Sparen wir uns die üblichen Erläuterungen, wer Shawn, Mark und Adam Stern sind, was die Better Youth Oragnisation bedeutet, warum so viele Menschen leuchtende Augen bekommen, wenn, wie erst gerade wieder geschehen, YOUTH BRIGADE in Europa auf Tour gehen, und empfehlen stattdessen das Lesen, Hören und Sehen von „Let Them Know“, dem Rückblick auf 30 Jahre südkalifornischen Punkrock, um wirklich vollständig verstehen zu können, was Sänger und Gitarrist Shawn Stern hier anhand ihm von uns gegebener Stichwörter zu seiner Band YOUTH BRIGADE und zu BYO zu sagen hat (das Lesen des Interviews mit seinem Bruder Mark in Ox #88 dürfte auch nicht schaden). André Bohnensack
A wie „Another State of Mind“: Ich habe die DVD mit unserem Audiokommentar immer noch nicht gesehen, aber er soll wohl recht witzig sein. Joe Escalante von THE VANDALS und Kung Fu Records warnte uns noch, dass wir dabei bloß immer weiter reden und uns nicht nach ein paar Minuten nur noch den Film ansehen sollen, wie es wohl viele Leute tun. Wenn das so ist, dann sicher nicht bei den drei Stern-Brüdern, die sind nie um ein Wort verlegen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, den Film verfolgt zu haben, wir waren zu sehr damit beschäftigt, uns über jeden darin lustig zu machen.
B wie THE BRIGADE: Rückblickend hätten wir unseren Namen wohl völlig ändern sollen, aber trotz Tim Yohannans Abneigung, die er in seinem Review zu „The Dividing Line“ im Maximumrocknroll zum Ausdruck brachte, denke ich, dass es eine gute Platte war und bin auf die Musik immer noch stolz.
C wie CD vs. Vinyl: Ich bin ein Musikfan, kein Audiophiler. Mir ist es ziemlich egal, in welchem Format Musik verbreitet wird, mir sind gute Songs, gute Melodien und Texte sowie der Gesang und die Musikalität wichtiger. Die Kids nutzen nun mal hauptsächlich Downloads und wer kann ihnen das schon verübeln. Warum Energie und Material in physische Tonträger verschwenden, wenn man sich die Musik einfach auf seinen Computer oder seinen iPod laden kann? Wenn sie nun noch einsähen, dass, wenn sie für Musik nicht bezahlen, die Musiker keine mehr machen können, dann wären wir alle besser dran.
D wie Do It Yourself: Gibt es einen anderen, besseren Weg? Ohne D.I.Y. wäre Punkrock mit den frühen – und großartigen, verstehe mich da niemand falsch – Bands aus New York und England gestorben, die ihre Musik zum größten Teil bei Majorlabels veröffentlichten. Glücklicherweise waren wir Teil einer großartigen Gemeinschaft, die festgestellt hatte, dass wir keine Majors und keine Musikindustrie brauchen, um Musik zu machen. Und 30 Jahre später sind wir immer noch da und machen immer noch alles selbst.
E wie Europa 1984: Das war ein Abenteuer! Es gab kein Internet, wir buchten die Tour per Post und sehr kurzer Ferngespräche, was sehr viel Geld gekostet hat – zu dieser Zeit wurde der Großteil der „credit card callings“ betrieben. Es gab noch keine Handys, wir haben Telefonzellen benutzt und mussten in Polen unsere Gespräche regelrecht vorbestellen, als wir dort für zwei Wochen gestrandet waren und festsaßen. Das war zu einer Zeit als Solidarnosc gegen die Regierung kämpfte und der Priester Jerzy Popie?uszko Ende Oktober 1984 entführt und in einem Stausee vom Staatssicherheitsdienst ertränkt wurde. Verrückt!
F wie „No future“: Wir befinden uns übrigens gerade mitten im sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte. Alle bisherigen wurden von Naturgewalten verursacht, von Meteoren, Vulkanausbrüchen oder Erdbeben, die drastische Klimaänderungen an Land und im Meer verursachten. Jetzt aber sorgen wir selbst dafür, indem wir alles konsumieren und zerstören, was uns in den Weg kommt. Ja, wir töten uns selbst und die meisten Menschen sind zu dumm, das zu erkennen, oder es interessiert sie einen Scheißdreck. So betrachtet, hatte Mr. Lydon mit seiner Aussage wohl recht, also warum nicht weiterhin Scheiße an hirnlose Schafe verkaufen.
G wie Godzilla’s: Ein großes Experiment, was zum großartigsten Punk-Club in Los Angeles hätte führen können. Für ein paar Monate war das ein toller und wilder Trip, aber es hat nicht funktioniert. Wir haben uns weiterentwickelt. Manche Leute taten das nicht, aber die wussten eh nie, was zur Hölle um sie herum passierte. Du kannst nicht in der Vergangenheit leben, du sollst dich an sie erinnern und dann weitergehen. Die berühmte Zeile „what have you done for me lately!“ sollte ja bekannt sein.
