Unter dem Titel „Tensión – Spanish Experimental Underground 1980-1985“ erschien im Frühjahr 2012 auf Munster Records aus Madrid eine Compilation, deren Themengebiet sich aus dem Titel erschließt und die den Blick derer, die es interessiert, auf die spanischen Ableger jener Szene kurz nach Punk lenkt, die zusammenfassend oft als „New Wave“, „Dark Wave“ oder „Goth“ bezeichnet wird. Nun tendiert man leider dazu, die Musikgeschichte oftmals nur anhand jener Zentren von popkultureller Aktivität wahrzunehmen, die durch mediale Präsenz schon früh in den Fokus rückten: New York, San Francisco, Los Angeles, Paris, London, Berlin – wer mit seiner Musik wahrgenommen werden wollte und wurde, musste sich in den Prä-Internet-Tagen dort aufhalten.
Madrid und Barcelona gehörten nicht zu diesen Underground-Metropolen, waren nach dem Ende von 40 Jahren faschistischer Franco-Diktatur Anfang der Achtziger gerade erst dabei, aus der Erstarrung zu erwachen, und waren im Gegensatz zu heute noch nicht auf den Weltkarten der Hipster und Künstler verzeichnet. Dennoch tat sich dort etwas, nachdem schon Ende der Achtziger Punk seinen Weg auf die iberische Halbinsel gefunden hatte. Erste internationale Kontakte wurden geknüpft, auch nach Deutschland, nach Berlin, nach London. Und als dort und in New York dann Post-Punk Einzug hielt, Industrial, experimenteller Noise à la EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, fand diese Musik auch ihren Weg nach Spanien, wurde dort angesichts horrender Preise für Tonträger bei gleichzeitig lachhaft geringen Einkommen über Tape-Trading weiterverbreitet, in ein paar wenigen Fanzines rezensiert, in noch weniger Radiosendern gespielt. Und so konnte sich, vor allem in den Metropolen Barcelona und Madrid, eine kleine Szene entwickeln, in deren Mittelpunkt in Barcelona beispielsweise die Formation KLAMM stand mit dem bandeigenen Label Klamm. Unter dem Einfluss von New Yorker No Wave, von Industrial à la THROBBING GRISTLE, von Extremisten wie EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN entstand schließlich eine Musikszene, die im CD-Booklet als „otro rock“, „andere Rockmusik“ bezeichnet wird. Bei genauerer Beschäftigung stellt man so fest, dass in Spanien vor 30 Jahren nicht weniger kreativ musiziert wurde, und auch wenn kaum jemand in Deutschland je von Formationen wie KLAMM, XEEROX (ein gewisser Krishna war hier dabei und tauchte später in Düsseldorf bei LIAISONS DANGEREUSES wieder auf), NEW BUILDINGS (eine klare Neubauten-Referenz), MAR OTRA VEZ, CLAUSTROFOBIA, LA GRAN CURVA, LOS INICIADOS oder IL ÉPOCA DEL HOMBRE gehört haben dürfte, offenbart sich hier, was seinerzeit mit D.I.Y.-Spirit in den gerade erkämpften Freiräumen wie Jugendzentren und Clubs passierte.
Ich bat Julián Sanz Escalona, der „Ténsion“ zusammengestellt hat, mir einige Fragen zu beantworten, und stellte fest, dass mein 1963 geborener Interviewpartner nicht nur ein gefragter Produzent ist, sondern mit seinen diversen Bands, zu denen neben der 1980 gegründeten Formation LA FUNDACIÓN (die dem „Onda siniestra“, so die spanische Bezeichnung für „Dark Wave“, zugerechnet wurden) auch die 2002 ins Leben gerufenen ERIZONTE gehören, auch selbst Teil der von „Tensión“ portraitierten Szene war und ist.
Julian, du hast ja eine sehr lange und interessante Geschichte in der spanischen Musikszene hinter dir.
