Some Candy Talking
Die 1984 gegründeten, aus Glasgow stammenden THE JESUS AND MARY CHAIN waren eine der wichtigsten britischen Post-Punk-Bands der Achtziger, und der extrem noisige Sound ihrer frühen Releases, das feindselige Auftreten mit dem Rücken zum Publikum, machte die Brüder William und Jim Reid zu Quasi-Popstars. Bis Ende der Neunziger schafften es die Reids, überlebten einen Majordeal und kultische Verehrung ihrer Fans, scheiterten letztlich am Bruderzwist und lösten die Band 1999 auf. Nun sind sie zurück, und zwar doppelt: zum einen spielen die wiedervereinten TJAMC diesen Sommer auf verschiedenen Festivals weltweit, zum anderen veröffentlichen sie unter dem Namen SISTER VANILLA ein Album, bei dem ihre kleine Schwester Linda die Chanteuse geben durfte. Ich traf Linda in einem Kölner Hotel und horchte sie über ihre Brüder aus ...
Wann hast du denn JAMC das erste Mal live gesehen?
Das war in Edinborough, und ich war dreizehn. Meine Cousine hatte mich mitgenommen, es war ein kleiner Club, ich traf Bobbie Gillespie das erste Mal und weiß noch, dass er eine sehr lustige Frisur hatte. Natürlich gab es während des Konzerts Ärger, Jim bekam von den Türstehern aufs Maul, und ich schrie vor Entsetzen, ging auf die los.
Und wann ist dir bewusst geworden, dass deine Brüder keine normale berufliche Karriere eingeschlagen haben?
Die beiden machten ja schon Musik, bevor sie eine richtige Band hatten. Sie klimperten ewig in ihrem Zimmer rum, und irgendwie wusste ich, dass dabei irgendwas herauskommen würde. Die hatten beide keinen Job, und machten auch keinerlei Anstalten, sich einen zu suchen. Die lebten lange vom Geld meiner Eltern, aber die beiden wussten irgendwie, dass was passieren würde. Als sie dann letztlich die Band gründeten, bestand für mich von Anfang an kein Zweifel, dass sie es weit bringen würden.
Wie alt warst du damals?
Ich war zwölf, und natürlich interessierte ich mich für Musik. In meinem Elternhaus ging es immer um Musik, schon wegen William und Jim, und so genoss ich eine sehr gute musikalische Erziehung, habe schon immer Musik geliebt.
Warst du denn die nervige kleine Schwester, oder wie war euer Verhältnis?
Sie sind eben meine großen Brüder: William ist 12 oder 13 Jahre älter als ich, Jim 10 Jahre, und ich war für sie immer die kleine Schwester, um die sie sich kümmerten. Und schon von klein auf habe ich eine Menge Musik und Informationen darüber von ihnen aufgeschnappt, ja sie brachten mich dazu, die Namen der SEX PISTOLS-Mitglieder auswendig zu lernen und fragten mich dann ab. Da war ich acht, und die fanden das niedlich.
Als kleine Schwester zweier Brüder, die an Rebellion wohl schon alles erledigt hatten, blieb für dich wohl nicht mehr viel zum Rebellieren übrig - oder wie war das?
Ich hatte ehrlich gesagt nie irgendwelche Wünsche dieser Art, und auch meine Brüder nicht. Meine Brüder kamen immer gut mit meinen Eltern klar, und das einzige Problem war, dass sie sich weigerten, sich Jobs zu suchen. Das war der einzige Streitpunkt, und schließlich erkannten meine Eltern, dass sie die beiden besser in Ruhe lassen, dass sich schon was ergeben werde. Ich beobachtete das alles und hatte letztlich nicht das Gefühl, gegen irgendwas rebellieren zu müssen.
Als sie dann begonnen Erfolg zu haben, kam es dir da nicht in den Sinn, auch selbst Musik zu machen?
Niemals. Und dass ich jetzt mit ihnen SISTER VANILLA gemacht habe, liegt einfach daran, dass sie mich gefragt haben. Jetzt bot sich die Gelegenheit, und ich griff zu. Aber davor hatte ich nie das Bedürfnis, Songs zu schreiben oder eine eigene Band zu gründen. Ich bin eben weder eine Sängerin noch eine Songwriterin, ich habe es jetzt einfach mal gemacht.
Letztlich das alte Prinzip von Punkrock also.
So hoch würde ich das gar nicht ansetzen. Mir gab einfach jemand die Chance und ergriff sie. Keine Ahnung, ob ich das noch mal machen werde, vielleicht war es das auch mit meiner musikalischen Karriere. Das wäre mir egal, ich bin glücklich, wie es gelaufen ist.
Was hast du denn bisher so gemacht?
Lange Zeit gar nichts. Ich wohnte mal in London, mal in Schottland, und letztlich fing ich dann an zu studieren, da war ich 22. Jetzt lebe ich seit acht Jahren in London und habe einen ganz normalen Job, führe ein ganz normales Leben: Ich arbeite als Beamtin für das britische Außenministerium.
