Schon seit über zwanzig Jahren lärmen VICTIMS aus Schweden mit Anspruch und Hirn, stumpfe D-Beat gibt es woanders. Nun steht mit „The Horse And Sparrow Theory“ via Relapse ein neues Album an. Wir sprachen darüber mit Gitarrist Gareth und Schlagzeuger Andy.
Wer hatte die Idee für den Albumtitel „The Horse And Sparrow Theory“?
Gareth: Die Idee zu dem Albumtitel hatten wir schon lange – bevor wird überhaupt ernsthaft angefangen haben, Songs zu schreiben. Es verweist auf die sehr bekannte neoliberalistische Ideologie der Trickle-down-Ökonomie, die schon lange existiert hat, aber erst von Ronald Reagan wieder populär gemacht wurde und heute in der westlichen Gesellschaft fast hegemonial ist. Es geht darum, dass die Reichsten in der Gesellschaft freie Hand haben, um auf dem Rücken der Arbeiterklasse absurd hohe Geldbeträge zur freien Verfügung zu generieren. Die Idee ist, dass die Konsumgewohnheiten der Reichen in der übrigen Gesellschaft irgendwie zu Wachstum führen, da die Reichen nur eine bestimmte Menge konsumieren können und das, was übrig bleibt, durch die Gesellschaft in die unteren Schichten fällt. Das konkrete Beispiel ist ein Pferd, dem alle Nahrung gegeben wird, die es fressen kann, und die Spatzen dürfen die Krümel ihrer Abfälle oder sagen wir lieber die Scheiße durchsuchen. Das Problem ist, dass die Spatzen, die für die unteren Klassen stehen, heute immer noch die Scheiße der Reichen durchsuchen müssen, um sich davon zu ernähren. Ich habe über diese Theorie nachgedacht, und wie sie auf die globale Gesellschaft zutrifft, in der wir heute leben, und wie sie auf die Klimakatastrophe angewendet werden kann, mit der wir konfrontiert sind. Es sind vor allem unsere westlichen Konsumgewohnheiten, die die Gestaltung der Gesellschaft in den Entwicklungsländern bestimmen und die in erster Linie die Zerstörung dieser Teile der Welt verursachen
Wer hat das Artwork, eine Interpretation der Theorie, gestaltet?
Gareth: Jack Ankersen, ein toller Tätowierer hier aus Stockholm. Er hat Andy schon einige Male tätowiert und deshalb stehen die beiden in Kontakt. Er macht auch viele Linolschnitte, die wir sehr mögen. Wir fanden es passend, haben ihm deshalb das inhaltliche Konzept der Platte geschickt und ihm freie Hand dabei gelassen, seine Arbeit darauf abzustimmen.
Zufall oder Absicht, dass euer Bandlogo immer kleiner wurde und jetzt komplett vom Frontcover verschwunden ist?
Andy: So richtig beabsichtigt war das nicht, aber die Ästhetik von diesem Artwork hätte ein großes Logo schlichtweg zerstört. Es hängt also immer vom Motiv ab.
Ihr habt die Rede von Stephen Cheney im Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten aus einer Podcastfolge namens „The Climate Change and Security – Nexus“ entnommen und in einen Song eingefügt. Was macht sie für euch besonders?
Gareth: Johan, unser Bassist und Sänger, hat den Hauptteil für diesen Song geschrieben. Er weicht schon sehr stark von dem üblichen VICITIMS-Sound ab, und erst deutete alles darauf hin, dass es wohl ein instrumentales Stück bleiben wird. Als ich aber die Folge von dem Podcast gehört habe – das ist übrigens wirklich ein echter Vortrag im Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten zum Thema Klimaschutz gewesen –, da hat die Stimme von Stephen wirklich stark meine Vorstellungskraft beeinflusst. Außerdem war ich sehr davon inspiriert, was die tolle Post-Rock-Band MOGWAI gemacht hat. Sie haben Reden und Musik auf eine vergleichbare Weise verknüpft und ich wollte etwas Ähnliches machen. Ich denke, dass die Sichtweise von Stephen unfassbar interessant ist und klar, er kommt vom Militär, es ist eine vollkommen andere Perspektive als unsere eigene. Aber letztendlich sprechen wir vom gleichen Problem. Meiner Meinung nach passt es sehr gut zum Gesamtkonzept.
