Zürich wird regelmäßig zu den fünf teuersten Städte der Welt gezählt. Neben den Lebenshaltungskosten sind die Mieten in den vergangenen Jahrzehnten mächtig gestiegen. Wer sich eine Vier-Zimmer-Wohnung unter umgerechnet 2.600 Euro krallen kann, hat riesiges Glück. Kein Wunder, dass unter anderem die Zürcher Punks angepisst sind, denn sie werden aus der Stadt vertrieben. Keine andere Band kann das besser bezeugen als THE SENILES. Ihre Mitglieder sind älter als 45 und haben bereits viel Erfahrung im Punk- und Metal-Bereich gesammelt. Ihr Gitarrist Markus spielt daneben bei MOTORIZER und Riemä gehörte der mittlerweile aufgelösten Band FONDÜKOTZE an. Der Älteste ist Alain Forrer, auch Cane Besofen genannt. Ich traf den berufstätigen Lageristen mit den markanten Koteletten in einer typischen Zürcher „Knelle“ zum Gespräch über THE SENILES, Jello Biafra und die unschöne Seite des Schweizer Wohlstands.
Alain, du gehst auf die 60 zu. Punk bis zum Tod?
Ja. Daran wird sich auf keinem Fall etwas ändern. Punk ist das, was ich nach anfänglicher Suche in der Pubertät 1976 für mich entdeckt habe. Nachdem der Punk in den Achtziger Jahren mitunter sehr kommerziell geworden war, suchte ich zwar auch andere Sachen wie beispielsweise New Romantic. Dann kam der Psychobilly, was für mich etwas Neues und Hartes war, allen voran THE METEORS, aber auch DEMENTED ARE GO waren wichtig für mich. Nach ein paar Jahren bin ich mit dieser Szene allerdings auf Distanz gegangen.
Was ist passiert?
Teilweise zog die Psychobilly-Szene rechtsextremes Gedankengut an, Skinheads und so. Rockabillys vertraten gelegentlich rechtslastige Ansichten. So habe ich wieder zurück zum Punk gefunden.
Mit 58 bist du genauso alt wie Jello Biafra. Vor zwei Jahren habt ihr ihn und seine Band THE GUANTANAMO SCHOOL OF MEDICINE in der Zürcher Roten Fabrik supportet. Wie war das?
Als die Anfrage des Veranstalters kam, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Ich dachte, es sei ein Scherz. Es war ein unglaubliches Gefühl, die Bühne mit Jello Biafra zu teilen. Live habe ich ihn erstmals 1980 oder 1981 mit den DEAD KENNEDYS in London gesehen. PETER AND THE TEST TUBE BABIES waren damals die Vorgruppe. Und nun reichten wir uns die Hand und plauderten miteinander.
Quasi auf Augenhöhe?
Genau. Dabei habe ich Jello auch von meinem Laden Vinyl Pirate in Zürich erzählt. Er hat sofort Interesse dafür bekundet. Obwohl der Laden am folgenden Tag eigentlich zu gewesen wäre und ich meinem regulären Job nachgehen musste, konnten wir das arrangieren. Jello fand es sehr cool und hat etwa dreißig Schallplatten gekauft, bevor nachmittags der Tourbus wieder losmusste.
Letzten Herbst haben THE SENILES eine neue 10“ veröffentlicht. Sie trägt den Titel „The Hipster’s Last Selfie“. Was wollt ihr damit sagen?
Es hat in Zürich plötzlich die Tendenz gegeben, dass so „komische“ Leute aufgekreuzt sind, welche man zunächst nur aus Dokumentationen über New York oder Berlin kannte. Auf einmal mussten wir feststellen, dass Hipstertum auch in Zürich angekommen war.
Was verstehst du unter „Hipster“?
Hipster kommen aus der Künstler-Ecke, zum Beispiel Grafiker, die sehr innovativ sind und versuchen, neue Trends zu finden oder zu setzen.
Daran gibt es ja erst mal nichts auszusetzen.
