Nun, ihr fragt euch vielleicht, was soll dieser Artikel über Tiki in einem Musikmagazin wie dem Ox. Punk war für mich schon immer Irrsinn, Ironie und provokanter Witz pur, inspiriert durch die Situationisten und Dadaisten der davorgehenden Jahrzehnte. Einflüsse aus der Primitiv- und Surfmusik der 50er und 60er Jahre, der Exotica-Musik (benannt nach dem ersten Album aus dem Jahre 1956 von Martin Denny), des Voodoo-Sounds und obskurem Rock'n'Roll, dies waren die Zutaten für einen Cocktail, der die CRAMPS aus New York ab Mitte der 70er Jahre zu ihrem Trash-Punk'n'Roll inspirierte und dem Tiki-Revival Aufwind bot.
Der Schreiber dieses Artikels verkehrte selbst Ende der 70er Jahre - unweit vom legendären Cabaret Voltaire - im Kon-Tiki in Zürich. In dem 1955 eröffneten Lokal traf sich ab 1976 die neue Musik-und Kunstbewegung, sprich Punk-und Wave-Szene der Deutschschweiz. Kurt Maloo, der Gitarrist der Pre-Punkband TROPPO besang das Kon-Tiki mit einem gleichnamigen Song schon 1979 auf einer Single. Moritz R. von DER PLAN und Sven Kirsten, ein gebürtiger Hamburger, der schon sehr früh Musikvideoclips drehte, sind angesehene Koriphäen in der weltweit agierenden Tiki Community. Ebenfalls aus Hamburg stammt Detlef Diederichsen, der 1979 bei EDE & DIE ZIMMERMÄNNER spielte. Heute ist er Musikalischer Direktor im Haus der Kulturen der Welt in Berlin und, für mich nicht überraschend, im Juli 2008 zuständig für das größte Tiki-Ereignis, das Europa je gesehen hat. Sven Kirsten ist auch der Autor der Tiki-Bibel "The Book Of Tiki" aus dem Jahr 2000, das vom Taschen Verlag in mehren Sprachen sowie Auflagen weltweit vertrieben wurde. Dieses Buch hat in Europa die Neo-Tiki-Welle so richtig in Gang gebracht. Doch zuerst zu den Ursprüngen von Tiki in Europa.
Ich vermute, dass dies der erste Artikel überhaupt ist, der das Phänomen Tiki Europa beschreibt, und noch gibt es viel zu endecken. Ich bin nicht erstaunt, dass heute viele Alt-Punks und -Teds in der Tiki-Szene mitmischen. Über Rock'n'Roll, Surf, Garage, Country oder Filmmusik stieß man zu Exotica vor. Die Haarpracht ließ weder eine Tolle noch eine Stachelfrisur mehr zu, den Bierbauch kann man elegant mit einem bunten Hawaiihemd kaschieren, ein gepflegter Cocktail regt zu regen Gesprächen an, die man ja als Halbtauber nach 30 Jahren Punk und Rock'n'Roll sowieso schon lange nicht mehr in den gängigen Lokalen führen kann. Viele begehrenswerte und schöne Frauen beleben die Szene und tanzen für uns Männer halbnackt mit einem Lächeln oder verführerischen Blick zu Hula-Musik oder zu einer Burlesque-Show. Dazu kommen noch Reisen in ferne, warme und exotische Länder, wo die Tiki-Kultur ihren Ursprung hat. Auch Tiki-Bars und -Restaurants in unseren Breitengraden verströmen dieses wohltuende Ambiente. Mit einer eigenen Musik, die auch mit gichtigen Fingern oder im Sitzen (Rückenschmerzen) noch gespielt werden kann, wird einem mancher langer Abend versüsst.
Eigene Schnitzer für Tikis, Grafiker und Innenausbauer für die Lokale besorgen das Optische, nicht zu vergessen sind neue Getränkekreationen der Barmänner und die dazu angefertigten Krüge, gennant "Mugs". Zuguterletzt scheint es bis heute auch auch noch keine ernsthaften Bestrebungen gegeben zu haben, diesen Lifestyle kommerziell auszuschlachten. Das soll heißen, dass die Medien und die Spaßindustrie uns in Ruhe lassen.
In Europa gibt es drei grundlegend verschiedene Tiki-Einflüsse, die ab den 50er Jahren Fuß fassen konnten - ethnologische Museen nicht eingerechnet. Der älteste Einfluss ist die Fahrt mit der Kon-Tiki, einem traditionellen Floß aus Balsaholz, die der Norweger Thor Heyerdahl 1947 von der Küste Perus zu den südpazifischen Inseln unternahm. Diese Expedition und Heyerdahls Buch darüber hatte einen enormen Einfluss in ganz Europa. Der zweite wichtige Einfluss sind die ab den frühen 60er Jahren integrierten Tiki-Bars in exklusiven Hotels in Großbritannien, die nach amerikanischem Vorbild eröffnet wurden und später durch Butlin's Holiday Camps auf den britischen Inseln starke Verbreitung fanden. Die dritte Welle kam ab Mitte der 60er Jahre, hauptsächlich aber in den 70er Jahren über die alten Seefahrernationen Spanien und Portugal zu uns. Heimkehrende Seemänner und verliebte Hochzeitspaare, die von Hawaii und anderen südpazifischen Inseln zurückkamen, brachten viele Souvenirs mit sowie Inspirationen für Themenbars "Hawaiano" oder "Polinesian", auch der Getränketyp "Cocktail" erfreute sich zuerst auf der iberischen Halbinsel großer Beliebtheit. Frequentiert von Massen von Barbaren, die nun aus dem Norden und Osten einfielen, soll es in den 70er Jahren an die hundert solcher Themenbars an den Küstenstreifen der beiden Länder gegeben haben. In den Großstädten Madrid, Barcelona und Lissabon gehörten diese zu den schicksten Lokalen, dazu wurde noch chinesisches Essen serviert.
