächtig ist.