TOCOTRONIC

Pure Vernunft darf niemals siegen CD/2LP

Kein weiteres Ausufern, kein Fortführen der Alben "K.O.O.K" und "Tocotronic", sympathisch anmaßend auch als "das weiße Album" bekannt. Geradezu als Paradox mag es da erscheinen, dass man nun zu Viert unterwegs ist.

Wäre mit Rick McPhail als zweiten Gitarristen doch ein weiteres Studioalbum möglich gewesen, das sich aufgrund der Komplexität live nicht mehr hätte umsetzen lassen, so wie es die letzten beiden Alben halt auch kaum noch waren.

Ein einfaches Zurück ist es aber auch nicht, es fängt nicht wieder alles von vorne an, könnte man sagen, wollte man besonders witzig sein und sich als TOCTOTRONIC Kenner ausgeben. Witzigkeit, in der tocotronischen Form der überspritzten Alltagsbeobachtungen und Nonsens-Aussagen, und pubertäre Rebellion - die doch aber auch immer bewusst pubertär gesetzt zu sein schien - werden also nicht zu neuem Leben erweckt.

Musikalisch gibt es eine Rückbesinnung zum Rock, ohne den schrillen Dilettantismus, aber alles wirkt wieder kompakter. Der erste Track "Aber hier leben, nein danke" erscheint im Vergleich zu den letzten Alben geradezu simpel gestrickt und eröffnet ziemlich eingängig ein Album, das sich im folgenden Verlauf dann doch nicht so einfach offenbaren möchte, obwohl alles so transparent wirkt.

Man muss sich also nicht reinknien, um ein Verständnis zu erzielen, das kommt mit wiederholten Durchläufen von ganz allein. Auf die Texte aus der Feder von Lotzows trifft dies hingegen gar nicht zu, noch kryptischer, noch verschlossener gestaltet und für Interpretationen ziemlich offen.

Eine Zeile wie "Aber hier leben, nein danke" mag man als bewusste Absage an die neue deutschsprachige Wohlfühlmusik verstehen, die mit großem Pathos einen neuen Patriotismus predigt und am liebsten auch TOCOTRONIC, DIE STERNE und BLUMFELD ins Boot holen würde.

Laut Bekunden der Band ist dies auch so gemeint. Und mit "Gegen den Strich" findet man für die neuen lyrischen Verhältnisse TOCOTRONICs ungewohnt klare Worte. Doch kann sich auch der Trainingsjacken tragende Oberstufenschüler in Zeilen wie "vor den Spießern auf der Flucht" wiederfinden, ohne sich dabei an dem Bundesadler auf der Brust seiner Bundeswehrtrainingsjacke zu stören.

Natürlich möchte man auch keine plakativen Parolen von den Hamburgern hören. Und vielleicht hat auch gerade die Erwartungshaltung einiger Kreise diesbezüglich die Band Abstand davon nehmen lassen, hier deutlicher zu werden.

Aber etwas mehr Direktheit hätte dem Album auch nicht gerade geschadet. So bleibt immerhin ein Abtauchen und Kopfzerbrechen über die Gedankenwelt des Texters möglich, die dann letztendlich doch nicht durchleuchtbar scheint.

Hier gibt es keine auf Festivals mitgrölbaren Refrains, keine Zeilen mehr, an denen man sich festhalten kann, keine simpel Sinn stiftenden Inhalte, die zu seltsamen Verbrüderungsszenen vor der Bühne führen, sondern eine Verweigerungshaltung, die in Zeiten, in denen Kritik als Nörglerei abgewertet wird, vielleicht die einzig richtige Antwort ist.

Vielleicht haben TOCOTRONIC somit wirklich eine Antihaltung geschaffen, die in den Chor der neuen Vaterlandsliebe und Schlussstrichdebattenzieher nicht nur schrill hineinruft und intelligent widerspricht, sondern den Chor auch zum Verstummen und Zuhören bringt.

Vielleicht, es wäre zu schön. (8)