Vieles steht unter ERIZONTE in der spanischen Version von Wikipedia. Ich habe es vor kurzem erst gelesen und es macht den Eindruck, dass meine „Nicht-Karriere“ voller Phasen ist, in denen ich anscheinend nichts getan habe. In diesen Zeiten stand ich als Musikproduzent einfach nicht im Rampenlicht, habe aber auch immer weiter an meinen eigenen Ideen gearbeitet, um sie dann ein paar Jahre später zu veröffentlichen. Ich habe nie versucht, anders zu sein, dieser besondere Stil ist nichts, was bewusst entstanden wäre, sondern vielmehr das ungeplante Ergebnis einer immer währenden Gratwanderung auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Es ist eine Mischung aus Fehlern und Erkenntnissen, Virtuosität in meiner eigenen Herangehensweise und das absolute Gegenteil in der anderer – Kohärenz und Dilettantismus, Erfindungen und Veränderungen –, um mich aus meinem Außenseitertum heraus zu entwickeln.
Du warst zwölf, als 1975 – 30 Jahre nach dem Ende des Faschismus in Deutschland – mit dem Tod Francos auch in Spanien die Diktatur endete. Welche Erinnerungen hast du daran?
Wir waren politisch sehr aktiv. Alles musste neu aufgebaut, vieles musste neu eingefordert, verteidigt und wieder hergestellt werden. Es waren erschütternde und spannende Zeiten zugleich; in einem Film wäre es der perfekte Hintergrund für Heranwachsende zu Beginn ihrer musikalischen Abenteuer gewesen. Aber unser alltägliches Leben war ziemlich gefährlich und auch beängstigend, wenn ich heute darüber nachdenke, vor 30 Jahren, als Spanien praktisch isoliert und definitiv noch nicht Teil der westlichen Welt war.
Inwieweit hat deiner Meinung nach der Faschismus und der langsame Übergang zur Demokratie die spanische Underground-Musik beeinflusst? Dieser politische Umschwung fällt zeitlich ja ziemlich genau mit dem Aufstieg von Punk und New Wave in den USA und Europa zusammen.
Dazu muss man sagen, dass der repressive, politische Zensurapparat noch einige Jahre nach Beendigung der Diktatur Bestand hatte. In der Übergangsphase zur Demokratie war in Spanien praktisch jeder, der jung war und Musik machte, ein Aktivist und trug ein politisches Banner; sei es für Freiheit oder Selbstverwirklichung, sexuelle Entfaltung, oder Internationalität – all die Sachen eben, die in einer Diktatur nicht vorhanden sind –, und dazu kam diese Prise Freiheit und Rebellion, die der Rock’n’Roll mit sich brachte. Underground-Musik war überall und sehr produktiv, auch wenn es nicht immer reichte, einfach die englischen Idole nachzuahmen. Der einheimische Punk wurde von der Presse nie ernst genommen und eher stiefmütterlich behandelt. Aber dann kam dieser sehr spanische New Wave, der später unter dem Namen „Movida“ bekannt wurde.
Wie kamst du zur Musik, welche Bands faszinierten dich – und was waren deine ersten musikalischen Gehversuche?
Bevor ich wirklich selbst Musik machen konnte, musste ich mich, seit ich ein Kind war, gegen den Willen meiner Eltern, der Schule und meiner ganzen Umgebung behaupten. Ich habe mir selbst Instrumente gebaut, auf denen ich dann spielte. Ich war für alle Musikrichtungen offen und festen Willens, Teil einer Musikszene zu werden. Anfangs war meine nähere Umgebung vom Progressive Rock dominiert, wobei viele Bands aus diesem Bereich nicht in Würde gealtert sind, außer vielleicht KING CRIMSON oder CAN. Ich hörte damals aber auch New Wave und geriet auch in den Konflikt zwischen Rockern, Mods und Punks. Damals beschäftigte ich mich mit komplexer, schwieriger Musik genauso wie mit Folk, Jazz, Rock oder dem, was man als zeitgenössische Musik bezeichnet, also moderne Klassik. Außerdem habe ich die Musikgeschichte studiert, nur für mich, indem ich Bücher gelesen habe, ohne das mit jemanden teilen zu können. Meine ersten musikalische Gehversuche waren geprägt von den Schwierigkeiten, meine eigene Band zu gründen. Allein schon die Beschaffung der Instrumente oder der Ausrüstung war viel Arbeit. Wir nannten uns LOS PRESUMIDOS, „Die Angeber“, und machten eine Art New Wave-orientierten Rock’n’Roll, inspiriert von Musikern wie Eddie Cochran und Gene Vincent. Etwa zu dieser Zeit fing ich auch an, ernsthaft Bass- und E-Bass-Spielen zu lernen bei Billy Villegas, einem wichtigen Virtuosen, der bei uns in der Nähe wohnte, und mich als seinen einzigen Schüler aufnahm, und ich lernte bald alles von der Jazz-Band WEATHER REPORT und Vergleichbares kennen. Seitdem bin ich als Einzelkämpfer unterwegs.
