Wie wichtig ein Plattenhändler des Vertrauens ist, zeigt sich immer wieder, wenn man daheim dann doch eine Platte auflegt, die man beim Durchstöbern der vielen Kisten im Halbdunkel zuvor übersehen hatte. Im Falle von VEUVE SS wurde mir 2012 gleich zweimal eine unbedingte Empfehlung ausgesprochen, der ich blind gefolgt bin, weil ich von beiden noch nie einen schlechten Tip erhalten habe, die das intime Verhältnis getrübt hätte. „Oha, Franzosen! Können die wirklich etwas?“ Können sie, mit ihrer gerade eben erschienenen „Viscères“-12“, die ursprünglich einmal ein Tape war.
Was für ein dreckiger Bastard von einer einseitig bespielten 12“, die sich alleine schon vom Cover her nicht in die übrigen Platten des Bauchladens einfügen wollte und Assoziationen weckte, die sich erst drei Jahre später im Interview mit der Band klären sollten, aber dazu kommen wir später. Wenn überhaupt, hätte ich so ein gemeines Ding auf einem Label wie Youth Attack erwartet, nicht aber auf einem, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte, und schon gar nicht aus Frankreich, dem Land, das zwar eine direkte Grenze zu uns hat, in Sachen relevanter Musik aber nicht selten in direkter Konkurrenz zu Ländern wie Tasmanien, Indonesien oder Peru steht, deren Platten mindestens genauso gut erhältlich sind. Gut, ich übertreibe ein wenig, aber ich bin mir sicher, dass hier jeder Zweite besser über die Szene in den Staaten Bescheid weiß als darüber, was gerade bei unserem direkten Nachbarn aufregend und gut ist.
Ein wirklich guter Plattendealer zeichnet sich dadurch aus, dass er sich merken kann, was dir gefallen hat. Ohne diese Fähigkeit (danke Haug) hätte ich die noch gemeinere und dreckigere Ausgeburt „O.P.L.T. & O.S.C.“ mit dem Weiß auf Weiß bedruckten Cover glatt übersehen, welche die vier Herren aus Lyon knapp zwei Jahre später nachgelegt haben. Ohne Hilfe wird es diese Scheibe nur selten aus einer Konzertplattenkiste in eine wohlbehütete Plattensammlung schaffen, weil man weder den Bandnamen noch sonst irgendetwas lesen kann. Auch wenn die Band dabei bleibt, dass man tatsächlich alles entziffern kann, geht es mir bis heute so wie manchen Menschen bei 3D-Bildern, die einfach keine Giraffe entdecken können, egal wie schräg sie das Bild halten. Spätestens nach diesem zweiten Volltreffer war ich komplett angefixt und froh, dass es mit der MEURTHE/VEUVE SS-Split-12“ und der phänomenalen „Descente“-EP weiteres Futter gab. Letztere in einer wahnsinnigen Aufmachung, mit einem dicken Artbooklet und dem Soundtrack, der allen Infizierten aus „28 Days Later“ direkt ins Hirn gespeist wird. Das war anders als die 99% der sonst üblichen Bands. Einerseits kompromisslos und nihilistisch, mit einem Gestus, der einem Unbehagen einflößen konnte, andererseits ein klares stilistisches Konzept, was Aufmachung, Artwork und Grafik betraf. Das wollte nicht um jeden Preis gefallen, Kaufreize anregen oder praktisch in der Verpackung sein, um möglichst viele Einheiten zu verkaufen, sondern Neugierde wecken, um sich mit den Tonträgern und dem Artwork tatsächlich auseinanderzusetzen.
Neulinge waren das nicht, so viel stand fest. Dass das nicht von ungefähr kommt, merkt man, und in der Tat haben alle vier Herren aus Lyon, die zwischen 24 und 40 Jahren alt sind, bereits einige Erfahrung in anderen Bands gesammelt, wie DIE HÖLLE, THE FLYING WORKER!/NEIGE MORTE, ZOMBIES ARE PISSED, SPORT, MOMS ON METH und OVERMARS, die vielleicht beim einen oder anderen Frankophilen unter uns bekannt sein dürften. VEUVE SS (übersetzt „Witwen SS“) ist das Kind von Cyprien (Gitarre), Benjamin (Bass), Vincent (Schlagzeug) und Hugues (Vocals). Dass das „SS“ für Irritationen sorgen könnte, war ihnen bei der Namensgebung bewusst. Aber es war der richtige Name, um den Charakter einer Band zu unterstreichen, die es sich zum Ziel gemacht hat, unbequemen, irritierenden und düsteren Hardcore mit einem gewalttätigen Unterton zu kreieren, der die Hörer mit etwas konfrontieren wollte, das sie zum Nachdenken anregt oder überhaupt zu einer Reaktion. Es sollte sich unangenehm anfühlen, denn genau das war es, was Hardcore im Laufe der Jahre immer mehr verloren hatte: authentisch, unbequem und nicht massenkompatibel zu sein. Natürlich unterstützt keines der Mitglieder merkwürdiges Gedankengut.
