Im Jahr 2003 kamen Carmen „Sunny“ Fischer und ihr Mann Chris(tian) auf die Idee, ihren Lieblingsfilm „Made in Britain“ auf DVD herauszubringen. Gesagt, getan. Das ist bekannt. Kurz darauf brachten sie von PÖBEL & GESOCKS die vielleicht erste deutsche Punk-DVD auf den Markt. Und Musik-CDs gab es natürlich auch. Als Konsument stieß ich jedoch erst 2009 so richtig auf das Essener Label, da es auf dem Unterlabel Crazy United nun auch Vinyl-Veröffentlichungen gab. Inzwischen habe ich jeden Release in einmaliger Form (es gab eben häufig unterschiedliche Farben) im Bestand, was sich bis jetzt auf 141 Scheiben summiert. Zum 18. Label-Geburtstag nahm ich mir Christian vor, um mit ihm die aus meiner Sicht zehn relevantesten LPs zu besprechen – und da gab es einiges an Punk, Ska, Northern Soul, Psychobilly, Oi! und Rock. Was 2009 mit WIENS NO. 1 begann, hat also im Underground wirklich Spuren hinterlassen. Neben dem Label betreibt das Paar auch den Essener Musikclub Don’t Panic.
GIMP FIST „The Place Where I Belong“ (Pic-LP, 2015): Eine enorm treue Band, oder? Alles war gut, was das Trio machte, aber ich finde, auf dieser Scheibe befinden sich die meisten ihrer Hits.
Auf jeden Fall! Eine ganz besondere Band, gute Freunde und fester Bestandteil der Labelfamily seit über 15 Jahren. Die Darlingtoner lernten wir 2005 kennen, im Bunker in Aachen, als wir das Konzert der BOVVER BOYS und URBAN REJECTS filmten. Ein paar Tage später kam Post mit dem Demo und ihrer ersten Eigenproduktion, später als „One Tribe“ veröffentlicht, sowie T-Shirts und netter Label-Bewerbung. Wir frühstückten gerade, legten die CD rein und schon beim zweiten Song waren Sunny und ich uns einig. Für mich sind GIMP FIST tatsächlich eine Ausnahmeband, Johnny ist einer der talentiertesten Songschreiber, die ich in all den Jahrzehnten erlebt habe. Ich kenne tatsächlich keinen schlechten Track. Meine Lieblingsscheibe ist aber immer noch „Marching On And On“.
THE HOTKNIVES „About Time“ (LP, 2010): Ska war ja nicht zuletzt durch deine Frau Sunny ein Thema und diese Band geht ja immer, oder?
Sunny ist mit ihrer Freundin Wiebke tatsächlich seit frühester Jugend den Brightonern hinterhergefahren, von Gig zu Gig quer durch Deutschland, und ich glaube, es ist auch heute noch eine ihrer absoluten Lieblingsbands. Wenn jemand im Don’t Panic HOTKNIVES auflegt, weiß ich jedenfalls, wo ich sie finde – mitten auf der Tanzfläche, haha. Der Ska-Anteil auf dem Label war jedenfalls anfangs eindeutig Sunnys Fußabdruck, das stimmt. Bei mir ist der Grat zwischen „Kirmesmusik“ und 2Tone, den ich liebe, manchmal sehr schmal. Ich mag eigentlich eher Skinhead-Reggae, und wenn es mir mit den Bläsern und der teils zu aufgeregten Albernheit zu viel wird, schalte ich ab. Jedenfalls den Plattenspieler! Live ist das eine andere Sache ... da überkommt mich dann auch schnell die gute Laune. Übrigens haben EL BOSSO & DIE PING PONGS als lieb gemeinter Seitenhieb ihre zweite Platte wohl auch deshalb „Nie wieder Kirmesmusik“ genannt.
TOXPACK „Bastarde von morgen“ (LP, 2011): Eine Platte wie ein reinigendes Gewitter, es gibt mehrere Versionen und doch wurden eventuell zu wenig davon gepresst.
Für mich immer noch ihre beste Platte mit dem das Adrenalin steigernden Schlachtruf „E.B.S.C“ oder „Uhrwerk“, und wohl auch der Durchbruch für unsere Berliner Buddys. Wobei die letzte Scheibe „Kämpfer“ auch wieder ein kleines Meisterwerk geworden ist. Tommy, Schulle und Stephan, der ja vorher mit seinen TOWERBLOCKS schon drei Scheiben bei uns veröffentlicht hat, werden immer ein Teil der Labelfamily bleiben und wir freuen uns für sie über ihren Erfolg. Die letzten Vinyl-Versionen sind tatsächlich schon seit vielen Monaten ausverkauft. Ich finde aber insbesondere bei Vinyl sollten Labels ihre versprochenen Limitierungen auch einhalten und nicht sofort die x-te Nachpressung mit der nächsten Farbe hinterherschleudern. Das macht in meinen Augen den Anreiz und die Sammelleidenschaft kaputt. Aber wir bereiten tatsächlich gerade zum Label-Geburtstag eine besondere Edition vor.