Wie stark war die frühe spanische Punk/Wave/Underground-Szene mit den anderen europäischen Musikszenen verbunden, speziell mit der englischen, französischen und deutschen?
Viele gut betuchte junge Leute reisten ins Ausland und wir baten sie dann, uns ein paar Platten mitzubringen, die in Spanien nicht zu bekommen waren. Wir hatten ja nur spanische Musikmagazine, von denen die größeren den neuen Richtungen wie Punk oder New Wave größtenteils ablehnend gegenüberstanden. Diese Lücke haben wir dann vor allem mit eigenen Fanzines auszufüllen versucht, die aber immer mehr zu umfangreichen Dissertationen und ellenlangen Texten mutierten. Wir hatten aber auch unter den höheren Preisen der importierten Platten zu leiden, die gab es nur in darauf spezialisierten Läden und sie kosteten meist mindestens oft fast ein Viertel des üblichen Mindestlohns. Dann hatten wir noch die Radiosender La Factoria, Onda 2 und dessen Nachfolger Radio 3, die ein wenig Licht in die Dunkelheit brachten.
Mit dem Sampler „Tensión – Spanish Experimental Underground 1980-1985“ versuchst du selbst ein bisschen Licht ins Dunkel dieser Zeit zu bringen. Wer hatte die Idee dazu, wie sah sie genau aus und wie viel Zeit und Arbeit habt ihr investiert?
Die Idee hatte an sich mein Label Munster Records. Ich habe bereits in anderen Bereichen mit ihnen zusammengearbeitet und sie fragten mich, ob ich nicht Lust auf so ein Projekt hätte. Grundlage der Idee war, dass es einer macht, der aus dieser Szene und der Zeit kommt, andererseits aber auch Ahnung hat, die Lizensierungen und all das zu managen. Das ist bei einer Platte mit Wiederveröffentlichungen manchmal ganz schön schwierig, weil jede einzelne Aufnahme von einem anderen Künstler stammt und einige von ihnen heute gar nicht mehr am Leben sind. Es war viel Arbeit, aber mit ein wenig Glück, gnädigen Fristen von Munster Records und der Hingabe aller Beteiligten haben wir einige Bands zusammengestellt. Dann ging es in die Produktionsphase, in der wir die ganzen Originalaufnahmen, darunter Kassetten, Vierspurbänder und Vinyl, und auch das Bildmaterial von den Bands bekamen. Die Vorgabe war ein Lied pro Band, von denen einige schon lange nirgends mehr zu hören waren. Dann fiel uns auf, dass unser Konzept für eine ganze Reihe von Compilations funktionieren könnte, auch für einige andere Subgenres, andererseits war die Tracklist stilistisch nur vage zusammenhängend und ein Doppelalbum würde auch nicht ausreichen. Daher sortierten wir einige Gruppen, die die Industrial-Avantgarde, Electronic und den „offiziellen“ Post-Punk repräsentierten, wieder aus, um ihnen später mal ein eigenes „Tensión“-Album zu widmen, und wählten stattdessen ganz andere. Es waren aber definitiv alle Kinder des Rock, der Poesie und der künstlerischen Avantgarde.
Inwiefern unterscheiden sich die auf „Ténsion“ vorgestellten Bands von anderen dieser Zeit aus anderen Ländern? Was war das „Spanische“ an ihnen? Ich habe da im Deutschen eventuell vergleichbare Bands wie MALARIA oder EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN im Kopf.