Dem anfänglich gesetzten Ziel, brutalen und unangenehm-dreckigen Hardcore zu spielen, perfektionieren die im Interview äußerst relaxten und sympathischen Menschen mit jedem weiteren Release ein wenig mehr. Es sollte schwer und eigenständig klingen, ohne irgendwelchen Schnickschnack wie Kostüme oder anderen Unsinn zu bemühen, der nicht für sich alleine spricht und in der Regel nur über andere offensichtliche Schwächen hinwegtäuschen soll. Auf die Frage, welche Einflüsse hinter dem Sound und Gesamtkonzept stehen würden, war ich überrascht, dass es nicht die üblichen Namen waren, die hier fielen (CULT RITUAL wären mein Favorit gewesen), sondern gerade mal BLACK FLAG, vor allem in der späten Phase, genannt wurden, dafür aber Industrial-Bands wie COIL und THROBBING GRISTLE. Die letzten beiden ergaben auf einmal einen Sinn, auch im Bezug auf das Artwork und das Bandlogo. Inspiration sind dabei vor allem die konfrontativen Live-Performances ebenso wie verstörende Bilder, die einerseits die dunklen Seiten ausloten, andererseits anregen, sich damit selber auseinanderzusetzen. Gerade COIL schafften es bei mir, ein ähnliches Unbehagen hervorzurufen wie eben VEUVE SS.
Obwohl die vier im realen Leben mit beiden Beinen im Leben stehen, loten sie mit der Band ihre innersten negativen, dunklen Seiten aus. Hugues bezeichnet den tief aus den Eingeweiden kommenden Sound als eine Katharsis, um sich mit Selbsthass, Frustration und dem Ekel vor der Welt, in der wir leben, sowie den Menschen darin beschäftigen. Der Bandname und die bewusst gewählte Ästhetik sind eine direkte Reaktion auf die Konsumgesellschaft, in der wir leben, eine Gesellschaft, die sich über Karriere, Erfolg im Job und Konsumgüter identifiziert. Oder um Pasolini (frei) aus den „Freibeuterschriften“ zu zitieren, ist die „Kultur der Konsumzivilisation der neue und repressivste Totalitarismus, den es jemals gab“. Interessanterweise haben sich einige Zukunftsvisionen von Achtziger-Jahre-Bands ganz offensichtlich bewahrheitet, nur dass die mahnende Angst davor inzwischen von der Realität eingeholt wurde.
Bei den Releases steht Qualität eindeutig über Quantität und wird als Einheit von Musik und Artwork komplett so gestaltet, wie es die vier Mitglieder für richtig und „echt“ halten. Frei von Zwängen, ohne Kompromisse, mit der maximalen Freiheit in allen Belangen, denn nur das Gesamtergebnis zählt. Auf meine Bemerkung hin, dass die O.L.P.T. & O.S.C.-7“ die größtmögliche Entfremdung von einem normalen Tonträger sei, weil darauf weder Bandname noch Titel zu entziffern sind, wird mir widersprochen. Das Cover würde sehr wohl Namen, Titel, Texte und sogar Credits enthalten.
Die Frage nach der Exotenstellung unseres Nachbarlandes hingegen, bei der die Punk- und Hardcore-Szene immer gerne übersehen wurde, liegt sehr wahrscheinlich in ihrer tatsächlichen Größe, die bedingt durch die französische Kultur nie das Ausmaß wie in anderen europäischen Ländern erreichte. In Frankreich gibt es seit jeher einen Markt, der neue Musik sowohl in die französische Sprache als auch in bekannte Genres adaptierte und damit verwässerte, weil die alten Musiker sich neue Strömungen zu eigen machten, ohne dass je ein wirklicher Bruch stattfand. Ein fruchtbarer Boden, in dem Punk im gleichen Maße gedeihen konnte wie in anderen Ländern, existierte damit nicht. Immerhin gibt es ein paar Empfehlungen, nach denen man Ausschau halten sollte: SHOCK aus Bordeaux, DIKTAT, HONDARTZAKO HONDAKINAK (laut Hugues eine Mischung aus BAD BRAINS und DISCHARGE), SYNDROME 81, LITOVSK, RIXE, YOUTH AVOIDERS, AYATOLLAH, LOST BOYS, NEIGE MORTE und DÉFAITE. Aktuell schreiben VEUVE SS die letzten Songs für eine geplante erste LP, selbstverständlich in ihrem eigenen Tempo. Sie erscheint, wenn alles fertig ist, nicht früher und auch nicht später.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #121 August/September 2015 und Kalle Stille
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #118 Februar/März 2015 und Kalle Stille
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #114 Juni/Juli 2014 und Kalle Stille
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #103 August/September 2012 und Kalle Stille