Am 30.12.2023 starb Torsun von EGOTRONIC. Der Krebs. Er ging mit seiner Erkrankung offen um, und er bleibt in Erinnerung als ein sehr politischer Mensch, der mit seinen Bands – zum einen EGOTRONIC, zum anderen TORSUN & THE STEREOTRONICS – nie „nur“ Musik machte, sondern immer auch einen durchaus streitbaren politischen Ansatz damit verknüpfte. Michael Dandl war mit Torsun seit vielen Jahren befreundet und erinnert mit diesem Text an ihn.
Ja, und ich weiß: Torsun ist in vielerlei Hinsicht immer kompromisslos extrem gewesen! Ja, und ich weiß: Torsun hat es deshalb auch mir niemals einfach gemacht, ihn über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg als das zu schätzen, was er nichtsdestoweniger ebenfalls zu allen Zeiten, in denen ich ihn kennen durfte, war: ein Genosse, ein Mitkämpfer, ein Gefährte. Umso schwerer fällt mir daher das Schreiben eines Nachrufs auf ihn. Versuchen muss ich es dennoch.
Im November 2023 hätte sich der Kreis fast schließen dürfen, als er zu einer in den Mannheimer Kulturbrücken veranstalteten Party kommen wollte, um dem dort stattfindenden Revival-Konzert von KALTE ZEITEN beizuwohnen. Dieses Konzert seiner alten Punkband hatte er mitinitiiert, und als ehemaliger Bassist dieser Neunziger-Combo wollte er dabei sein, wenn sie nochmals auf der Bühne stehen würde. Leider fand er nicht die Kraft, am 11.11.2023 nach Mannheim zu fahren; irgendwie war er aber doch anwesend, alleine schon wegen der Durchsagen von Sänger Udo, bei denen dieser immer wieder betonte, dass es ohne Thorsten Burkhardt diese Wiederbelebung nicht gegeben hätte. Und nicht nur dies: Udo wies auch darauf hin, dass das allererste Konzert von KALTE ZEITEN vor genau 31 Jahren stattgefunden habe, im Autonomen Zentrum Heidelberg. In ebenjenem war ich seit September 1991 aktiv; Teil meines politischen Engagements im AZ wurde dann auch das Mitgestalten und inhaltliche „Füttern“ des ab November desselben Jahres monatlich erscheinenden Programmheftes. Ich habe mir, nachdem ich mir auf Instagram gänzlich unbekannte Bilder von diesem legendären Gig gesehen hatte, die Mühe gemacht, mein lückenloses AZ-Programmheft-Archiv durchzuwühlen – und fündig zu werden: Am 18.11.1992 spielten KALTE ZEITEN als Vorband von BAP, einer baskischen Hardcore-Formation. Toll.
Torsun war da noch sehr jung, aber bereits äußerst aktiv und produktiv – politisch und gegenkulturell. Am 08.04.1974 im südhessischen Jugenheim geboren und im östlich von Bensheim gelegenen Lindenfels aufgewachsen, kam er über Punk-Strukturen an der Bergstraße sehr schnell und sehr früh in die organisierte, autonom-antifaschistische Polit-Szene in Heidelberg, die sich über das seit Anfang 1991 existierende AZ koordinierte, vernetzte und organisierte. Seither kannten wir uns.
Torsun war Punk, von der Pike auf. Er wurde und hat sich selbst in dieses DIY-Punk-Ding hineinsozialisiert. Ohne Umwege. Aber beim Musikmachen mit seinen Bässen, die er schon in Bands wie FACE REALITY (Hardcore-Punk) und VERSTÖRTE SEKTORKIDS (NDW-Punk) zum Wummern gebracht hatte, immer offen für alles Mögliche; nicht in einem starren, bloß eklektizistischen Sinne Ideen, Arbeitsweisen, Formen oder Sounds anderer übernehmend, sondern originell, kreativ, innovativ zu einem eigenen, individuellen System oder Versuch zusammentragend. Er sprach später häufig von einem Andreas Dorau-Konzert im Jahre 1996, das in einem überschwänglichen Maße inspirierend auf ihn gewirkt habe, so dass er sich, daran anknüpfend, ans Werk machte, zum egotronischen Elektropunk-Pionier beziehungsweise DAF-Erbe-Antreter zu werden. Bei Punkrock-Purist:innen kam sein Schwenk zum Elektro selbstverständlich nicht so gut an; aber das passiert bei allen kontextgebundenen „Neuschöpfungen“ – der Prophet gilt in der eigenen Szene zunächst einmal nichts.
Bei Torsun kam noch hinzu, dass er auch textlich/agitatorisch mit vielem brach, was die ganzen Achtziger und Neunziger hindurch Usus in der Protestsong-Bewegung, Polit-Rock-Community oder Deutschpunk-Szene gewesen war. Ob dies seine Haltung zum Nahostkonflikt war, sein zum „Lustprinzip“ erhobener rigoroser Hedonismus oder sein Naturverhältnis. Die dabei zum Ausdruck kommende Radikalität brachte ihm viel Gegenwind ein. Vor allem weil die von ihm transportierten und zur Umsetzung empfohlenen Postulate in ihren jeweiligen Unnachgiebigkeiten, Konsequenzen, Alternativlosigkeiten oftmals keinen Raum mehr ließen, in einen kritisch-solidarischen Disput mit ihm kommen zu können. Obwohl er sich nicht immer sicher war, auf welcher Seite er eigentlich zu stehen glaubte: das oszillierte dann zwischen der Feststellung, dass „Springers Die Welt das einzige Medium [sei], das sich nicht der antisemitisch gefärbten Berichterstattung“ anschließe (Ox #120) und der Aussage, es gebe „Teile der Antideutschen, die massiv ins Rassistische gekippt [seien und] inzwischen einen Sprech [drauf hätten] wie jeder stinknormale Wutbürger“ (Der Freitag, Ausgabe 36/2019).
