WATCHING TIDES

Foto© by Ingo Christiansen

Die perfekte Welle

WATCHING TIDES klingen wie eine dieser Bands, die 2010 wie eine Monsterwelle aus den Staaten zu uns herüber geschwappt sind. Bands wie LA DISPUTE, TITLE FIGHT oder PIANOS BECOME THE TEETH, die diesen typischen Sound zwischen Screamo und Emo machen, der auch mal als „The New Wave of Post-Hardcore“ bezeichnet wurde. Das vor sechs Jahren gegründete Trio aus Berlin passt in diese Riege perfekt hinein und legt nach zwei EPs jetzt sein Debütalbum „We’ve Been So Close, Yet So Alone“ nach, das Ende Mai auf This Charming Man aus Münster veröffentlicht wird. Von zehn Songs voller Emotionen erzählen uns Bassist/Sänger Konrad und Gitarrist Julian.

Wie hat das mit WATCHING TIDES angefangen?

Konrad: Ich habe die Band damals zusammen mit unserem Schlagzeuger Martin gegründet. Wir kennen uns noch aus Proberäumen und Skateparks in unserer Heimatstadt Stralsund an der Ostsee. Irgendwann sind wir dann beide nach Berlin gezogen und haben ganz klassisch per Anzeige nach einem Gitarristen gesucht. Wir haben auch tatsächlich einen Kandidaten gefunden und mit ihm unsere erste EP „Fences“ aufgenommen, der ist danach aber wieder ausgestiegen. Der wurde durch unseren guten Freund Christian ersetzt. Mit ihm zusammen haben wir unsere zweite EP herausgebracht, „These Years Show On My Face“. Der hat uns aber leider auch wieder verlassen und seit drei Jahren ist Julian mit an Bord. Ihn kennen wir, weil wir mit seiner anderen Band ISWH eine kleine Tour gespielt haben. Mit ihm gemeinsam haben wir in den vergangenen Jahren unser Debütalbum geschrieben.

Woher kommt die Begeisterung für diesen Post-Hardcore-Sound, der als „The Wave“ bekannt geworden ist, mit Bands wie MAKE DO AND MEND, TOUCHÉ AMORÉ oder DEFEATER?
Konrad: Bands wie TITLE FIGHT oder BASEMENT waren für mich total prägend. Das sind Bands, die ich seit langer Zeit höre und für immer hören werde. Für mich ist das auf jeden Fall ein Rieseneinfluss.
Julian: Vor ungefähr zehn Jahren bin ich auf die ersten Shows von diesen Bands gegangen. Die haben mich total weggeblasen und befreundete Bands haben sofort versucht, diesen Sound nachzuempfinden. Das ist also für alle von uns die musikalische Sozialisation. Das können wir auch nicht ablegen. Das spielt natürlich auch eine Rolle, wenn man selbst Songs schreibt. Wir haben uns aber nie vorgenommen, den Sound unserer Helden zu kopieren. Unsere Songs sind schon wirklich im Proberaum und im Studio entstanden.

Euer Debütalbum heißt „We’ve Been So Close, Yet So Alone“. Was steckt hinter dem Titel?
Konrad: Das Album beschäftigt sich ganz generell mit Retrospektiven. Ein Rückblick auf vergangene Beziehungen oder Freundschaften. Es geht aber auch um das Verlassen der Kleinstadt und das Ankommen in der Großstadt. Es sind unheimlich viele Aspekte, die in diesen Titel hineinspielen. Grundlegend geht es darum, dass man bei Menschen, denen man früher sehr nah war, merkt, da ist nicht mehr viel, wenn man sich nach Jahren wiedersieht. Nicht mehr viel Substanz. Und man fragt sich: War jemals Substanz da? Es geht auch um einseitige Bindungen zwischen Menschen, um toxische Beziehungen oder Manipulation aus der Perspektive einer Person, die leicht manipulierbar ist. Es geht also vor allem um sehr persönliche Dinge in den Texten.

Ist die Band für euch eine Art Ventil, über das ihr Druck ablassen könnt? Oder eher eine Art geschützter Raum, in dem ihr offen über eure Gefühle reden könnt?
Konrad: Das trifft beides absolut zu. Das ist auch der Grund, warum diese The Wave-Bands so wichtig für uns sind. Das sind alles Bands, die sehr persönliche Dinge in ihren Texten verarbeiten. Dinge, die mich als Fan auch sehr berühren. Bands, die es schaffen, etwas Intimes zu sagen, was auch Menschen, die sie nicht persönlich kennen, sehr nahegeht und etwas auslösen kann. Auch bei uns geht es darum, sich öffnen zu können und sich selbst diesen Safe Space zu schaffen. Diesen Bereich, in dem man solche Dinge verarbeiten kann und weiß, es gibt viele andere Bands, die das genauso machen. Das gibt uns auch die Legitimation, es ähnlich zu machen.

