Ursprünglich sollte dieses Interview irgendwie in der Art betitelt werden, wie es auch Packe, Kurt, Fredrik und Andreas einmal zu Anfang dieses Diskurses entfuhr: „Nothing new on the Scandinavian front“, oder so ähnlich. Denn irgendwie hatte ich – vielleicht auch weil ich noch nie dort war –, von Schweden immer dieses Bild einer weit entfernten Welt, wo zwar so ein paar Leute leben, aber sonst nicht viel passiert, und von wo man nicht viel hört, außer durch einige überragende Rockbands wie den SEWERGROOVES, oder auch durch einige passable Sportler. Nun wurde der Plan mit dem Titel im Verlaufe des Gesprächs durch ein aktuelles, dramatisches Ereignis völlig über den Haufen geworfen. Und ich habe mir jetzt übrigens auch mal vorgenommen, bald mal Skandinavien persönlich in Augenschein zu nehmen.
Ihr veröffentlicht ja alle eure Platten fast jedes Mal auf einem anderen Label, sei es Gearhead, Low Impact oder Sounds Of Subterrania, so dass kaum noch jemand durchblickt. Was steckt dahinter?
„Wir hatten von Anfang an einen Vertrag mit Low Impact Records, einem kleinen, aber sehr guten Label, dessen Leute auch unsere persönlichen Freunde sind. Sie lassen uns auch mit anderen Labels arbeiten, weil das einfach gut für uns ist. Wenn zum Beispiel eine Tour in einem bestimmten Land bevorsteht, ist es cool, wenn wir dort zuvor eine Single mit einem lokalen Label machen können. Auf Low Impact steht auf jeden Fall noch eine LP an, danach sehen wir weiter. Wir versuchen unsere Musik so independent wie möglich zu betreiben.“
Ihr wurdet wegen Drummer Robert, der ja auch bei den HELLACOPTERS trommelt, eigentlich fast immer mit denen in einen Topf geworfen und von manchen Leuten gar als HELLACOPTERS-Sideproject herabgewürdigt. Nun, da Robert nicht mehr in der Band ist, glaubt ihr, dass ihr vielleicht von seinem Fortgang „profitieren“ könnt, in dem Sinne, dass ihr mehr Aufmerksamkeit oder Anerkennung für euch selbst bekommt?
„Die Entscheidung wegen Roberts Austritt fand im gegenseitigen Einvernehmen statt, wie man so schön sagt. Er war mit den ‘COPTERS nun auch nicht gerade wenig beschäftigt und durch seine häufige Abwesenheit konnten wir dann unsere Vorhaben in Bezug auf Studioaufnahmen oder Touren oft nicht so umsetzen, wie wir es gerne gewollt hätten. Wir machten mit Robert noch eine dreiwöchige Abschiedstour, und das war es dann, und es war gut, dass dabei keiner von uns dem anderen gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, denn jeder hat dabei gewonnen. Es wäre schon schön, wenn wir jetzt hoffentlich nicht mehr als die Mini-Version der HELLACOPTERS angesehen würden, was uns am besten von vornherein erspart geblieben wäre. Aber manche Leute haben eben zu wenig Ahnung von Musik, um zu erkennen, dass wir doch einen etwas anderen Stil haben.“
Ich fand euch, besonders auch auf eurer ersten Platte, weitaus geradliniger, roher und „griffiger“ als die teilweise doch auch ziemlich verschnörkelten HELLACOPTERS. Was, denkt ihr, macht euren Stil aus?
„Wir beziehen unsere Einflüsse aus zig verschiedenen Quellen und es geht auch anderen Leuten so, dass die uns manchmal mit anderen Bands vergleichen, aber grundsätzlich stehen wir eigentlich auf dem Standpunkt, dass wir so gute, eigene Songs schreiben und einen so speziellen, eigenen Sound besitzen, dass man uns beim Hören sofort als die erkennen kann, die wir sind: THE MIGHTY SEWER‘DUDES‘!“
Was sagt ihr zur generellen Situation von Rock/Punk-Musik? Ich persönlich habe den Eindruck, dass Rock immer mehr zu einer von vielen kleinen Nischen wird, und auch speziell von Punkrock immer weniger Impulse ausgehen, im krassen Gegensatz zu den Anfangstagen von ‘76/‘77. Und das, obwohl es rein zahlenmäßig wahrscheinlich momentan mehr überdurchschnittlich begabte, wenn nicht gar hervorragende Bands gibt als je zuvor. Braucht Rockmusik einen „Relaunch“?