Ihr habt zum ersten Mal mit Karl Daniel Lidén gearbeitet, wie war das und welchen Einfluss hatte er auf das Album?
Gareth: Es war pures Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, er ist ein extrem talentierter Toningenieur und Produzent, aber trotzdem locker und bescheiden, was wir als sehr angenehm empfunden haben. Wir sind große Fans seiner bisherigen Arbeit, insbesondere der Alben, die er mit unseren guten Freunden SWITCHBLADE gemacht hat. Das sind einfach großartige Platten. Es war also ein sehr viel dunklerer, minimalistischerer, aber dennoch massiver Sound, den wir von ihm wollten.
Andy, warum habt ihr euch von eurem Label Tankcrimes getrennt?
Andy: Getrennt klingt irgendwie falsch, wir lieben Scott und Tankcrimes. Über die Jahre haben wir mit vielen Labels gearbeitet und irgendwie hatten wir das Gefühl, dass es Zeit wäre, mit dem neuen Album auch das Label zu wechseln. Meiner Meinung nach hat das Veröffentlichen bei unterschiedlichen Labels sehr viele Vorteile. Jedes hat seine eigene Fanbase und dadurch erreicht man auch immer wieder andere Menschen.
Andy, du bist eines der Gründungsmitglieder von VICTIMS, was hat sich über die Jahre geändert?
Andy: Die körperlichen Gebrechen, haha. Irgendwie fühlt es sich so an, als ob sich sonst nicht viel verändert hätte, obwohl es das sicherlich hat. Aus unterschiedlichen Gründen touren wir nicht mehr so viel. Dass wir mit Gareth einen zweiten Gitarristen haben, hat dazu geführt, dass wir live anders klingen und ganz andere Songs schreiben können.
Ihr baut die Songs immer ausgehend von einem Riff auf. Was genau braucht ein Song, um für VICTIMS zu taugen?
Gareth: Seit über zwanzig Jahren gibt es uns jetzt und mittlerweile haben wir ein gutes Gespür dafür. Es stimmt, wir konzentrieren uns eher auf die Musik und weniger auf den Gesang, das muss man schon sagen. Obwohl wir mittlerweile auch mehr darauf achten. Für dieses Album hat Johan ganz viel geschrieben. Seine Riffs sind diesmal etwas geräumiger und nicht so kompakt wie bisher. Andy spielt darauf den alten D-Beat und es fühlt sich trotzdem nach VICTIMS an. Es ist schwer, so was ganz genau zu definieren. Keine Rock’n’Roll-Riffs, das ist uns wichtig, haha.
Der Klimawandel ist ein großes Thema auf dem Album, eure Prognose alles andere als positiv. Was sind die Hauptgründe dafür, dass wir dieses Problem nicht lösen können? Ist es eine fehlende Solidarität zwischen den Ländern oder ist die Menschheit an sich das Problem?
Gareth: Ich glaube nicht, dass es nur eine Frage mangelnder Solidarität zwischen Ländern oder der Menschheit im Allgemeinen ist. Sicherlich nicht auf Bürgerebene, vielleicht eher auf politischer, kapitalistischer Ebene. Aber ich denke, das Hauptproblem ist, dass selbst in einem Land wie Schweden, der viertgrünsten Nation der Welt nach aktuellen Umweltumfragen, die Maßnahmen, die auf persönlicher Ebene erforderlich sind, und die Opfer, die wir alle für unseren Lebensstil bringen müssten, einfach zu abstrakt sind. Und auch zu groß, um es zu begreifen. So ist es einfacher, diese massive kognitive Dissonanz auf die übliche Weise zu bekämpfen und durch gegenseitige Schuldzuweisungen abzulenken. Natürlich machen persönliche Bemühungen wie Recycling, mit dem Rad zur Arbeit fahren und veganes Essen einen Unterschied, aber die meisten Schweden fliegen immer noch viel für Freizeitzwecke. Wir auch, es ist extrem schwer. Und natürlich müssen die wichtigsten Veränderungen politischer Natur sein, so dass der größte Unterschied, den wir als Individuen machen können, darin besteht, für Menschen zu stimmen, die drastische Maßnahmen ergreifen werden. Leider haben rechtsextreme Parteien immer noch die Kontrolle über die politische Agenda und blenden die Öffentlichkeit mit der völlig konstruierten „Bedrohung“ durch die Einwanderungsfrage. Das Bizarre daran ist, dass auch Dick Cheney betont, dass der Klimawandel in den kommenden Jahren der größte Agent der Massenmigration sein wird. Und doch sind die konservativen und fundamentalistischen rechten Flügel die größten Klimaskeptiker. Was mich zu der Annahme bringt, dass dieses Problem leider nicht sehr bald gelöst sein wird.