THE LONG TALL TEXANS „The Devil Made Us Do It“ (Pic-LP, 2014): Erneut mit Mark Carew von THE HOTKNIVES. Eine Eighties-Psychobilly-Kultband. Und die Platte lief auch sehr gut. Vor allem endlich mal eine Picture LP mit richtigem Cover! Hast du auch nachgepresst?
Ich mag eigentlich Picture-LPs nicht so gerne, hauptsächlich weil die wenigsten ein Cover dazu spendieren. Aber auch die höheren Laufgeräusche gehen mir als Hörer echt auf den Sack, und von der Schwierigkeit, die richtige Rille für einen Song zu finden, ganz zu schweigen, haha. Die Picture-LP wurde dem Titel gerecht genau 666 Mal gepresst. Die normale Vinyl-Version erschien erst letztes Jahr, aber wir haben mit einer Teilauflage an Unikaten versucht, etwas Besonderes zu machen. Jedes Exemplar ist tatsächlich anders vom Farbverlauf her – mittlerweile ein begehrtes Alleinstellungsmerkmal bei unseren Releases. Ansonsten will ich nur einen Song von der Scheibe zitieren: „What part of Fuck off don’t you understand?“ Ich liebe diese Band!
EMSCHERKURVE 77 „Wurzeln, Seele, Elternhaus“ (7“, 2014): Auch eine logische Konsequenz, da ja Bandmitglied Spiller die Gigs im Don’t Panic-Club bucht. Und als wichtigste Frage: Warum ist der Begriff „Heimat“ bei den Leuten im Revier nicht so negativ besetzt wie beispielsweise in Bayern? Warum ist das „Revier“ der beste Ort zum Leben in der BRD?
Er ist nicht der beste Ort, ganz gewiss nicht. Aber der Ruhrpott ist einzigartig und er prägt dich und einen gewissen Menschenschlag, den ich sehr mag. Ich betrachte mich auch als Teil davon. Ich glaube, generell muss der Begriff „Heimat“ im Gesamtkontext gesehen werden. Wenn falscher Stolz, sich als Elite oder etwas Besseres zu fühlen, und Patriotismus bis hin zu Vaterland mitspielen, ist es egal, ob Bayern, Ruhrpott oder sonst wo. Die Grenzen zum Negativen sind da schnell fließend. Da wir aber bedingt durch die damalige Industrialisierung ein Schmelztiegel sind, bereichert durch viele Einflüsse, Kulturen, Nationalitäten bis hin zu Gepflogenheiten, ist dies eigentlich nicht der Kontext. EMSCHERKURVE 77 haben übrigens seit 16 Jahren ihre feste „Heimat“ (sic!) bei Sunny Bastards. Da war in den Räumen des Don’t Panic, glaube ich, noch ein Sexkino, haha. Aber mit Spiller verband mich auch vor dem Label schon eine Freundschaft. Insofern hast du recht, was Konsequenz und Booking für den Club angeht.
CHARGE 69 „Much More Than Music Vol. 1“ (LP, 2015): Ein erstes Mammutprojekt, die Elite des Punk ist zu Gast und singt auf Englisch die Songs der Franzosen. Campino, Micky Fitz (RIP), TV Smith, Beki Bondage – wie waren die alle unter einen Hut zu bekommen?
Leider ein Album, das total untergegangen ist, trotz der unglaublichen Liste an Beteiligten. Es lag sicher zum Teil auch daran, dass CHARGE 69 immer eine Band waren, die mit ihren französischen Texten „Special Interest“ waren, und man dem Album aufgrund von Bandnamen und Titel nicht angemerkt hat, wer da alles mit an Bord ist und dass die Songs auf Englisch und im neuen Gewand aufgenommen wurden. Claude von CHARGE 69 hat ja auch ein kleines Label und ist ein Szene-Urgestein, insofern hat er das alles tatsächlich selber auf die Beine gestellt.
V.A. „Die Geschichten von Volxsturm – Akkorde unserer Jugend“ (2LP, 2018): Meine Herren, was für ein Produkt. Sogar die BROILERS würdigten die Mecklenburger mit einem witzigen Song. Wie lange habt ihr an diesem Projekt gearbeitet, was gibt es an Ausstattung?