„Nun, die ‚good guys‘ des Rock‘n‘roll haben es nie ganz einfach gehabt, man nehme nur MC5 oder die STOOGES, die selbst zu ihrer besten Zeit kaum von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Schon deshalb ist uns klar, dass wir nie so groß herauskommen werden wie LINKIN PARK oder diese anderen Scheißbands, aber uns geht es nicht darum, große Rockstars zu sein, we are in it for the music, und um Gleichgesinnte auf Tour zu treffen. Klar würden wir dabei gern mehr Platten verkaufen und Geld machen, aber wir werden dafür nichts extra ändern, um das zu erreichen. Aber ganz klar ist es eine unserer ‚Missionen‘, den Youngstern unsere Musik nahe bringen und sie auf den rechten Pfad des Rock‘n‘Roll zu führen ... Wir können nicht einfach kampflos zulassen, dass Rock ausstirbt, und, ja, wir arbeiten hart dafür, dass dies hoffentlich nie passieren wird!“
Nun, meine Frage richtete sich auch auf den „impact“ von Rock‘n‘roll, die gesellschaftlich-kulturellen Impulse, welche Rock oder Punk heute noch aussenden, bzw. eben heute nicht mehr aussenden. Die letzten großen Rock-Ereignisse liegen schon einige Jahre zurück, und werden von vielen schon nostalgisch betrachtet ...
„Ja, in den 50ern war Rock‘n‘Roll eine große Jugend-Revolte, die sich immer mehr mit politischen Inhalten auflud und in eine Revolution ausweitete, die bis in die Flower-Power-Zeit reichte, Ende der 60er bis zu den frühen 70ern. Die dann folgende Punk-Bewegung, initiiert von ökonomisch hoffnungslosen, politisch desinteressierten Jugendlichen, die sich gegen das bestehende Establishment richteten, war hieraus die nihilistische Umkehrung und insofern ebenfalls eine kulturell relevante Bewegung. Heutzutage verläuft der Strom allerdings andersrum, d.h. die Plattenfirmen greifen nicht mehr die ‚natürlich‘ entstandenen Strömungen auf, sondern versuchen uns mit ‚künstlichen‘, kommerziell Erfolg versprechenden Trends zu überrollen, es geht dabei um viel Geld, und darum wachsen heutzutage viele Leute mit dieser Fast-Food-Musik auf. Irgendetwas wird passieren, muss passieren, aber wer weiß, was das sein wird. Da muss etwas von den Jugendlichen ausgehen, nicht von den Majorfirmen. Was das sein wird, kann man nur schwer sagen, wirklich große Bewegungen waren niemals nostalgische Revivals, und so was wie die Punk-Explosion von ‘76 bis ‘79 wird auch nicht noch mal passieren. Es könnte etwas ganz ähnliches sein, aber nicht Punk.“
Von einigen schwedischen Bands wie z.B. den HELLACOPTERS hörte ich, dass sie in Bezug auf Genussmittel aller Härtegrade eine sehr disziplinierte Lebensweise an den Tag legen. Wie passt das zu den gängigen Rock-Klischees und dem Bild von trinkfesten Schweden? Oder mit anderen Worten, kann man sich Rock‘n‘Roll ohne Bier in Strömen überhaupt vorstellen?