Ihr habt beide Kinder, was möchtet ihr ihnen unbedingt beibringen?
Gareth: Generelles Verständnis für die Welt um sie herum. Und dass sie verstehen, wie privilegiert sie sind, dass es ein Lottogewinn ist, in einem Land wie Schweden geboren zu sein. Sie sollen auch verstehen, dass viele andere Menschen nicht so privilegiert sind. Und ich möchte, dass meine Tochter weiß, wie sehr ich sie liebe, und dass ich sie immer unterstützen werde, ganz egal was sie tut. Und hoffentlich wird sie eine Veränderung zum Guten herbeiführen, ganz egal wie groß die sein wird.
Andy: Gute Menschen zu sein und Verständnis für andere Menschen und unterschiedliche Ansichten zu haben. Und natürlich möchte ich ihnen versichern, dass ich sie liebe, ganz gleich was passiert und was sie tun.
Welche Ideen setzt die Bevölkerung in Schweden um, um den Klimawandel zu stoppen?
Gareth: Schweden ist mit Sicherheit eines der grünsten Länder der Welt. Die Bevölkerung ist achtsam in Bezug auf die zukünftigen Probleme und entwickelt viele Ansätze von grünen Alternativen. Das fängt mit der Reduktion des Fleischkonsums an, geht über Recycling oder die Tatsache, dass über 50% der Energie grün ist. Aber trotzdem sind wir weiterhin eine Nation von Reisenden und Vielfliegern. Unsere junge Heldin Greta Thunberg hat viele Leute wachgerüttelt. Klimaängste und das Anprangern des Fliegens sind hier gerade stark im Kommen und es gibt eine Firma, die gerade eine Zugverbindung nach Europa als Alternative etablieren möchte. Aber wie alle anderen sind wir weit davon entfernt, perfekt zu sein.
Andy: Viele entschuldigen sich damit, dass Kleinigkeiten keinen Unterschied machen würden. Aber von den Essgewohnheiten bis zum Flugverhalten kann jede Veränderung entscheidend sein.
Verfolgt ihr die Politik sehr genau?
Gareth: Ich lese viel Zeitung und andere Literatur, höre Podcasts. Mich interessiert alles, egal ob gut oder schlecht. Manchmal wäre es sicher schön, einfach abschalten zu können. Vor kurzem habe ich meine kleine Tochter zu einer antifaschistischen Demo mitgenommen und wurde von jungen Nazi-Skins gefilmt, das war ziemlich einschüchternd, denn immerhin hatte ich meine Tochter auf dem Arm. Abgesehen vom Wählengehen an sich bin ich im Moment nicht so aktiv. Was auch aus einer gewissen persönlichen, kognitiven Dissonanz resultiert, denke ich.
Andy: Seit ich für eine rot-grüne politische Zeitung schreibe, ist das mein tägliches Brot. Also ja.
Im Herbst kommt ihr auf Tour, auf was freust du dich am meisten?
Andy: Das Beste ist, live zu spielen, neue und alte Freunde zu treffen. Der Rest ist nur Reisen und ein Haufen logistischer Kram. Wir versuchen auf jeden Fall, eine gute Show abzuliefern, und ich bin der Meinung, dass wir live eigentlich noch besser sind. Hoffentlich sehen die Leute das genauso. Sie können auf jeden Fall intensive Konzerte mit neuen und alten Songs erwarten.
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