Alle Jubeljahre gibt es diese Bands, die scheinbar aus dem Nichts kommen und einen spontan total umhauen. Bei THE BABOON SHOW ging es mir so, bei THERMALS oder jetzt eben bei SHEER MAG aus Philadelphia. Das Außergewöhnliche an diesem Quartett ist die Kombination aus cheesy Seventies-Classic-Rock, Glam und Powerpop. Schon allein das Bandlogo sieht aus wie von einer Band aus der Heavy-Grabbelkiste im Laden für Haushaltsauflösungen. Als ob THIN LIZZY ein uneheliches Kind mit GIUDA und BLINK-182 gezeugt hätten. Klingt verrückt, funktioniert aber bestens, erklärt Sängerin Tina Halladay im Ox-Interview.
Wie hat das angefangen mit SHEER MAG? Wie und wo habt ihr euch denn vor sechs Jahren kennen gelernt?
Zum ersten Mal getroffen haben wir uns am Purchase College in der Nähe von New York. Mit der Band ging es aber erst los, als wir alle zusammen nach Philadelphia gezogen sind. Zu dieser Zeit hatten wir alle keine Bands, also haben wir beschlossen, gemeinsam eine zu gründen. Damals haben wir in einem dreistöckigen Haus im Süden von Philadelphia gewohnt, insgesamt waren wir zu siebt. Im Erdgeschoss haben wir Konzerte gegeben. Das war ziemlich chaotisch, aber auch sehr lustig. Wir nannten es The Nuthouse – der Name stammt aus einem Garfield-Cartoon.
Wie ist die Musikszene in Philadelphia? Ist es vergleichbar mit einer Stadt wie Portland, in der es jede Menge Alternative-Bands wie SLEATER-KINNEY oder THE GOSSIP gibt?
Ich bin ehrlich gesagt nach Philadelphia gezogen, weil es billiger ist als New York. Philadelphia ist gerade mal zwei Autostunden von New York entfernt, da sind viele meiner Freunde hingezogen. Die Stadt ist kleiner und es ist leichter, dort zurechtzukommen. In Philadelphia reicht dir ein Fahrrad, du musst dich nicht jeden Tag in die U-Bahn quetschen. Du kommst mit einem Halbtagsjob über die Runden und kannst davon deine Miete bezahlen. In New York muss man den ganzen Tag arbeiten, weil es so teuer ist. Ich hatte schon jede Menge Jobs, zum Beispiel in einer Tierhandlung. Da habe ich aber nach kurzer Zeit gekündigt, weil das totale Arschlöcher sind. Dann habe ich eine Weile Handys verkauft und später in einer Kinderbetreuung gejobbt. Ich war auch schon in einer Reinigung. Momentan mache ich nur SHEER MAG. Reich werde ich damit bis jetzt aber nicht. Ab und zu arbeite ich auch als DJ, es reicht schon irgendwie. Was in Philadelphia fehlt, ist ein mittelgroßer Club, in dem wir spielen können. Die kleinen DIY-Läden wechseln oft, müssen schließen und machen woanders wieder auf. Ich denke, die Szene ist vergleichbar mit der in anderen Städten, aber lange nicht so groß wie Portland oder Seattle.
Nervt es dich, wenn du mal wieder mit Beth Ditto von THE GOSSIP verglichen wirst?
Das stört mich nicht, ich finde sie ziemlich cool. Aber der Vergleich passt überhaupt nicht, finde ich. Abgesehen davon, dass wir beide fett sind, sehe ich keinen Grund, uns beide zu vergleichen. Wir klingen weder ähnlich noch machen unsere Bands ähnliche Musik.
In Philadelphia gibt es ja eine lebendige Punk-Szene mit Bands wie THE LOVED ONES oder THE MENZINGERS. Habt ihr Kontakt zu diesen Jungs?
Als wir nach Philadelphia gezogen sind, haben wir nicht viele Leute gekannt. Aber seit ich dort wohne, war ich in einer Motown-Coverband mit Joe Jack von THE DEAD MILKMEN und einigen anderen Punk-Veteranen. Es hat schon eine ganze Weile gedauert, bis wir ein paar Leute kennen gelernt haben. THE LOVED ONES oder THE MENZINGERS kenne ich nicht persönlich, aber gehört habe ich schon von denen.