Ich glaube, als Spanien sich wirtschaftlich, sozial und kulturell normalisierte und dem Westen anglich, hatten wir das Gefühl, einen großen Teil unserer Persönlichkeit, der uns diesen besonderen exotischen Flair gibt, zu verlieren. Jedes Genre sucht in der Musikszene nach seiner Basis und unsere war eben das Bizarre. Alles musste auf unsere eigene Art und Weise geschehen, um eine eigene musikalische Avantgarde zu etablieren. Schlussendlich kann ich dir aber sagen, dass das besondere „Spanische“ der meisten Gruppen in ihrer Originalität lag. Es ging uns darum, möglichst originell zu sein, so wenig wie möglich mit anderen Bands gemein zu haben, vor allem auch untereinander.
Wenn sich jemand heute über diese spezielle Untergrund-Bewegung informieren möchte, wo soll er anfangen? Welche Bands empfiehlst du? Und ist etwas von ihnen zum Beispiel in Form von Rereleases erhältlich?
Also, ich würde anfangen mit den Pionieren, die die Zeit, die wir auf unserer Platte vorstellen, geprägt haben ... Ich spreche von MACROMASSA und ESPLENDOR GEOMÉTRICO. Außerdem noch TALLER DE MÚSICA MUNDANA oder ORQUESTA DE LAS NUBES. Aber ich muss sagen, dass es mir nicht leicht fällt, Empfehlungen auszusprechen, wo ich doch bei einigen dieser Bands Mitglied war. Aber ich kann dir für jede einzelne Band den genauen Grund erläutern, warum sie mit drauf ist. Leider muss ich sagen, dass die Geringschätzung der gewöhnlichen spanischen Plattenindustrie, speziell in Bezug auf diese Periode spanischer Musikgeschichte, einfach grotesk ist. Alles, was bisher passiert ist – mit wenigen lobenswerten Ausnahmen – lief innerhalb eines kleinen Netzwerks wahrer und emsiger Musikliebhaber, welches wiederum viel kleiner ist als zum Beispiel in Ländern wie Mexiko. Trotzdem werden diese Lücken, wenn auch etwas spät, durch Munster Records nun mit Releases wie diesem geschlossen. Wie ich erwähnte, ist „Ténsion“ die Nummer eins in einer Reihe von vielen ähnlichen Veröffentlichungen, von denen die nächste die Jahre 1986 bis 1990 abdecken wird, dann folgt 1991 bis 2000. Manche Bands werden auch gesondert veröffentlicht, so wie das beispielsweise schon mit ESPLENDER GEOMÉTRICO oder DERRIBOS ARIAS geschehen ist, und später vielleicht noch mit MAR OTRA VEZ oder LA FUNDACIÓN.
Wo siehst du die spanische Underground-Szene heute in Zeiten enormer wirtschaftlicher Probleme? Mir kommt es außerdem so vor, als sei die spanische Musikszene nie wirklich mit dem Rest Europas verbunden. Im Gegensatz zu amerikanischen, britischen oder skandinavischen Bands schaffen es nur wenige aus Spanien nach Deutschland.
Ich sehe die Szene am selben Platz wie immer. Wir befanden uns schon immer in Krisenzeiten, die heutigen Probleme sind für uns nichts Neues, verglichen mit der Vergangenheit. Es erscheint sowieso alles zweitrangig, wenn du inmitten eines riesigen Sturms stehst, wie ihn die Musikindustrie gerade erlebt, oder wenn du an den Mangel an musikalischer Bildung, oder generell die Wertevermittlung durch die Gesellschaft denkst, oder an die Möglichkeiten, die schon in besseren Zeiten nicht genutzt wurden. Aber wir werden es überstehen. Es stimmt, dass wir nie wirklich mit der Außenwelt verbunden waren. Aber die Musik, die wir machen, wird in Europa und überall sonst gemocht. Und vielleicht können wir das ja in Zukunft noch ausbauen.
Übersetzung: Nico Bensing
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