Im Herbst 2011 wurde die kreative Keimzelle Totally Wired, dessen Name einem frühen Song von THE FALL entstammt, in Wien von Florian Tremmel, Kathi Reidelshöfer, Anna Pühringer und Philipp Hanich ins Leben gerufen. Alle vier sind auch bei den meisten Acts des Labels wie beispielsweise BRUCH, GRAN, KRISTY AND THE KRAKS, DOT DASH, Ana Threat, THE DICTAPHONE direkt oder indirekt beteiligt. In jedem Fall blicken die Freunde schräger und innovativer musikalischer Untiefen nun wesentlich aufmerksamer auf Wien: Totally Wired läuten ihre ganz eigene und spannende Version von Vienna Calling ein.
Zuerst die obligatorische Frage: Wieso habt ihr euer Label nach einem Song von THE FALL benannt?
Flo: Bevor wir das Label gründeten, hatten Kathi und ich eine Clubreihe unter dem gleichen Namen. Die Idee der umfassenden Vernetzung hat uns sehr gefallen, als großer Fan von THE FALL hatte Kathi schnell die Idee, sich bei Mark E. Smith zu bedienen. Als wir das Label gründeten, war es für uns alle sehr naheliegend, den Namen beizubehalten.
Ich gehe davon aus, dass das Label für euch eine Herzensangelegenheit ist. Was macht ihr neben dem Label? Ist es euer Ziel, früher oder später von der Musik und vom Label leben zu können?
Flo: Von seiner Herzensangelegenheit leben zu können, ist natürlich das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Allerdings nicht um jeden Preis. Es ist mir und uns sehr wichtig, unserer Linie treu zu bleiben. Tatsächlich versuche ich, als Musiker, Tontechniker und Labelbetreiber meinen Kopf über Wasser zu halten.
Anna: Das eine oder andere zusätzliche berufliche Standbein haben wir alle vier neben dem Label. Kathi arbeitet als freischaffende Grafikerin und Musikerin, Philipp als bildender Künstler und Musiker, ich als Behindertenpädagogin. Das stellt teilweise finanziell eine gewisse Entlastung dar, ermöglicht uns aber darüber hinaus, in der Labelarbeit auf ein Repertoire unterschiedlichster Erfahrungswerte und Herangehensweisen zurückzugreifen. Was die Herzenssache betrifft, sehe ich diese weiteren Standbeine schon auch als großen Vorteil, nämlich hinsichtlich unserer Unabhängigkeit. Uns zugunsten von Profit oder Trends in die eine oder andere Richtung zu verbiegen, kommt nicht in Frage.
Gibt es so etwas wie eine Labelpolitik? Ihr seid ja alle in Bands und Projekte involviert, die auch auf Totally Wired veröffentlicht werden.
Flo: Zu unserem Glück haben wir alle vier eine sehr ähnliche Auffassung davon, wie etwas sein soll und wie wir uns präsentieren wollen. Das erleichtert vieles. Wenn wir eine Künstlerin oder einen Künstler beziehungsweise eine Band auswählen, dann auch, weil uns gefällt, wie diese agiert und sich präsentiert. Daher haben die Künstler sehr viel freie Hand bei uns.
Anna: Genau, ich denke, diese Unabhängigkeit und Freiheit, die uns wie gesagt in der Labelarbeit wichtig ist, soll vor allem für unsere Bands spürbar sein. Da gibt’s grundsätzlich keine einheitlichen Vorgaben oder Richtlinien, die von uns aufgestellt werden. Wir versuchen, möglichst individuell auf ihre Vorstellungen einzugehen. Allerdings ist es vielleicht genau diese Offenheit und Freiheit, die wir auch bei ihnen als Grundlage der Zusammenarbeit voraussetzen. Gleichberechtigung, im Engeren wie im Weiteren, ist uns wichtig.
Ihr veröffentlicht primär Vinyl, das einen so unglaublichen Hype erlebt, dass die Presswerke nicht mehr hinterherkommen und Lieferschwierigkeiten haben. Jüngst hat ein Vinyllabel in Großbritannien aufgegeben und sich auf CDs verlegt, weil es regelmäßig in Vorkasse gehen musste, aber auch Lieferzeiten von bis zu zehn Monaten akzeptieren musste. Seid ihr hiervon auch betroffen?
Philipp: Man bleibt ja durch die verschiedenen Möglichkeiten flexibel. Wir versteifen uns nicht auf Vinyl. Es ist schlichtweg unser liebster Tonträger, aber wir wollen auch die anderen Möglichkeiten nutzen, die uns adäquat erscheinen. Schließlich geht es um die Musik und um die Kunst und nicht primär um das Medium. Wenn ich aber von Lieferschwierigkeiten wegen eines achtfach neuaufgelegten Live-Albums von DEEP PURPLE auf Vinyl lese, dann habe ich schon meine Zweifel an diesem Vinylgetue.