Wo ich selbst hautnah ein entschiedenes Hadern Torsuns mit seinen eigenen, als unverrückbar platzierten Lebensentwürfen miterleben durfte, war Ende Oktober 1994; denn zu einem „lustprinzipiellen“ Hedonismus gehören auch seine Schattenseiten, in diesem Falle die todbringende Überdosis. Damals fanden in London die „Anarchistischen Tage“ statt: Das Programm konnte eine:n fast erschlagen; es zog Tausende aus der ganzen Welt an. Unter ihnen Torsun und ich. Die Veranstalter:innen baten darum, sich doch „selbst und eigenverantwortlich“ um Schlafplätze zu kümmern; außerdem gebe es hier eine Unzahl besetzter Häuser, in denen mensch sich kostenfrei einquartieren könne. Dies hat aber nur teilweise funktioniert; dort, wo sich zu große Ansammlungen von Anarchist:innen zusammengerottet hatten, nahmen sich jene in spontanen Akten kollektiver Aneignung leerstehende Häuser oder Verwaltungsgebäude, und wandelten diese um in „temporäre autonome Zonen“.
Torsun und ich waren an einem dieser Tage im Stadtbezirk Holborn, der als das historische Gerichtsviertel Londons gilt, in einem solchen Squat gelandet; mit mehreren Hundert anderen Anarchist:innen von überallher. Und dann geschah in diesem riesigen, mehrstöckigen Haus etwas, das immer passieren kann, wenn viele Menschen Unterschlupf findend auf einem Haufen zusammen sind und sich das Ganze zu einem quirligen Drogenumschlagplatz entwickelt: eine Person schießt sich eine Überdosis und stirbt inmitten der anderen dort Verweilenden! Und in ihrer dauervernebelten Teilnahmslosigkeit, in ihrer Empathieunfähigkeit, in ihrer Verantwortungslosigkeit, in ihrer Nichtverbundenheit mit dem zu Tode Gekommenen greifen die ersten Squatter:innen, die diese Tragödie registriert haben, zum drastischsten, nur scheinbar einfachsten aller Konfliktlösungsmittel, dem Herstellen einer räumlichen Distanz: Sie nehmen den toten Leib, tragen ihn aus dem Gebäude und schmeißen ihn etwa 200 Meter vom „Tatort“ entfernt in irgendeine dreckige Ecke am Straßenrand. Wo er relativ schnell entdeckt wird – zwei freundliche Bobbys erscheinen am nächsten Tag im Squat, stellen sich höflich den an die Tür Gekommenen vor und fragen beiläufig, ob diese etwas von einem Drogentoten mitbekommen hätten, der relativ nahe am temporär besetzten Haus aufgefunden worden sei; es handle sich um einen jungen spanischen Staatsbürger. „Nein“, ist die Antwort der mit den Polizisten Redenden; woraufhin die Cops – wohl zufrieden mit der ihnen servierten Ahnungslosigkeit – abziehen; auf Nimmerwiedersehen.
Torsun und ich waren geschockt, und im Zustand dieses vibrierenden Geschocktseins haben wir uns noch im besetzten Haus intensiv darüber auseinandergesetzt, in welche tiefsten Tiefen und düstersten Abgründe des menschlichen Daseins wir soeben geblickt hatten. Uns war klar, dass dieses spontan okkupierte Bauwerk kein Safe Space für Drogenkonsument:innen darstellte; aber dass eine Person, die an diesem Ort den Tod gefunden hatte, einfach wie ein Müllsack irgendwo hingeschmissen wurde, um sich das Problem vom Hals zu schaffen; das sprengte unsere ethisch-moralischen Kodizes in Bezug auf Gemeinschaften, in denen zusammen gelebt wird. Bei solch einer Erschütterung bietet es sich an, die Frage zu stellen: „Was wäre passiert, wenn es kein Goldener Schuss, sondern ein Sturz gewesen wäre, der zum Tod dieses Mit-Squatters geführt hatte?“ Wir beide mussten die Frage mit einem energischen „Dasselbe!“ beantworten.
Diese Erfahrung hat uns damals zu Freunden gemacht, und jedes Mal, wenn wir uns nach langer Zeit wieder trafen, umarmten wir uns und brüllten gemeinsam die drei Wörter: „We survived Holborn!“ Dies wurde zu unserem Wiedersehensritual; wir hatten Holborn überlebt. Jedenfalls: Hätte ich Torsun auf der Party in Mannheim am 11.11.2023 getroffen, was wäre das Erste gewesen, das wir gemacht hätten? Korrekt. Nun habe ich niemanden mehr, mit dem zusammen ich diese drei Wörter in die Welt hinausschreien kann. Thorsten Burkhardt ist am 30.12.2023 von uns gegangen.
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