H wie (musikalische) Helden: Jimi Hendrix. Ich hätte ohne ihn niemals eine Gitarre angefasst und angefangen, Songs zu schreiben. Ich wünschte nur, ich hätte die Chance gehabt, ihn live zu sehen.
I wie Ideologie: Leben und leben lassen. Genieße jede Sekunde jeder Minute jeder Stunde jeden Tages. Denn du wirst zwar nie wissen, wann du gehen musst, aber irgendwann wirst du gehen.
J wie jüdisch: Etwas Kulturelles für mich, nichts Religiöses. Organisierte Religion ist eines der übelsten Dinge, die Menschen je geschaffen haben. Wie viele Menschen müssen noch im Namen der Religion sterben? Es ist einfach absurd. Wenn es einen „Gott“ gibt und ich wüsste nicht, dass es einen gäbe, warum sollte es jemals okay sein, in seinem Namen zu töten? Das ergibt für mich keinen Sinn. Es gibt wohl einen Grund, warum so viele Juden so witzig oder erfolgreich sind; wenn du erst mal durch so viel Scheiße gegangen bist, wie wir es sind, dann musst du schon sehr entschlossen und einfallsreich und in der Lage sein, über all das lachen zu können. Das Judentum, zumindest in der Form, wie ich erzogen wurde, legt sehr viel Wert auf Bildung, das Hinterfragen von allem und selbstbestimmtes Denken. Und das ist auch ein großer Teil von dem, was Punkrock für mich bedeutet.
K wie Kalifornija: Eine der großartigsten Gegenden der Welt! Es gibt wohl nicht viele Orte, wo du morgens surfen, nachmittags snowboarden und abends auf ein Punk-Konzert gehen kannst. Wir hatten in den letzten 30 Jahren die größte Punkrock-Szene der Welt und ein paar der besten Bands und Labels. Wie man hier in Amerika gerne sagt: So wie es in Kalifornien läuft, so läuft es später auch im restlichen Land.
L wie „Let Them Know“: Downloads machen Labels obsolet? Filme und Bücher widmen sich der Geschichte der Punkrock-Szene und ignorieren dabei Südkalifornien praktisch völlig? Unseren 25. Geburtstag feiern? Hm, lass uns doch eine Compilation machen, eine Dokumentation drehen, das Ganze in einen Bildband packen und während der größten Wirtschaftskrise seit der großen Depression veröffentlichen! Das Ding ist großartig geworden, ich bin sehr stolz darauf, und falls du es noch nicht gesehen hast, solltest du es dir unbedingt ansehen. Und unser Song „Let them know“ auf der Split-LP mit SWINGIN’ UTTERS ist auch nicht übel.
M wie Männer in Blau: Sie konnten uns nie leiden, wir waren „Spinner, Verrückte, Freaks, Bekloppte“, aber wir haben uns nichts gefallen lassen und sind deswegen häufig in Kämpfe mit ihnen geraten. Sie wollten, dass wir verschwinden, sie haben unsere Konzerte in voller Kampfmontur mit Gewalt abgebrochen, sie haben den Clubs befohlen, uns nicht mehr spielen zu lassen, so dass wir unsere eigenen Läden gesucht und unsere Konzerte selbst veranstaltet haben. Heute ist alles einfacher, jeder hat bunte Haare und Tattoos, selbst die Bullen. Wir haben jetzt keine großen Probleme mehr mit ihnen, aber das kann sich jederzeit wieder ändern.
N wie NOFX/RANCID: Diese Split-LP war unsere absolut größte Veröffentlichung und ich bin beiden Bands sehr dankbar, uns damit geholfen zu haben. Das baut meinen Glauben wieder auf, dass die Punk-Szene wirklich eine Gemeinschaft ist, in der man sich gegenseitig hilft. Das gilt auch für die „Let Them Know“-Box, wir sind gerührt über die Unterstützung, die wir überall für das erhalten, was wir tun.
O wie Better Youth Organization: Nur ein paar idealistische Kids, die der Welt zeigen wollten, dass wir eine positive Veränderung anstreben. Und 30 Jahre später hoffen wir immer noch, jeden davon überzeugen zu können, dass jeder machen kann, was er will, und damit etwas verändern kann.
P wie Punk Rock Bowling: Das war anfangs bloß eine Ausrede, um eine Party für all unsere Freunde zu veranstalten und Bowling ist zudem wirklich einfach und Las Vegas steht sowieso für viel Spaß. Mittlerweile ist es ein jährliches Ritual für tausende Punkrocker, die beste Punkrock-Party des Jahres, wie wir es nennen. Wenn du noch nicht dabei warst: worauf zur Hölle wartest du noch?