Das ist schon was ganz anderes als das Leben deiner Brüder.
Oh ja, so verschieden, dass man es kaum glauben kann.
Und wie passt dazu dein Ausflug in den Rock'n'Roll?
Die SISTER VANILLA-Platte hat eine zehnjährige Vorgeschichte. Wir arbeiteten immer wieder daran, wenn wir mal Zeit und Lust hatten, und so nahm sie in meinem Leben nicht viel Platz in Anspruch. Erst jetzt, da sie veröffentlicht wurde und ich Interviews gebe, verlangt sie etwas Zeit. Lange glaubte ich ja gar nicht, dass die Platte überhaupt mal erscheinen würde, und erst als Chemikal Underground sich dann wirklich interessiert zeigten, wurde es wirklich ernst.
Wie kam es denn überhaupt zu diesem Album?
Jim fragte mich im Vorfeld von "Stoned & Dethroned", das 1994 erschien, ob ich nicht einen Song mit ihnen singen wolle, den man dann als Single-B-Seite veröffentlichen werde. Ich hatte davor noch nie gesungen, wollte es aber mal ausprobieren, doch irgendwie zerschlug sich das dann. Als sie dann "Munki" aufnahmen, das 1998 erschien, wagten wir einen neuen Versuch, und irgendwie gefiel "Mo Tucker" jedem. William machte mir den Vorschlag, unter anderem Namen ein Album mit mir als Sängerin einzuspielen, auch ich sollte ein paar Lieder schreiben, und das war der Ausgangspunkt. Die Idee war, das Ganze in zwei Wochen einzuspielen, ohne Druck und ohne Zwang, es zu veröffentlichen. Wir gaben uns also diese zwei Wochen Zeit, und ja, das war vor beinahe zehn Jahren ...
Stattdessen lösten sich JESUS AND MARY CHAIN auf.
Ja, die Band brach auseinander, William zog in die USA, jeder lebte sein eigenes Leben, doch letztlich haben wir es geschafft, die Platte zu machen.
Wie hast du den Split der Band 1998/99 erlebt? Du standest als Schwester ja zwischen deinen Brüdern, die sich zerstritten hatten.
Der Split kam ja nicht aus heiterem Himmel, das war ein Konflikt, der sich über zwei Jahre immer weiter hochgeschaukelt hatte. Die beiden konnten nicht mehr so zusammen arbeiten wie zuvor, und ich hatte als Schwester immer wieder die Rolle einer Vermittlerin, aber auch meine Mutter und mein Vater versuchten zu vermitteln. Wir taten unser Bestes, dass sie wieder miteinander reden, wieder wie Brüder miteinander umgehen. Dass die Band auseinanderbrach, war ja an sich schon hart, aber richtig schlimm war, dass sie überhaupt nicht mehr miteinander redeten. Das hielten sie ein Jahr lang durch, und es war schrecklich. Das war zu der Zeit, als ich meinen Uni-Abschluss machte, und zur Abschlussfeier kamen dann zwar meine Eltern und William, aber nicht Jim - weil William da war. Das war eine schwierige Zeit, doch ein Jahr später heiratete Jim in London, William kam, und sie fingen wieder an miteinander zu reden. Und jetzt werden sie angesichts der Reunion auch wieder zusammen arbeiten, aber es wird sicher nicht mehr so sein wie früher. Sie respektieren und verstehen sich, so wie ein Ehepaar, das eine Scheidung hinter sich hat und sich dann doch wieder annähert.
War es denn schlimm für dich, in den frühen Jahren die ganzen Presseberichte über deine Brüder lesen zu müssen? Da gab es ja einige Storys über Drogengeschichten und Gewalt auf Konzerten.
Also ich habe an diese Zeit keine schlechten Erinnerungen, und auch meine Eltern fanden das eher aufregend als schlimm. Wir freuten uns über jeden einzelnen Artikel, der über sie geschrieben wurde, und wir hatten nie ein schlechtes Gefühl. Und so wirklich hatten meine Brüder nie was mit Drogen zu tun, das war also nichts, worüber meine sich Eltern sich Sorgen gemacht hätten. Meine Mutter wusste damals, dass ihre Söhne nicht dumm sind, aber auch, dass sie sie nicht davon abhalten kann, das zu tun, was sie für richtig halten. Deshalb hat es uns also immer Spaß gemacht, was über meine Brüder zu lesen.
Hast du denn die Artikel ausgeschnitten und aufbewahrt?
Ja klar, sie hatten mich darum gebeten, weil sie wussten, dass sie selbst keine Zeit dazu haben. Na ja, es ist auch ein richtig dickes Buch geworden - nur leider habe ich es verloren ...
Was?!
Ja. Und das Schlimmste ist: Sie wissen es noch nicht, hahaha.
Dann hoffen wir, dass sie kein Deutsch verstehen und dieses Interview nicht lesen.
Ach, ich glaube, das taucht irgendwann wieder auf.
Wie sah denn deine musikalische Entwicklung unter dem Einfluss deiner Brüder aus?
