Keiner hat ernsthaft Schwierigkeiten, seine fünf bis zehn Lieblingsalben zu nennen, zur Not erkennt er diese daran, wie stark eigene Vinylscheiben abgenutzt sind. Doch in jeder mehr oder weniger opulenten Sammlung finden sich unter Garantie tolle Platten, um die es damals fast gar kein Ballyhoo gegeben hat, die zu Unrecht eher Ladenhüter als Hits waren. Hier nun zu sieben Schätzchen aus der Zeit von 1985 bis 1996, alphabetisch gelistet.
BITTER GRIN „Destination“
(LP/CD, Oi! The Boys/Walzwerk, 1996)
Das zweite und letzte Album der Kanadier um Sänger Chad Nugent hat es in sich: melodiöser, von Reggae-Einlagen angehauchter Punk der Extraklasse. „Blood on the saddle Pt. 1“ hätten THE CLASH auch nicht besser hinbekommen. Ist die A-Seite der auf gelbem Vinyl in einer Auflage von 444 Stück erschienenen LP (die trotzdem heute noch erhältlich ist) wirklich gut, erhebt sich die B-Seite förmlich zu einer extraordinären Angelegenheit. Der Song „Hate bomb“ im Blues-Punkrock-Gewand steht stellvertretend für die Qualitäten der Platte insgesamt, voller Melodien und versiertem Songwriting. Es hätte diese Band länger geben müssen. Chad Nugent ist aber weiterhin als Mitglied einer Punkband unterwegs.
CERESIT „Three Gallows“ (LP, D.I.Y, 1985)
Eine Fünferbande aus Berlin-Lichtenrade. Wahrlich keine ausgesprochene Gegend für eine Punk Community – dennoch waren CERESIT (die auch als CERESIT 81 bekannt sind) hier mit ihrem prägnanten Deutschpunk mit Keyboardeinlagen sogar ein Jahr vor den bekannten RAZZIA am Start. Aufgenommen im Music Lab von Harris Johns wechseln sich deutschsprachige Lieder mit englischen ab, ohne dass es einen klaren Sieger gibt, da beides zündet. „Smack is back“ ist schon ein Supersong, „Three gallows“ bringt aber noch eine deutliche Steigerung, eine räudige Hymne mit metallischer Gitarre, aggressivem Gesang und dem besagten Keyboard. Dazu prima gesetzte, innovative Gesangslinien, die staunen lassen. Wer RAZZIA, NEUROTIC ARSEHOLES und TOXOPASMA als Kultbands der Achtziger betrachtet, sollte CERESIT in dieser Aufzählung nicht vergessen.
DISASTER AREA „Back From The Reservation“
(LP, Bonzen, 1988)
Berlins Skatepunk-Legenden wechselten auf ihrer zweiten LP überraschend vom Rollbrett aufs Pferd, auch wenn sie hier noch typische Songs wie „Skate city“ und „Skate tonight“ zu platzieren wussten. Im Wesentlichen geriet dieses Album jedoch zu einer Countrypunk-Angelegenheit, die sich besonders im Abschlusssong „Back from the reservation“ manifestierte und auch die indianische Kriegsbemalung auf dem Backcover erklärt. Mit „Hooligan“ und „Tschernobyl“ arbeiteten sie textlich differenziert einiges ab, auch wenn der Sound von Songs wie „It’s true“ und „Who said“ deutlich nach Lagerfeuerromantik mit E-Gitarre und somit nach Cowpunk klingt. Welche Band bietet einem in der Summe mehr? Eine extrem unterschätzte Platte.
KLAMYDIA „Live 23.9.1994“ (LP, Teenage Rebel, 1995)
Man wird oft darüber belehrt, dass Picture Discs aus herstellungstechnischen Gründen einen schwächeren Klang haben sollen als gewöhnliches Vinyl, doch anscheinend bestätigen Ausnahmen mal wieder die Regel. Denn was hier nach der Live-Ansage „Aha, guten Abend, wir sind KLAMYDIA aus Finnland“ aus den Boxen knallt, ist eine wahre Pracht. Dieses Live-Album bringt es vom ersten Takt an auf den Punkt: das ist Punk, zwar simpel gespielt, aber tanzbar. Durch die finnische Sprache allerdings ärgert man sich, dass man gar nicht mitsingen kann, tut dies aber dennoch – und irgendwann trifft man manches finnisches Wort bestimmt. „Lappuliisa“, „Missä on Marko“ und vor allem „Lauantaina“ bekommt man sowieso refrainmäßig sofort hin. Gastsänger Fisch von LOKALMATADORE singt dann noch „Warum sagst du bäh?“, und KLAMYDIA tun es einmal auch auf Deutsch, aber dieser Songtitel ist leider nicht jugendfrei ...
TIN SOLDIERS „A Briefcase Full Of Punkrock“
(CD, Scumfuck Mucke, 1996)
Nach gelungenem Intro nimmt sich die Band bei „Frozen man“ das Recht heraus, ihre Hörer mit bodenständiger Ruhe so richtig auf ihre Scheibe einzustimmen. Der Sänger gefiel mir dabei schon immer, auch wenn ich die CD viel zu selten einlegte. Ein mäßiges Interesse an tieferer Recherche neben dem schwer lesbaren Booklet verhinderte, dass ich diesen als „Pommes“ von den späteren 4 PROMILLE erkannte. Die Songs „Problem“ und „Presse“ wirken zwar vom Gesang her recht schräg, doch Perfektion hatte in dieser Musik von jeher wenig zu suchen – zumal, wenn es inhaltlich passt. Dafür bauen sie bei „Pissed & proud“ einen Kontrabass ein, was optimal hinhaut. „Fight tonight“ tendiert dann wieder stärker zum Oi!-Genre. Darf man sich getrost mal wieder anhören!
THE VOICE „They’ll Never Find The Maniac“
(LP, Quick Star, 1988)
Jeder halbwegs fähige Grafiker von heute bekommt sicherlich Augenschmerzen angesichts des Backcovers dieser LP. Da wurden doch tatsächlich auf einer wild zusammengepuzzelten Fotocollage (natürlich Bilder der Bandmitglieder nebst Freunden) die Songtitel mit weißem Edding handschriftlich verewigt. So was wäre heutzutage undenkbar, drückt aber einfach den Charme der damaligen Zeit aus. Die Südberliner verkörperten mit ihrem rock’n’rolligen Oi! noch die Roots der Skinhead-Szene und waren antifaschistisch aufgestellt – keine Selbstverständlichkeit, gerade in jenen Jahren und in dieser Stadt. „Thats life with the South Gang, at summer in Westberlin“ sangen sie in ihrer ewigen Hymne, dazu gab es mit „Mary Lou“ und „Break away“ tolle Cover. Diese Scheibe werde ich ewig lieben, alleine schon wegen des unaufgeregten Openers „The new voice“ – so simpel und doch so erinnerungswürdig.
V.A. „The Bright Side Of Oi! Vol. 1“ (LP, Street Kid’s, 1994)
Wer sich „Loves young dream“ von THE GUTTERSNIPES oder „Don’t you ever let me down“ von THE CRACK anhört, was gut zu einem sommerlichen Ausflug mit Moped, Auto oder Fahrrad passt, wird kaum glauben, dass dies (auch) der Sound der stiefelknallenden Skinheads sein kann. Eine wunderbare, abwechslungsreiche Compilation mit weiteren fähigen Bands wie RED LONDON, die mehr drauf haben als wiederkehrende „Oi!“-Rufe.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #124 Februar/März 2016 und Markus Franz