Ihr lebt ja diesen DIY-Spirit, der typisch für die Punk-Szene ist. Alles selbst machen, eigene Strukturen aufbauen. Eine Zeitschrift hat euch mal „The best band that nobody can sign“ genannt. Woher kommt das?
Die Tage, in denen man als Band unbedingt einen Plattendeal braucht, sind vorbei. Das entspricht einfach nicht mehr der Realität. Wir können alles selbst machen und damit erfolgreich sein. Wir haben alle in Punkbands gespielt und haben jede Menge Punk-Shows besucht. Der Sound unserer Musik muss ja nicht unbedingt mit der Attitüde übereinstimmen, mit der wir unsere Musik vermarkten. Wir kennen auch keine andere Strategie, als es so zu machen. Wir lernen aber ständig dazu, wenn es jetzt immer größer wird. Inzwischen haben wir einen Manager engagiert, aber wir wollen unsere Platten weiterhin selbst herausbringen. Wir wollen einfach die volle Kontrolle darüber behalten, was mit der Band passiert.
Inzwischen habt ihr ja auch euer eigenes Label Wilsuns Recording Company gegründet. Wer kümmert sich um den ganzen Geschäftskram?
Wir alle übernehmen Verantwortung dafür. Wir teilen uns das auf. Und wir haben einen Kumpel, den wir auf unserer ersten Europatour kennen gelernt haben, der uns beim Mailorder hilft. Und nach unseren ersten Touren haben wir inzwischen auch einen Booking-Agenten verpflichtet.
Siehst du dich selbst als Feministin oder als queere Aktivistin?
Ja, natürlich. Das ist eine sehr wichtige Sache für mich, für Queer- und Transpersonen Partei zu ergreifen. Ich kann gar nicht verstehen, wie man da anders denken kann, oder warum man die Gefühle und Körper von anderen Menschen kontrollieren will. Deshalb werde ich immer für Farbige, Frauen, Queer- oder Transpersonen kämpfen.
Wie wichtig sind dir politische Texte? Auf eurer ersten Platte „Need to Feel Your Love“ hattet ihr Songs über Sophie Scholl oder die Stonewall Riots in New York ...
Es ist uns sehr wichtig, nicht mit verschlossenen Augen durch die Welt zu gehen. Wir schauen aber eher auf unsere Nachbarschaft und die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung. Dadurch erscheint es uns ganz normal, politisch zu sein. Was den Song über Sophie Scholl betrifft, hatten wir kurz zuvor ein Museum in Berlin besucht, in dem es um den Aufstieg von Adolf Hitler und der Nazis ging. Als ich Aufzeichnungen seiner Reden gehört habe, hat mich das stark daran erinnert, wie Donald Trump spricht. Deshalb haben wir diese Dokumente aus der Vergangenheit wie eine Warnung für die Zukunft gesehen. Bei „Suffer me“, in dem es um die Stonewall Riots geht, ist es ähnlich. Wir alle kämpfen für unsere queeren Brüder und Schwestern genauso wie für alle, die unfair behandelt werden. Die generelle Idee in unseren Texten ist, dass alle Menschen mit Liebe und Respekt behandelt werden sollen.
Die erste Single vom neuen Album heißt „Blood from a stone“ und behandelt die soziale Ungerechtigkeit in Amerika. Sprichst du da aus eigener Erfahrung?
Die Working Class in Amerika kann immer gerade so die Nase über Wasser zu halten. Denen bleibt nicht viel zum Leben. Sie müssen unheimlich hart arbeiten, um ihre Familien ernähren zu können. Keiner in meinem Freundeskreis kann es sich leisten, ein Haus zu kaufen oder den amerikanischen Traum zu leben, von dem alle erzählen. Darum geht es in dem Song – wie man versucht, Hoffnung zu schöpfen. Alle Songs auf dem neuen Album sind unheimlich persönlich. Ich rede auch darüber, dass ich fett bin oder wie mein Verhältnis zu meinem Vater war, der kürzlich gestorben ist. Dinge, die mich als Mensch geprägt und immer beschäftigt haben.