Kon-Tiki
Die Kon-Tiki war ein nach dem Vorbild eines präkolumbianischen Floßes aus Balsaholz gefertigtes Boot. Der norwegische Abenteurer und Schriftsteller Thor Heyerdahl segelte mit fünf Gefährten von der Küste Perus bis zu den Tuamoti Inseln. Sie überquerten 1947 in 101 Tagen den Pazifik und sie wollten damit beweisen, dass die Besiedlung Polynesiens von Südamerika aus möglich gewesen sein konnte. Namensgeber war Kon-Tici Viracocha Viracocha, der Sonnengott in der Mythologie der Inka. Dieser kam der Legende nach aus dem Osten und gründete als Kulturbringer "Kon-Tiki" die Zivilisation der Inkas. Nach einem Krieg war er gezwungen, weiter nach Westen zu segeln, eben möglicherweise Polynesien. Dieses Boot kann noch heute im Kon-Tiki-Museum in Oslo besichtigt werden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wo mehrheitlich die Überlegenheit von Maschinen den Krieg bestimmte und den Menschen ersetzte, wurde eine solche Leistung, die von sechs Männern verschiedenster Nationen bewältigt wurde, mit großer Euphorie aufgenommen. Dies bewirkte, dass das gleichnamige Buch in 60 Sprachen übersetzt wurde und zu einem Bestseller avancierte. Der Dokumentarfilm aus dem Jahre 1951 gewann danach einen Oscar. Ebenso enstanden nun in ganz Europa Themenrestaurants mit demselbigen Namen.
So eröffnete 1955 eröffnete Edith Frei im Zürcher Niederdorf das Lokal Kon-Tiki. Sie verwendete für das Namenschild und die Getränkekarte das Gesicht, das auf das Segel der Kon-Tiki gemalt war. Dieses wurde von Erik Hesselberg entworfen, dem Steuermann der Kon-Tiki. Als Vorlage diente der Kopf einer Statue, die hoch in den Anden steht und einen weißen König darstellt, der das Land vor den Inkas regiert haben soll. Für die Getränkekarte wurden Illustration aus seinem Buch "Kon-Tiki und ich" verwendet, das 1950 im Zürcher Arche Verlag erschien. Das Lokal wurde vom Ehemann der Besitzerin ausgestattet und hat sich bis heute nicht großartig verändert. Im Schaufenster der Bar befindet sich seit kurzem eine selbst gebastelte Miniaturnachbildung des Floßes, das in den 50er Jahren von einem begeisterten Kon-Tiki-Fan im Geiste von Thor Heyerdahl entstand und dem heutigen Besitzer Felix Lenz geschenkt wurde. Das Kon-Tiki in Zürich ist unseres Wissens heute noch die älteste Tikibar in Europa. Sie verkam nie zu einer Cocktailbar im amerikanischen Stil, sondern blieb eine Bar für Seeleute und Abenteurer, oder solche, die es werden wollten. Mitte der 70er Jahre erlangte das Kon-Tiki im Umfeld der neuen Kunst- und Musikszene Kultstatus (behandelt im Buch "Hot Love - Swiss Punk & Wave" und 1979 besungen von Kurt Maloo). Heute amüsieren sich die Kinder dieser Szene bei Metal- und Punkmusik und der eine oder andere träumt sicher von fernen, mystischen Südseeinseln. Ein weiteres berühmtes Tikilokal aus den 60er Jahren war das Kon-Tiki im Hotel Sheraton Skyline am Flugplatz Heathrow. Leider schloss es in den 90er Jahren für immer seine Pforten.
Das Kon Tiki im Herzen der Nürnberger Altstadt eröffnete 1978 in drei historischen Fischerhäusern am Ufer des Flusses Peglitz. Ende Januar 2002 zerstörte ein Brand einen Teil der Einrichtung. Nichtsdestotrotz wurde das Südsee-Restaurant mit seinen beiden Sea- und Tiki-Cocktail-Bars kurz darauf wieder eröffnet. Dabei wurden die Lokalitäten mit noch mehr Bambu und Tapa eingekleidet. Das Dekor wurde ursprünglich in Antikläden und im Hafen von Honolulu eingekauft. Ebenso wurde eine handgemalte Cocktail-Karte entworfen. Die heutigen Besitzer des Kon Tiki führen es "gut bürgerlich", haben von der Neo-Tikiwelle oder dem Buch "Book of Tiki" noch nie was gehört. Ebenso macht es den Eindruck, dass kaum jemand aus diesem Umfeld je dort gewesen wäre und in Nürnberg selbst keine "Szene" existiert.
