Die Band aus Lond... nein, SPIRITUAL CRAMP kommen aus San Francisco, aber irgendwie hat ihr Punk einen Vibe, der einen im ersten Moment glauben lässt, wir hätten das da mit einem Newcomer von der Themse zu tun. Bei genauerem Betrachten (Hören!) ihres verdammt eingängigen Debütalbums offenbaren sich dann noch mehr Feinheiten. Frontmann Michael Bingham beantwortete unsere Fragen. Die anderen in der Band sind Jacob Breeze (gt), Nate Punty (gt), Mike Fenton (bs) und José Luna (dr) sowie Julian Smith (dr).
Ihr seid zu sechst in der Band – warum so viele, wenn normalerweise drei den Job machen können?
Ein wichtiger Aspekt unserer Live-Show ist die Energie, und mit drei Leuten kann man die nicht in dem Maße erzeugen. Es braucht mindestes sechs Leute. Was ich normalerweise auf der Bühne so alles veranstalte, wäre nicht möglich, wenn ich auch noch Gitarre spielen müsste. Es ist effektiver, fünf Leute in der Luft zu sehen als zwei. Es ist wie eine große Wand aus Bewegung. Riesig!
Hattet ihr von Anfang an eine genaue Vorstellung davon, welche Art von Musik ihr machen wollt? Und wie sieht das jetzt aus? Kannst du das in Worte fassen?
Ja, wir wussten immer, wie die Stimmung, der Sound und der Look der Band sein sollten. Und wir haben sehr hart gearbeitet, um dahin zu kommen. Wir wollten etwas machen, das widerspiegelt, wie wir die Welt sehen. Wir wollten Musik machen, die von Bands wie THE CLASH und THE ENGLISH BEAT inspiriert ist, aber auch Elemente des Sounds von INTERPOL oder BLOC PARTY enthält. Indierock und Punk und alles, was wir mögen, auf einmal.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der physische Aspekt, wenn du deinen Körper zu den Songs bewegst? Musik bringt Menschen zum Tanzen, manche mehr als andere. Bei dir ... mehr!
Live ist es ein Energieaustausch. Wir gehen raus, drücken auf Start und geben 45 Minuten lang Vollgas. Wir machen Jump Kicks und coole Moves und sehen dabei verdammt gut aus. Am Ende unseres Sets sind wir normalerweise schweißgebadet und das Publikum auch. Das ist Teil des Erlebnisses, wenn du ein Cramp Head bist. Alle tanzen. Alle Köpfe nicken synchron im Takt. Alle drehen durch. Die Band und die Fans verschmelzen zu einer Einheit.
„Blowback“ eröffnet das Album mit Dub-Sounds. Ich hätte gerne noch mehr Dub auf dem Album gehört, das scheint euch zu liegen. Was denkst du über Dub im Allgemeinen und im Zusammenhang mit eurer Band?
Wir lieben Dub-Musik. Wir sind Punks und wir kennen unsere Wurzeln. Wir wollen Elemente von allem, was wir lieben, in unsere Musik einfließen lassen und eines davon ist Dub-Musik. Es ist Drum and Bass-Musik. Es ist Punkrock, es ist Indierock, es ist alles, was wir lieben, in einer Band vereint.
Welche Rolle spielt die Band in eurem Leben? Ist sie immer noch „nur“ ein zeitaufwändiges Hobby oder strebt ihr an, sie zu eurem Vollzeitjob zu machen?
SPIRITUAL CRAMP ist mein Vollzeitjob. Ich stehe jeden Tag auf und tue nichts anderes, als Songs zu schreiben, Touren zu planen und sonstige Dinge für die Band zu erledigen. Das ist im Guten wie im Schlechten alles, was ich mache. Wenn ich mal nicht mit dem Fortkommen der Band beschäftigt bin, verbringe ich Zeit mit meiner Familie, gehe ins Fitnessstudio oder surfe. Gestern Abend war ich mit meiner Frau und unseren Freunden bei der Premiere der Fernsehserie „The Bear“ in Los Angeles.
Um ehrlich zu sein, dachte ich zuerst, ihr wärt eine britische Band, bis ich merkte, dass ihr aus San Francisco kommt ... Hat dir das schon mal jemand gesagt?
Ja, sehr oft.
Ihr seid auf einem recht neuen Label namens Blue Grape – wie kam es zu dieser Verbindung?
Dave, der für das Label zuständig ist, kam zu einer Show in Chicago, um sich die Band anzusehen. Ich glaube, er kannte unsere Sachen damals schon einigermaßen, aber die Live-Show hat ihn dann umgehauen. Am nächsten Tag wachten wir mit einem Angebot von Blue Grape in unserem E-Mail-Postfach auf und wussten sofort, dass sie die Richtigen sind. Wir haben uns nicht geirrt. Sie kümmern sich besser um uns als jeder andere.
Kannst du uns etwas mehr über die Texte und die Ideen hinter einiger eurer Songs erzählen? In „Blowback“ singt ihr: „Another riot in the streets [...] Another town that’s burning down because the cops are being shitty“ ... Und ihr setzt dieses Thema in „City on fire“ mit den Zeilen fort: „They’re burning all the buildings / They’re burning all the cop cars / They’re throwing bricks at the windows / Well, light the city on fire“.
Diese Texte entstanden 2021 anlässlich der Black Lives Matter-Proteste. Die Amerikaner hatten die Nase voll von der Polizeibrutalität und den verantwortlichen Politikern. Also gingen die Leute auf die Straße und steckten alles in Brand. Das Land war in einer tiefen Krise. Ladenbesitzer bewahrten Waffen unter der Theke auf. Punks randalierten auf den Straßen. Chaos, wohin man schaute.
Und in „Talkin’ on the internet“ heißt es: „You’re always talking on the internet /About somebody else / You’re always talking on the internet / We don’t see you around“ ...
In diesem Lied geht es darum, wie erwachsene Menschen, die in Bands spielen und in der Unterhaltungsbranche arbeiten, sich im Internet zum Deppen machen, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es ist mir oft unmöglich, die Kunst von jemandem wirklich zu mögen, weil die Leute online so unausstehlich und narzisstisch rüberkommen. Ich muss mich von so was distanzieren.
„Herbert’s on holiday“ – lustig, dass du hier den deutschen Namen verwendest ... Was ist der Hintergrund?
Ein Herbert ist jemand, der sich wie ein Skinhead anzieht, aber ohne sich den Kopf zu rasieren. Manchmal ziehen Freunde mich auf und nennen mich Herbert, weil ich einfach kein richtiger Skinhead bin. In dem Lied geht es darum, mit meiner Frau in den Urlaub zu fahren. „Herbert’s on holiday“ ist ein Bad-Boy-Liebeslied.
Was denkst du grundsätzlich, wie politisch sollte eine Band in diesen Zeiten sein? Und wo positioniert ihr euch selbst – als Individuen und als Band?
Ich denke, jeder sollte so politisch sein, wie er will. Man ist niemandem etwas schuldig. Nur weil einem jemand sagt, dass man eine Meinung zu etwas haben muss, stimmt das noch lange nicht. Ich scheiß auf jeden, der mir sagt, was ich tun soll, und auch sonst auf alle. Für immer.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #175 August/September 2024 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #175 August/September 2024 und Joachim Hiller