Ihr habt euch ja als Band an Spendenaktionen beteiligt, etwa für Betroffene von Stalking und für Opfer von rassistischer Polizeigewalt. Warum ist euch das wichtig?
Konrad: Als Band haben wir auch eine Verantwortung, finde ich. Das, was wir als WATCHING TIDES rüberbringen, ist ja nicht sonderlich politisch geprägt. Aber wir sind ja alle in dieser DIY-Szene aufgewachsen, in der politische Themen allgegenwärtig sind. Die Szene ist zugleich ein Freiraum für Menschen, die selbst Diskriminierung erfahren haben. Zum Beispiel von häuslicher Gewalt oder von Polizeigewalt. Auch wenn wir selbst davon nicht massiv betroffen sind, ist es uns wichtig, unsere kleine Reichweite als Band zu nutzen, damit solche Projekte unterstützt werden. Das ist uns einfach persönlich sehr wichtig.

Überraschenderweise habt ihr das Album nicht in Berlin aufgenommen, sondern in Hannover. Wie ist es dazu gekommen?
Konrad: Wir waren bei Alex Sickel im Tiny Pond Studio in Hannover. Der hatte uns schon vor vielen Jahren angeschrieben und wollte mit uns arbeiten, weil er unsere Musik so toll findet. Über einige Jahre gab es immer Kommunikation zwischen uns, deshalb haben wir uns entschieden, unser Debütalbum bei ihm aufzunehmen. Wir wollten einfach mit jemandem arbeiten, der schon wusste, wo wir hinwollen. Deshalb waren die Aufnahmen in Hannover für uns fast wie ein Heimspiel. Das Studio ist tatsächlich in einem alten Bunker mitten in Hannover untergebracht, in dem auch jede Menge Bands proben. Wir haben da eine Woche lang in Räumen ohne Fenster gehaust. Es war bitterkalt. Also eine ziemlich intensive Zeit. Hat sich aber auf jeden Fall gelohnt.

Eure ersten beiden EPs sind ja dank ziemlich viel DIY-Spirit erschienen. Nur mit der Hilfe von ganz kleinen Labels. Jetzt seid ihr bei This Charming Man. Warum der Schritt zu einem größeren Label?
Konrad: Eigentlich haben wir nicht viel aus der Hand gegeben. Chris von This Charming Man lässt uns sehr viel Raum, alles selbst zu machen. Für uns ist es aber einfach ein schöner nächster Schritt. Von der Einstellung her sind wir immer noch eine DIY-Band, die einfach ein tolles Angebot angenommen hat. Wir hatten mit den fertigen Demos viele DIY-Labels angeschrieben und Chris hat sich einfach irgendwann gemeldet. Freunde von uns, die Band OAKHANDS aus München, sind auch bei This Charming Man und die haben von dem Label nur geschwärmt. Wir wussten also schon, worauf wir uns einlassen.

Wo in Berlin ist eigentlich euer Kiez? In welchen Vierteln bewegt ihr euch?
Julian: Vor allem im älteren Berlin, also Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Da finden die meisten Konzerte statt. Unser Proberaum liegt weiter draußen in Marzahn.

Und wovon bezahlt ihr eure Miete? Die Einnahmen durch die Band werden vermutlich nicht dafür reichen, oder?
Julian: Ich studiere Erziehungswissenschaften und Soziologie. Deshalb habe ich neben dem Studium viel Zeit, um Musik zu machen.
Konrad: Martin ist Krankenpfleger und arbeitet in Teilzeit in einer Privatklinik. Und ich habe Heilpädagogik studiert und betreue momentan Menschen mit psychischen Erkrankungen in einer WG. Wir sind also alle im sozialen Bereich tätig. Das bringt natürlich viele Vorteile, wenn es ums Touren geht. Wir können uns unsere Zeit ganz gut einteilen und sind nicht nur auf die Wochenenden angewiesen.

Wie promotet ihr euer Debütalbum in Corona-Zeiten? Das ist ja aktuell nicht so einfach. Ein rauschendes Release-Fest wird es vermutlich nicht geben.
Konrad: Besonders kreativ sind wir da nicht, muss ich zugeben. Wir machen einfach alles, was möglich ist. Ohne live zu spielen eben. Das ist natürlich ein bisschen tricky. Wir produzieren zusammen mit dem Kölner Künstler Lars Köppl Musikvideos. Wir wollen dann auch eine Live-Session im Sunsetter Recording Studio in Bremen aufnehmen, wenn es die Pandemie erlaubt. Und natürlich versuchen wir, so viel Online-Promo wie möglich zu machen. Aber wir hoffen natürlich, dass es bald wieder möglich ist, Konzerte zu spielen.