Warum teilst du diese sehr privaten Dinge mit der Öffentlichkeit? In den Songs geht es zum Beispiel auch um Missbrauch im häuslichen Bereich.
Ich wollte das schon immer. Aber erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit Matt, der meine Geschichten in Songtexte übersetzt hat. Unsere Beziehung musste erst so vertrauensvoll werden, dass ich ihm das alles erzählen konnte. Es war für uns alle ganz schön hart, solche Themen aufzugreifen. Wir hatten bis jetzt einfach eine gute Zeit und viel Spaß. Jetzt war sie eben reif für ein paar sehr persönliche Dinge. Diese Jungs sind inzwischen wie Brüder für mich, wir verbringen viel Zeit zusammen, deshalb war es mir möglich, darüber zu sprechen. Ich war schon immer ein sehr offener Mensch, was meine Gefühle und Gedanken betrifft. Freunde und gute Bekannte kennen zumeist meine Vergangenheit. Es war für mich jetzt eine große Erleichterung, Songs darüber zu schreiben und so damit abzuschließen.
Lass uns über den Sound von SHEER MAG reden. Es ist eine ziemlich einzigartige Kombination aus Classic Rock und Powerpop. Wie ist das entstanden?
Ich finde, unser Sound verändert sich immer ein bisschen. Das hängt vor allem davon ab, was wir so hören. In den Anfangstagen wollte Kyle die Band wie eine Stadionband im DIY-Style klingen lassen. Zu dieser Zeit haben wir alle viel THIN LIZZY gehört. Kyle liebt aber auch FLEETWOOD MAC sehr. Das wechselt aber immer wieder. Gerade hört Kyle viel Discomusik. Wir entdecken ständig neue Musik und das beeinflusst uns natürlich.
Haben THIN LIZZY eine besondere Bedeutung für dich?
Das ist einfach meine allerliebste Band. Deshalb habe ich auch ein großes Phil Lynott-Tattoo auf meinem Bein. Außerdem habe ich meinen Hund genau am Todestag von Phil adoptiert, deshalb habe ich ihn „The Rocker“ genannt. Ich war auch schon zweimal in Dublin und habe mir die Phil Lynott-Statue angeschaut. Das waren besondere Momente für mich. Meine liebsten Platten sind „Black Rose“ und „Nightlife“. Ich liebe aber auch „Fighting“. Ich besitze sieben oder acht Platten von THIN LIZZY, mehr als von jeder anderen Band.
Ihr habt eine sehr enge Verbindung zu euren Fans. Nach den Shows drängen sich alle vor dem Bühnenrand und warten geduldig, um mit euch zu reden. Warum ist euch das so wichtig?
Weil wir ganz normale Leute sind, nichts Besonderes. Wenn man sich der Musik vom jemandem verbunden fühlt, hat man auch eine Verbindung zu dem Menschen. Deshalb versuche ich immer, ein netter, zugänglicher Mensch zu sein. Ich bin sehr ehrlich, aber auch verletzlich, wie man in den Texten hören kann. So wie im echten Leben eben. Das macht es einfach, mit den Leuten zu reden und eine Verbindung herzustellen. Ich freue mich, dass uns das so gut gelingt. Ich liebe unsere Konzerte, deshalb treffe ich danach immer Fans, selbst wenn ich müde und völlig durchgeschwitzt bin. So kann ich vor allem Frauen dazu ermuntern, sich auch mal etwas zu trauen oder Selbstvertrauen zu schöpfen. So kann ich für viele eine Inspiration sein.
Hat sich euer Leben durch den wachsenden Erfolg der Band eigentlich verändert?
Ich werde jetzt auch auf der Straße erkannt. Ich werfe aber nicht mit Geldscheinen um mich, wenn du das meinst. Ich bekomme natürlich immer mehr Anerkennung und Respekt für meinen Job als Sängerin. Es ist ein schönes Gefühl, dass man das Leben von ein paar Menschen positiv beeinflussen kann. Es macht mich einfach glücklich, wenn ich anderen Menschen helfen kann. Es ist schwer für mich, mir vorzustellen, etwas anderes zu machen.
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