Nein, überhaupt nicht. Aber dieser Typus ist mir zu sehr auf Geld aus, achtet sehr auf Äußerlichkeiten, auf „schön sein“, und ist meines Erachtens auch ziemlich egoistisch. Das merkt man beispielsweise in den hiesigen Bars, wo sie aufkreuzen, auf der Suche nach neuen Ideen, welche vermarktet werden können. Mir kommt es auch so vor, als ob diese Leute finanziell relativ gut dastehen. Wenn dann natürlich ein Arbeiterviertel aus irgendeinem Grund cool ist und die Mietpreise steigen, heizen diese Leute den Markt noch zusätzlich an.
Entsprechend wütend klingst du auf eurem Album, wovon schon die Songtitel zeugen: „What a shame“, „Scheißmiregal“, „Shit“, „I hate the world“. Inwiefern dient die Musik der SENILES als Ventil?
Wenn jemand in Zürich groß geworden und immer hier gelebt hat, hat man natürlich die ganze Entwicklung mitgekriegt. Ein „Büezer“, der hart arbeitet, aber nicht viel verdient, spürt den finanziellen Druck wegen der hohen Mieten. Viele ziehen dann aufs Land, weil es dort billiger ist. Ich will das aber noch nicht. Deshalb will ich mich dem entgegenstellen und nicht einfach aufgeben. Die Entwicklung der Politik in unserer Stadt ist scheiße. Paradoxerweise ist die Stadtregierung ja mehrheitlich links-grün. Ich verstehe unter links-grüner Politik eine, die für die Natur und die Menschen einsteht, die ein soziales Programm fährt. Die Politik sollte zusehen, dass auch ärmere Menschen in der Stadt leben können. Was passiert, ist das Gegenteil. Auch denen geht es nur ums Geld und um den Reichtum. Darum gilt für uns schon seit längerem: Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten. Der von Zürich eingeschlagene Weg macht mich wütend. Aber nicht nur das. Es gibt natürlich auch globale Themen, die mich wütend machen.
Apropos wütend: Das Coverartwork mit den vier angepissten Rentnern finde ich sehr gelungen.
Ja, das Artwork zeigt vier „Senile“, die einem Hipster auflauern. Gestaltet wurde das Cover von Michel Casarramona, den ich schon aus den Neunziger Jahren und der damaligen Hausbesetzerszene kenne. Er wohnte im besetzten Ambience, gegenüber vom ebenfalls besetzten Wohlgroth-Areal im Zürcher Kreis 5, wo regelmäßig Konzerte stattfanden. Ich spielte damals Bass bei VENDETTA und er machte als Grafiker viele Flyer für Konzerte da. Unser Bassist Roger und ich haben uns mit ihm getroffen und unsere Ideen präsentiert. Eigentlich war es so gedacht, dass eine Dampfwalze den Hipster überfährt. Nach der Terrorattacke in Nizza, wo viele Menschen von einem Terroristen mit einem Lastwagen überfahren und getötet wurden, mussten wir diese Idee allerdings begraben. Michel ist eben politisch korrekter, als wir es als Band manchmal sind, haha. Vom Endresultat waren wir dann begeistert.
Musik machst du seit dreißig Jahren. Welche war deine erste Band?
Begonnen habe ich als Schlagzeuger bei der Psychobilly-Band AXE-MAN JAZZ, das war von 1987 bis 1990. Der Bandname war vom gleichnamigen THE BEASTS OF BOURBON-Album abgeleitet, die wir sehr verehrten. Ihren ersten Auftritt hatten AXE-MAN JAZZ noch mit einem anderen Drummer in der Drohnenhalle der Roten Fabrik, wo es jeden Donnerstag Konzerte gab. Nach diesem Gig kam ihr Gitarrist zu mir und bat mich um meine Meinung. Immerhin war ich so was wie der erste Psychobilly in der Stadt, auch äußerlich. Ihr Schlagzeuger hatte mir nicht so gepasst und nach ein paar Tagen fragte er an, ob ich selber mitspielen wolle. So ist das gelaufen, obwohl ich zu Beginn gar nicht Schlagzeug spielen konnte.
Wie war die Szene damals?