VOLXSTURM waren bis zu ihrer Auflösung, an der ich heute noch zu knabbern habe, über 15 Jahre bei Sunny Bastards. Uns verbindet einfach total viel mit der Band, von ihrer Musik bis hin zu persönlichen Freundschaften, unseren vielen Label-Nightliner-Touren – Urlaub mal anders, das haben wir eine Zeit lang jedes Jahr gemacht – und so vielen schönen Anekdoten. VOLXSTURM sind für mich immer noch eine der wichtigsten und prägendsten deutschen Oi!-Punk-Bands. Da war es naheliegend, dass wir zu ihrem Jubiläum etwas Besonderes machen. Tost von VOLXSTURM war es sehr wichtig, nicht einfach nur bekannte Bands zu fragen wegen des Namedroppings. Alle internationalen Acts verbinden etwas Persönliches mit ihnen. Das Ganze hat über zwei Jahre Vorbereitung gebraucht und wurde dann zur Doppel-Vinyl im Achtfach-Gatefold und mit eingeklebtem Buch mit all den internationalen Bands. Ich glaube, nur der „Tribute To Slime“-Sampler hat länger gedauert, haha. Und wie wir drei Nächte lang mit Freunden die Bücher selbst eingeklebt haben, vergesse ich wohl nie.
HARTE WORTE „So wie ihr uns kennt!?“ (LP, 2018): Eine total unterschätze Band in meinen Ohren. Jedes Lied kann man vor allem auch inhaltlich nachvollziehen. Was sagst du zu den Jungs?
Echt, du findest die unterschätzt? Mit dem Album sind sie leider unfreiwillig in den Charts gelandet. Was wir eigentlich verhindern wollten, da extra vorrangig Szeneshops und Läden für Vinyl beliefert wurden, die nicht an diesem Media Control-Mist angeschlossen sind. Na ja, HARTE WORTE sind, um auf den Ruhrpott zurückzukommen, genau dieser Schlag: Keine Allüren, ehrlich, herzlich und offen heraus, eben „frei Schnauze“. Sie verkörpern diese einmalige Mischung aus „einfacher Mann“, prolligen Weisheiten und Klartext, wie zum Beispiel mit ihrem Song in Richtung Deutschrock-Klientel oder dem schönen Titel „HDFFDS“: „Halt deine Fresse, fick dich selbst und geh uns nicht auf die Eier / Fick PEGIDA, AfD, ich nenn sie weiter braune Scheiße“. Sänger Marco hat mit Lukas zusammen gerade „Gossenpoesie“ abgeliefert. Kommt dieser Tage raus und macht genau da weiter.
THE SENSITIVES „Punch“ (LP, 2020): Wenn es einen Inbegriff für leidenschaftliche Musiker:innen gibt, dann kommt man an diesen dreien nicht vorbei, oder? Die wollen, die liefern, und diese Platte ist quasi ihr Meisterstück?
THE SENSITIVES lernten wir in Wien kennen auf unserer Nightliner-Tour. Die standen vorm Viper Room, hatten wohl ihr Konzert gecancelt und fragten, ob sie mit auftreten können, und wir haben den Doordeal dann aufgeteilt. Seitdem sind vier Alben vergangen, und wenn du diese Energie und die unglaublich geile Mischung von Punk, Folk bis Offbeat und Rock’n’Roll auf der Bühne erlebst, mit nur drei Leuten – das ist einfach Wahnsinn! „Punch“ ist großartig, wobei meine Lieblingsscheibe immer noch „Love Songs For Haters“ ist. Vielleicht fühle ich mich durch den Titel persönlich mehr angesprochen, haha
OXO86 „Live in Leipzig – Menschen, Tiere, Sensationen“ (2LP, 2020): Live-Alben haben einen miesen Ruf, andererseits sind OXO86 eine Hammer Live-Band, die auch von den coolen Ansagen des Sängers Willi befeuert wird. Hier passt wohl alles: Sound, Ansagen, Lieder. Ein Plädoyer für mehr Live-Platten?
In meinen Schrank stehen ganz wenig Live-Platten, da es meiner Meinung nach viel zu viel überflüssigen Mist gibt, wo die Stimmung einfach nicht rüberkommt und mir die Studioaufnahmen immer besser gefallen. Die Bands selber sehen das meist anders und viele wollen in ihrer Vita so was eingefangen haben. Die OXO86-Live-Doppel-LP, zusammen mit der DVD, ist wohl auch deshalb unser erstes Live-Vinyl bei Sunny Bastards. Da fiel die Entscheidung aber auch nicht schwer, denn wenn OXO86 diesen Konzertspaß nicht auf ein Medium transportieren können, wer dann?
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #157 August/September 2021 und Markus Franz