Flo: Wir sind immer wieder davon betroffen, dass Presswerke ihre Lieferzeiten nicht einhalten können. Deswegen aber auf Vinyl zu verzichten, sehe ich nicht als Option. Lieber die Vorlaufzeit der Produktionen verlängern und dann ein, zwei Platten weniger veröffentlichen als die Jahre davor.
Täuscht man sich, wenn man unterstellt, dass der Punk/Post-Punk und New Wave der frühen Achtziger Jahre für die meisten Bands auf Totally Wired eine erhebliche Bedeutung hat?
Flo: Das wird schon so sein, aber natürlich steckt da noch viel mehr drin, eben wie im Post-Punk auch.
Philipp: Diese Zeit und Ära, beginnend Ende der Siebziger, war eine kreative Explosion, da war musikalisch und inhaltlich alles möglich. Gleichzeitig war die Zeit auch politisch sehr schwierig. Da gibt es sicherlich Parallelen. Auch wir wollen in die verschiedensten Richtungen gehen, mit Haltung und ohne irgendein Korsett.
Ist Totally Wired eine „isolierte“ Insel der Glückseligen in Wien oder gibt es einen regen Austausch mit befreundeten Labels in Wien beziehungsweise darüber hinaus?
Flo: Wie der Name schon sagt, wollen wir keine unerreichbare Insel sein und haben auch Austausch mit anderen Wiener Labels wie beispielsweise Fettkakao.
Philipp: Wien ist eben die Stadt, in der wir leben und uns bewegen. Aber uns nur auf uns und auf Wien zu konzentrieren, wäre schon paradox. Es geht schließlich nicht um Orte und Geografie oder nur darum, eine Familie zu sein. Menschen, Labels und Künstler, mit denen man sich austauschen, zusammenarbeiten und Freundschaften schließen kann, gibt’s ja überall. Und dazu muss man nicht einmal immer einer Meinung sein. Das macht es sogar noch reizvoller. Ein schönes Beispiel dafür sind Schamoni Musik aus München mit ihrer „Rock’n’Roll People“-Sammlung. Da wird meines Erachtens auf den Punkt gebracht, worum es gehen kann.
Philipp, du machst Musik unter dem Namen BRUCH, aber bist auch bildender Künstler. Picasso hat einmal gesagt: „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.“ Was trägt mehr Wahrheit in sich, die Musik oder die Kunst?
Philipp: Weil du mich persönlich fragst, gebe ich dir eine sehr subjektive Antwort. Für mich macht das keinen Unterschied. Beide können unsere Emotionen, unseren Intellekt und unsere Haltung berühren. Natürlich auf etwas unterschiedliche Weise. Bei beiden reicht die Spannweite von lebensverändernd bis zum geldgeilen, eitlen Scheiß. Und das mit der Wahrheit ist auch eine schwierige Geschichte. Wer sie für sich beansprucht, da kocht mir schon manchmal die Galle hoch. Ich mag eine Songzeile von THE CLEAN sehr gerne: „Whatever I say is right, whatever I say is wrong.“
Jedes Mal, wenn ich in Wien bin, empfinde ich die Stadt als angenehm „mellow“ und nicht so anstrengend szene- und trendaffin wie beispielsweise Berlin, und deshalb fühle ich mich in Wien auch wohler als in Berlin. Wie erlebt ihr Wien? In welche Clubs und Bars muss man eurer Meinung nach gehen?
Anna: Wien scheint auf den ersten Blick recht überschaubar im Hauptstadtvergleich. Schaut man aber genauer hin, ist es schon beachtlich, wie viel sich hier tut. Es gibt wahnsinnig viele motivierte Leute, die einen Top-Abend nach dem anderen auf die Beine stellen. Ich denke da beispielsweise an Reich und Föhn, Accordia, Transformer, Eternal Laser, Sirius & Darktunes, Beatzentrale, Pylon Network und andere. An vielen Abenden müsste man sich echt mehrfach spalten können, an Sommerpause war heuer sowieso nicht mal zu denken. Das Besondere ist, dass sich da keine Rivalitäten entwickeln zwischen den einzelnen Kollektiven, es nicht selten eher zu tollen Kooperationen kommt. Konkret Lieblingslokale zu nennen fällt mir schwer, aber ganz wichtig für mich persönlich, aber vor allem auch für Totally Wired, ist sicher das Rhiz. Ansonsten auch noch gut: das Au, Fluc, Venster99, Club U, Marea Alta, Espresso.
Flo: Wien fühlt sich für mich sehr familiär an und dennoch lernt man immer wieder neue Leute kennen. Das ist eine Mischung, die das Nachtleben in hier sehr angenehm und spannend macht. Meist ist es gar nicht so wichtig, wo die Party ist, sondern wer die Party macht. Aber ein paar meiner Lieblingslokale sind das Rhiz, der Transporter und das Au.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #123 Dezember 2015/Januar 2016 und Markus Kolodziej