Viel intensiver, größer, stärker, aber auch kompakter. Man kannte sich. Es gab besetzte Häuser, überall war etwas los. Das sogenannte „Gastrogesetz“ – welches 1996 angenommen wurde und das Gastronomiegesetz liberalisierte – war damals ja auch noch nicht in Kraft getreten, was sich sehr positiv auf den Untergrund auswirkte. Denn wegen der strengen Öffnungszeiten und einer rigiden Bewilligungspraxis für Wirte gab es überall illegale Bars und dementsprechend eine große Szene. So gab es auch mehr und mehr Bands. Das funktionierte bis Ende der Neunziger Jahre. Seitdem bröckelt die Szene, obwohl es ja auch jetzt noch besetzte Häuser gibt in Zürich.
Wie ist es heute?
Die Hausbesetzerszene hat sich aufgesplittet. Hier hat sich etwas entwickelt, dort etwas anderes, oft aber nicht mehr im Punk-Bereich. Viele verschiedene Gruppen machen alle etwas anderes. Der Techno hat natürlich auch großen Zulauf in dieser Szene, was wiederum die Punk- und Hardcore-Szene auseinandergerissen hat. Heute ist es wieder schwieriger, als Punkband aufzutreten oder als Punk-DJ aufzulegen. Trotzdem treten entsprechende Bands im besetzten Koch-Areal oder vorher im Labitzke-Areal auf. Da gehe ich meistens dann hin. Viel mehr habe ich aber mit dieser Besetzerszene nicht mehr am Hut.
Dass THE SENILES aber mindestens mit der Schweizer Punk-Szene vernetzt ist, hat das Fest zu eurem zehnjährigen Bestehen gezeigt.
Absolut. Beat-Man und THE MONSTERS, welche aufgetreten sind, kennen wir beispielsweise schon lange. Beim Benefizkonzert für Beat-Mans Label Voodoo Rhythm konnten wir vor acht Jahren im vollen Dachstock der Reitschule in Bern auftreten. Vor so vielen Leuten haben wir bis heute nie wieder gespielt. Auch zu der Zürcher Band STORM, die bei unserem Jubiläum aufgetreten sind, haben wir gute Verbindungen. Die spielen ja oft in den Bars in der Langstraße in Zürich. TEENAGE KINGS spielen zwar nicht mehr so oft, sind aber weiterhin befreundet mit uns. Früher war CATCHPOLE eine Band in der Szene, heute ist es beispielsweise ÜBERYOU. Das Jubiläumswochenende wurde aber leider von einer traurigen Nachricht überschattet, denn unser Freund und Fahrer Mauro ist verstorben. Wir haben uns aber dazu entschieden, das Programm durchzuziehen, was richtig war!
Im Januar spielten THE SENILES in der Alten Hackerei in Karlsruhe. Wie läuft’s für euch in Deutschland?
Ja, die Alte Hackerei ist für uns der beste Punk-Schuppen im süddeutschen Raum. Die Alte Hackerei ist für mich vergleichbar mit dem Sedel in Luzern, welches für mich das beste Konzertlokal der Schweiz ist. Dann gibt es natürlich auch das AZ Aachen, wo wir schon zwei Mal auftreten durften. Nicht zu vergessen die Au in Frankfurt und das AK47 in Düsseldorf. Sehr schöne und geile Orte. Aber eine andere Mini-Deutschlandtour durch Hamburg, Bremen und Karlsruhe mussten wir kürzlich leider streichen.
Wieso?
Wir wissen es nicht genau. Aber in Hamburg und Bremen hat sich in den Lokalen, wo wir aufgetreten wären, Widerstand geregt. Wir waren perplex und wurden direkt im übertragenden Sinn zu „Arschlöchern“, ohne Diskussion. Wir vermuten, es liegt an den teilweise vielleicht etwas schlüpfrigen Texten. Wenn ich in einem Song beschreibe, wie mir eine Frau gefällt, bin ich deshalb doch kein Sexist! Wir sind offene Menschen, die links sind und für die Gleichberechtigung einstehen. Für mich ist ein Mensch ein Mensch. Ohne Vorurteile. Man kann doch miteinander diskutieren? Auch linke Kreise sind manchmal zu ideologisch und geben dir keine Chance zu argumentieren. Deshalb singe ich auch in einem Song „I hate fascists, I hate communists“. Ich hasse Politik und ich hasse Religion, alles verarscht dich. Der Kommunismus ist in der Umsetzung leider auch nicht das Wahre.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #131 April/Mai 2017 und Maurus Candrian
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #130 Februar/März 2017 und Joachim Hiller