„Nun ja, über die Drogenerfahrungen anderer Bands können wir hier mangels Einblick schwer was sagen, es kann schon sein, dass einige der schwedischen Bands ihre Einstellung dazu in den letzten Jahren etwas geändert haben. Zu der Rockszene in Stockholm kann ich nur sagen, dass wir unsere Drogenexperimente hinter uns und gelassen haben. Das ist das Gute an der Stockholmer Szene, dass größtenteils lieber gesoffen, als zu den harten Sachen gegriffen wird. Klar wird auch von einigen Leuten gut was weggeraucht, aber die harten Sachen sind den meisten Leuten erspart geblieben, und Gott sei Dank sind fast alle schlau genug zu erkennen, dass zuerst die Musik kommt, dann kommt lange gar nichts, und dann kann man sich als Musiker auch noch um Sex & Drugs kümmern – wenn‘s sein muss. Einige unserer Freunde aus anderen Ländern sind manchmal überrascht, dass fast keiner hier spritzt oder schnieft. So war das auch mit den POWDERMONKEYS, die hier mal einen Sommer lang für Plattenaufnahmen verbrachten. Tim Hemensley ist nun leider vor ein paar Monaten an einer Überdosis verstorben, was wirklich verdammt traurig ist. Allerdings gibt es auch selbst hier in der Stockholmer Musikszene durchaus immer noch Junkie-Business und vereinzelt Drogentote, so dass ich das nicht generalisieren würde. Wir würden jedoch sagen, dass wir die Musik sehr wichtig nehmen und niemals volltrunken auftreten würden. Aber nach dem Konzert wird Party gemacht, da gibt‘s gar nix ...“
Über Schweden erfährt man hier in Deutschland hauptsächlich etwas durch die schwedischen Musiker oder Sportler. Über das schwedische Tagesgeschehen in Politik oder Gesellschaft hört man hingegen fast nie auch nur den geringsten Mucks in den Nachrichten, wenn nicht gerade ein Ministerpräsident erschossen oder eine Außenministerin erstochen wird ... Ist es in Schweden wirklich so ruhig, oder kriegen wir davon ganz einfach nichts mit?
„Ich schätze mal, dass Schweden zu klein ist, als dass unsere Neuigkeiten irgendeine Auswirkung auf die anderen Staaten in Europa haben könnten. Hier ist es allerdings auch ziemlich ruhig, es ist wirklich seit vielen Jahren nichts Wichtiges mehr passiert, die Dinge haben sich auch über mehrere, sehr unterschiedliche Regierungsperioden hinweg nicht großartig geändert. Also nichts neues an der Skandinavischen Front. Im letzten Sommer gab es in Göteborg Ausschreitungen, bei denen die Polizei einige Leute erschossen hat. Gesellschaftlich wird das Klima, wie wohl auch in den anderen Ländern Europas, auch langsam härter. Das in den 60er Jahren errichtete Sozialsystem ist ziemlich im Eimer und für Leute in unserem Alter sieht‘s mit Rente mies aus, wenn wir dann irgendwann alt und klapprig sind. Aber ich schätze, dass Schweden insgesamt doch eines der ruhigeren Länder in Europa ist. Bei uns gibt es trotz der großen Fläche nur 9 Millionen Einwohner, von denen die meisten im Süden leben, während es im Norden geradezu beängstigend leer und einsam ist.“
Oft hört man, dass Schweden in Europa das Land mit der „amerikanisiertesten“ Kultur sein soll. Was ist da dran?
„Schweden hat schon seit der Wikinger-Zeit eine Tradition darin, fremde Einflüsse zu importieren und zum eigenen, schwedischen Kulturgut zu machen. Das merkt man noch heute beim Essen, wo Einflüsse aus Italien, China und dem Balkan/Orient sehr intensiv in die schwedische Nationalküche eingegangen sind. Das schwedische Nationalgericht ‚Fleischbällchen mit Kartoffeln‘ etwa war ursprünglich eine türkische Spezialität. Okay, jetzt sprechen wir hier übers Mampfen, aber das ist exemplarisch für alle andere Bereiche, wo wir Schweden uns fremde Kultureinflüsse einverleibt haben, und so eben auch in der Musik. Wir sind ein kleines Land und mussten historisch zur Verständigung immer fremde Sprachen lernen, weil wir nicht erwarten konnten, dass sich die anderen für uns mit Schwedisch die Zungen verknoteten. Als Rock‘n‘Roll die Bühne der Welt betrat, hat auch die schwedische Jugend bereitwillig diese Pille geschluckt. Für uns paar Leute lohnt es sich auch nicht, die amerikanischen Fernsehserien zu synchronisieren, so dass Englisch auch im Fernsehen allgegenwärtig ist und von den Kids somit quasi im Vorbeigehen erlernt wird. Auf seltsame Weise sind aber auch andere amerikanische Markenzeichen wie die Amischlitten-Hotrod-Szene, die Motorradgang-Kultur oder auch die Burgerrestaurants geradezu explodiert. Auf politischer Ebene spiegelte sich das komischerweise gar nicht wider, wo man nur ganz selten mit den amerikanischen Ansichten unisono war. Aber ich denke, man fühlte sich hier auch gerade zu Zeiten des kalten Krieges als direkter Nachbar der Sowjetunion auf jeden Fall näher zur westlichen Seite des Globus hingezogen.“
Danke für das Interview!
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