Wenn man sich über die Hintergründe der Dreyfus-Affäre informieren will, einem Justizskandal, der die französische Politik und Gesellschaft in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts tief spaltete, kann man sich natürlich durch seitenlange Wikipedia-Artikel arbeiten, und kann das Ganze dann in historischer Hinsicht perfekt einordnen. Wer es in Form eines Polit-Thrillers etwas unterhaltsamer haben möchte, kann sich die Geschichte des Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus, der 1894 durch ein Kriegsgericht in Paris wegen angeblichen Landesverrats zugunsten des Deutschen Kaiserreichs schuldig gesprochen wurde und von 1895 bis 1899 auf der als Strafkolonie genutzten Teufelsinsel inhaftiert war, auch von Roman Polanskis aktuellem Film „Intrige“ („J’accuse“) erzählen lassen. Allerdings handelt es sich dabei um eine fiktionalisierte Version der Dreyfus-Affäre, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Robert Harris, dessen Buch „Ghost“ Polanski 2010 als „Der Ghostwriter“ verfilmt hatte. Polanski war es auch, dessen großes Interesse an der Dreyfus-Affäre Harris dazu bewegte, das Buch „An Officer and a Spy“, wie es im Original heißt, überhaupt erst zu schreiben. Wer natürlich Probleme mit den weiterhin im Raum stehenden Vergewaltigungsvorwürfen gegen Polanski hat, muss um „Intrige“ einen ebenso großen Bogen machen wie um die Filme von Woody Allen. Robert Harris hat dazu eine recht klare Meinung und hält die Kritik an Polanski vor allem für ein Problem des veränderten Zeitgeistes. Dennoch wurde Polanskis aufwendige Mischung aus Historiendrama und Enthüllungsgeschichte insgesamt sehr positiv aufgenommen, da der polnische Regisseur mit „Intrige“ auch einiges zu aktuellen Themen wie Antisemitismus und dem Umgang mit Whistleblowern zu sagen hat, und sein Film generell ein Appell für mehr Zivilcourage ist.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #151 August/September 2020 und Thomas Kerpen