Q wie „Quincy“ und die legendäre Punk-Episode: Ein weiterer Versuch der Mainstream-Medien, Punkrock als hirnlose Idiotie darzustellen. Typischer Hollywood-Mist.
R wie ROYAL CROWN REVUE: Zuerst war das noch coole Swingmusik, die mit Punk-Attitüde und im Punkrock-Tempo gespielt wurde und viel Spaß gemacht hat, sich dann aber selbst limitierte. Zerstört von Dummheit, Gier und Kommerz.
S wie Skinhead Manor: Ein vielversprechend gestartetes Experiment des Zusammenlebens, das aber durch die Realität, durch Drogen und faule Vorstadtkinder zerstört und verbrannt wurde – im wahrsten Sinne des Wortes. Penelope Houston hat dann einen dummen Film namens „Suburbia“ gedreht, der entfernt auf dem Leben einiger unserer Mitbewohner basierte. Ein weiterer Hollywoodfilm, der zeigt, dass nichts kapiert wurde.
T wie Toronto: Unsere Geburtsstadt und ein schöner Ort, um aufzuwachsen. Wir hatten eine Eissporthalle in der Schule und wir haben auch zu Hause unseren Hof vereist, um das Schlittschuhfahren fürs Eishockey zu üben. Wir waren traurig, dass wir an einen Ort namens Kalifornien umziehen mussten, von dem wir zu der Zeit gar nichts wussten, aber das hat sich dann schnell geändert. Letztes Jahr haben wir in Toronto beim NXNW gespielt und auch unseren Film vorgeführt. Es ist eine riesige Stadt geworden mit vielen neuen Gebäuden, so wie viele Städte in den letzten zehn Jahren stark gewachsen sind. Ich bin immer stolz darauf, zu sagen: Ich bin ein in Toronto geborener Kanadier!
U wie UPRIGHT CITIZENS: Was für eine großartige Band! Und immer noch eine meiner liebsten Punkbands aus Deutschland. Wir hatten eine Menge Spaß, als sie damals in die USA kamen, da gab es einige legendäre Partys und Konzerte in New York am Ende ihrer Tour. Und ich liebe die Version der CUTE LEPERS von „Future dreams“ auf „Let Them Know“.
V wie Various Artists „Someone Got Their Head Kicked In“ (BYO 001): Unsere erste Veröffentlichung und immer noch eine der besten Punkrock-Compilations überhaupt, wie ich finde, denn sie hat den Zahn der Zeit überstanden und zeigt noch heute gut die Vielfältigkeit der SoCal-Punkrock-Szene von 1982.
W wie The Warehouse: Das war ein großartiger Ort! Jetzt befinden sich dort Eigentumswohnungen, aber damals war das wie ein großer Spielplatz für uns. Es war das erste Mal, dass wir ein richtiges Büro und ein Lager für BYO besaßen, vorher benutzten wir dafür unsere Wohnzimmer. Das war auch zu dem Zeitpunkt, als die „hair bands“ groß wurden und Punkrock in den Untergrund ging. Das Label schlummerte nach der Warehouse-Zeit ein, aber was haben wir dort doch für coole Partys erlebt.
X wie Straight Edge: Irgendwie wurde das zu einer ganz eigenen Art von Religion. Wenn du nicht high werden willst, okay, aber predige nicht. Es gibt schon genug religiöse Fanatiker, die einem zu sagen versuchen, was du tun darfst und was nicht. Für mich bedeutet Punkrock, ein Individuum zu sein und für sich selbst zu denken. Wie ich schon sagte: Leben und leben lassen.
Y wie Youth Movement: Jugend ist eine Einstellung, keine Sache des Alters. Ich kenne 80-Jährige, die sind eigentlich bloß große Kinder, und Teenager, die im Grunde griesgrämige, alte Fürze sind. Ja, wir müssen Verantwortung übernehmen, wenn wir älter werden, aber erwachsen zu werden, heißt nicht aufzugeben. Man kann sich die Leidenschaft für die Dinge, an die man glaubt, bewahren, wenn man älter wird. Es braucht bloß einen Menschen, um „Youth Movement“ am Leben zu erhalten, indem man andere, Junge wie Alte, dazu bringt, den Kampf weiter zu kämpfen. Und wenn wir das nicht tun, wer dann?
Z wie PEZZ: Haha, Probleme, ein Wort mit Z zu finden, oder? PEZZ sind wieder aktiv, haben letztes Jahr in Gainesville beim The Fest eine gutes Konzert trotz einer miesen Anlage gespielt. Eine tolle Band, die viel mehr Leute kennen sollten.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #93 Dezember 2010/Januar 2011 und Shawn Stern, YOUTH BRIGADE
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #47 Juni/Juli/August 2002 und Guntram Pintgen
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #34 I 1999 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #23 II 1996 und Joachim Hiller