Ich habe schon von klein auf Musik gemacht, und auch wenn andere das denken mögen, so bin ich kein Snob, was Musik anbelangt: Wenn mir was gefällt, dann gefällt mir das eben. Ich wuchs mit VELVET UNDERGROUND, Dusty Springfield, den BEATLES und so weiter auf - und den PASTELS, die ich wirklich liebe. Ich hörte immer viele Bands aus Schottland, etwa TEENAGE FANCLUB und BELLE & SEBASTIAN, ja, ich finde, dass generell viel gute Musik aus Glasgow kommt.
MOGWAI?
Irgendwie kenne ich die nicht so richtig, aber ich mag BLUR und weiß, dass MOGWAI die nicht mögen, haha.
Du erwähntest eben die PASTELS, und auf dem Album findet sich ja nicht nur "The two of us", ein Duett von dir und Stephen Pastel, sondern der Opener trägt sicher kaum zufällig den Titel "Pastel blue".
Also meine ganze Familie liebt die PASTELS, sogar meine Mutter. Sie sind einfach eine brillante Band, nahezu perfekt, ich liebe sie schon seit ich zwölf bin. Ich habe nie verstanden, warum die nicht erfolgreicher und bekannter sind. Meiner Meinung nach hätten die auf Platz 1 in den Charts sein müssen - eine sehr naive Vorstellung. Dabei hatten die immer ganz normale Jobs und gar nie versucht, groß rauszukommen. Als ich "Pastel blue" schrieb, erwähnte ich aus Versehen die PASTELS und merkte dann, dass ich einen Song über diese Band geschrieben hatte - daher dann auch der Titel. Stephen und die Band fanden das natürlich schön, und die mögen auch SISTER VANILLA. Es war für mich auch ein ganz großer Moment, als ich Stephen persönlich kennen lernte. Ich hatte ihn früher schon öfter mal in Glasgow auf der Straße gesehen, aber so einen persönlichen Helden dann kennen zu lernen, das fand ich großartig.
Was macht die PASTELS für dich so großartig?
Also viele Leute haben über die immer wieder gesagt sie seien "twee", niedlich, putzig, aber das trifft es meiner Meinung nach überhaupt nicht, ich finde ihre Songs eher schmutzig, und wahrscheinlich ist es wohl diese Mischung, die ich reizvoll finde.
Musikalisch klingt "Little Pop Rock" nach THE JESUS AND MARY CHAIN plus Linda Reid ...
Ja, es ist eine Mary Chain-Platte, bei der eine Frau singt. Die Lieder gehören meinen Brüdern, ich habe nur die Texte dazu geschrieben, und so sind es eben in der Essenz Mary Chain-Songs. Wenn jemand anderes das auch so sieht, habe ich damit also kein Problem. Hauptsache, die Platte gefällt den Leuten. Aber ich bin da sehr zurückhaltend, ich habe keine Ahnung, ob das Album irgendwem gefallen wird.
Werdet ihr denn auch live auftreten?
Vielleicht wird es ein paar Konzerte geben, aber so genau weiß ich das nicht. Wir haben da aber keine Eile, und der letzte Auftritt liegt ja auch schon 20 Monate zurück. Ich habe eben einen ganz normalen Job und nur fünf Wochen Urlaub im Jahr, muss mich um meine Katzen kümmern, das schränkt die Möglichkeiten für eine Band doch etwas ein.
Und, wirst du zum ersten Post-Reunion-Auftritt von JAMC nach Kalifornien fliegen?
William hat mich eingeladen, aber ich glaube, ich will das nicht sehen. Aber sie spielen ja auch in London, und da gehe ich hin. Ich hatte neulich auch einen Traum, da war ich auf dem Konzert in Kalifornien und da haben sie einen ganz schrecklichen Auftritt hingelegt ... Aber ich habe sie vor ein paar Wochen in London bei der Probe in einem Studio gesehen, und das war ehrlich gesagt richtig gut. Die waren so phantastisch, dass es mir die Tränen in die Augen trieb, so emotional war das. William und Jim waren selbst überrascht, wie gut es lief. Und die beiden haben in den letzten Jahren auch immer wieder gesagt, dass sie vor der Auflösung Ende der Neunziger so gut geklungen hätten wie nie zuvor, dass sie es schade fanden, damals nicht weitermachen zu können.
Wie empfindest du die Fan-Websites, auf denen wildfremde Leute irgendwas über deine Brüder schreiben?
Manche gehen mir richtig auf den Geist, etwa das Messageboard Some Candy Talking. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich da überhaupt draufschaue, denn was Leute über meine Brüder und ihre Musik schreiben, geht mir echt auf die Nerven. Die interpretieren da Dinge in Songs hinein, die aber eigentlich nichts anderes sind als einfach nur Lieder ohne Hintergedanken. Aber es gibt wohl einfach Leute, die extrem über manche Dinge nachdenken, und ich kann das einfach nicht nachvollziehen.
Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #72 Juni/Juli 2007 und
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #71 April/Mai 2007 und Joachim Hiller