Großbritannien - Beachcomber im Hotel Myfair und Trader Vic's im Hotel Park Land Hilton
Die ersten Tiki-Lokale Englands waren das 1960 eröffnete Beachcomber unterhalb des Hotel Myfair und das 1963 eröffnete Trader Vic's im Park Hotel Hilton, beide in London. Hinter diesen beiden Namen stehen Tiki-Pioniere aus den USA, in diesem Fall geht es aber um die später daraus entstanden Restaurant Ketten.
Die Beachcomber Bar hatte in den 60er Jahren einen legendären Ruf und wurde von der bekannten Hollywood-Filmproduzenten-Familie Danzig geführt. Der Filmdesigner Erik Blakemore kreierte eine Abenteuerwelt der Superlative. Über mehrere Stockwerke wurde eine höhlenartige Landschaft mit einer Galere darin als Bar geschaffen. Es gab ein Wasserbecken mit lebendigen Krokodilen und exotische Vögel in Käfigen. Ein Vogel mit dem Namen Peter war bekannt für seine schmutzigen Sprüche, und ein künstlich erzeugter Sturm wurde durch Projektionen und mit Geräuscheffekten erzeugt. Natürlich gab es musikalische Unterhaltung mit den eigenen Hausbands. Gäste wie Marlon Brando, Henry Mancini, Cary Grant, Steve Mc Queen und viele mehr frequentierten den Beachcomber und noch in den 70er Jahren waren dort Musiker wie ein James Last anzutreffen. 1985 wurde das legendärste Tikilokal, das Europa je gesehen hat, für immer geschlossen.
1963 eröffnete die kalifornische Trader Vic's-Restaurant-Gruppe im Untergeschoss des Park Lane Hilton Hotel ihr erstes Tiki-Lokal in Europa. Diese ist heute noch täglich geöffnet. Dieses wurde im "House of Bamboo"-Stil errichtet und ist das älteste noch bestehende Tiki-Lokal Europas. Bei einem Besuch in London natürlich ein Muss! Ein weiterer Trader Vic's dieses Typs wurde 1972 anlässlich der Olympischen Spiele im Untergeschoss des Hotels Bayrischer Hof in München eröffnet. Dies ist wie London ein Juwel aus vergangener Zeit und für alle Tikifans ein Muss.
Neun Butlin's Holiday Camps (eine Art englische Disneyland-Version) wurden von Sir Billy Butlin zwischen 1936 und 1966 eröffnet. Die Idee dahinter war es, in England und Irland eine günstige Ferienmöglichkeit anzubieten. Ab 1965 wurde von den bekannten britischen Architekten Patrick Garnett und Cloughley zusammen mit dem Filmdesigner Erik Blakemore unter dem Namen Garnett Cloughley Blakemore (GCB) in den sechs Butlins von Filey, Minehead, Skegness, Bognor, Regis und Ayr eine Beachcomber-Bar konzepiert. Auch Barry Island erhielt 1966 eine, die als größte Bar Europas schlechhin galt. Die Legende sagt, dass Billy Butlin die Idee nach einem Besuch der Beachcomber-Bar im Hotel Mayfair in London gehabt haben soll.
Anhand der Fotografien von John Hinde aus dem Buch "Our True Intent Is All Your Deligth" von Martin Paar und Abbildungen - die man auf beachcomber.bygonebutlins.com sehen kann - muss man klar sagen, dass die Tiki-Bars relativ dilettantisch eingerichtet und ausgebaut waren, wie eben die ganzen Anlagen. Dies war noch die Zeit davor, als die englische "Working Class" nach Portugal, Frankreich und Spanien in den Urlaub gingen, wo sie später über die spanischen Tiki-Bars herfielen. 1968 brannte die erste Beachcomber Bar auf der Barry Island ab und die letzte Tiki-Bar wurde 1997 in Minehead geschlossen.
Frankreich
Obwohl die "Grand Nation" bis heute auf Tahiti, Neukaledonien und weiteren Inseln so eine Art Kolonialmacht darstellt und dort natürlich auch französisch gesprochen wird, scheinen weder die Geschichte mit der Kon-Tiki noch amerikanische Tiki-Kultur oder aber der Tourismus-Hype, der in den 70er Jahren auch vor der Küste Frankreichs nicht Halt machte, auf die Franzosen eine Wirkung gehabt zu haben. Sogar die Neo-Tiki-Welle, die doch bis heute jedes europäische Land erfasst hat, konnte nichts bewirken. Es macht den Eindruck, dass sich einmal mehr das Interesse nur auf Gerichte, sprich: das Essen reduziert. Tahitianische- und französisch-polynesische Restaurants sind im Land weit verbreitet.
(Fortsetzung über Tiki in Spanien und Deutschland folgt in Ox #80)
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #79 August/September 2008 und Lurker Grand
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #81 Dezember 2008/Januar 2009 und