Seit 2011 sind die ursprünglich 1991 im nördlich von London gelegenen Stevenage gegründeten SCUM OF TOYTOWN wieder aktiv, eine der interessantesten modernen Reggae-Punkbands. Inspiriert von Bands und Künstlern wie THE CLASH, Lee Scratch Perry, THE RUTS, THE BEAT und CRASS, veröffentlichen SCUM OF TOYTOWN ihre erste Single „Destruction Of Both Houses Of Parliament By Fire“ im Frühjahr 1993, gefolgt vom 94er Meisterwerk „Strike“. Es folgten unzählige Konzerte, bis SCUM OF TOYTOWN 1998 vorerst auf Eis gelegt wurden. Mit „Cells“ gibt es jetzt zwanzig Jahre nach ihrem großartigen Debüt ein zweites Album, das „Strike“ in nichts nachsteht. Ich stellte Schlagzeuger und Gründungsmitglied Craig einige Fragen zur Geschichte der Band.
Craig, eure Bandgeschichte im Schnelldurchlauf bitte.
Am Anfang grasten wir im Raum London alles ab, wo wir eine Möglichkeit sahen aufzutreten. Als John Peel dann unsere erste Single in seiner Sendung vorstellte, erhielten wir schlagartig mehr Angebote. Unser damaliges Leben bestand außerdem aus Polit-Aktionen gegen die Jagd, wir besuchten Reggae-Konzerte, waren oft auf Demonstrationen, spielten unser Set auch mal akustisch in Häusern irgendwo auf dem Land und tourten mit Bands wie BACK TO THE PLANET, CITIZEN FISH, RADICAL DANCE FACTION oder PROPAGANDA AND INFORMATION NETWORK. Aber die meisten Konzerte spielten wir alleine. Wir fühlten uns als Außenseiter, die zu den anderen Bands nicht passten. So lebten wir acht Jahre in einem Tourbus, bis 1998 irgendwann die Luft raus war. Zudem waren wir total abgebrannt und brauchten einfach einen Tapetenwechsel. Unserer Freundschaft tat dies keinen Abbruch. Lea und Nick machten ihre Ausbildungen fertig. Jon und Toad gingen ihren Jobs nach, und ich startete ein Musikprojekt für Jugendliche in Stevenage. Vier von uns haben mittlerweile Kinder, für die man schließlich auch verantwortlich ist.
Ihr kommt alle ja aus Stevenage. Wie ist es, dort zu leben?
Stevenage wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut. Für die damals viel zu große Bevölkerung wurden in den Fünfziger Jahren diese Wohnschachteln gebaut, wodurch Stevenage einer Spielzeugstadt glich. Da es dort viele große Grünanlagen und viele Fahrradwege gibt, war es zwar nicht schlecht, dort aufzuwachsen, aber da hat jeder von uns ganz eigene positive wie auch negative Assoziationen. In Stevenage waren wir die Asozialen, der Dreck. Kaum jemand wollte etwas mit uns zu tun haben. Und so entstand auch der Name SCUM OF TOYTOWN. Heute ist Stevenage eine ziemlich langweilige Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit. Noch heute werden wir wegen unserer Herkunft von Leuten aus reicheren Städten belächelt oder verspottet.
Und dennoch habt ihr in dieser Zeit ein Genre geprägt, das Anarchopunk, Reggae, Pop, Ska und Dub vereint. Wer darf da neben euch auf keinem Fall fehlen?
Neben den oben erwähnten Bands sind noch CULTURE SHOCK, AOS3, INNER TERRESTRIALS, AUTONOMADS, SPITHEAD und die großartigen ALIANS aus Polen wichtig.
Mit „Strike“ ist euch 1994 auf dem Label Words Of Warning eine der interessantesten Veröffentlichungen dieses Genres gelungen. Wie lief damals die Zusammenarbeit ab?
Über Words Of Warning wurde in der Vergangenheit viel gesagt und geschrieben. Manches davon war nicht sehr positiv, aber unsere Erfahrung mit Carl war sehr gut. Er glaubte damals an uns und finanzierte die Aufnahmen im Southern Studio. Wir fühlten uns dort sehr wohl, konnten unserer Kreativität freien Lauf lassen und trotzdem lief es professionell. Eine Woche, bevor wir „Strike“ einspielten, war PJ Harvey dort im Studio. Bim Sherman mixte ihre Aufnahmen, während wir mit Harvey Birrel, der unter anderem mit THERAPY? und LEATHERFACE arbeitete, in fünf Tagen unser Material einspielten. Es gab also jede Menge Inspiration in dieser Zeit und wir glauben, dass sich das auf „Strike“ auch widerspiegelt. Gerne hätten wir damals eine zweite Platte aufgenommen, aber wir spielten bis 1998 einen Auftritt nach dem anderen und es fand sich einfach keine Gelegenheit.
Zwanzig Jahre nach „Strike“ gibt es mit „Cells“ jetzt einen Nachfolger, den man vielleicht so nicht erwartet hätte.
Auf „Cells“ stammen aus der Zeit bis 1998 die Songs „Hide and sneak“, „State of being“, „Same difference“ und „Nostrovia“. Der Druck von damals ist heute weg. Wir nehmen uns jetzt mehr Zeit zum Schreiben. Außerdem kann man heutzutage auch viel unabhängiger professionell aufnehmen und „Cells“ entstand komplett D.I.Y. Von der Musik über die Texte, von den Aufnahmen über den Mix bis hin zum Artwork haben wir alles selbst gemacht. Ruin Nation und Skuld boten sich an, die Platte zu veröffentlichen. Noch ist es zu früh, um über Reaktionen auf „Cells“ zu sprechen, da die Platte noch nicht umfangreich genug beworben wurde. Aber wir hoffen auf gute Resonanz, die uns ermöglicht, „Strike“ wiederaufzulegen und weiteres neues Material zu veröffentlichen. Es sind schon einige neue Stücke für ein drittes Album geschrieben. Auch Gigs in Deutschland sind bereits in Planung.
Wenn eine Band nach jahrelanger Abwesenheit erneut beginnt, ist es eher die Ausnahme, dass sich alle damaligen Mitglieder zusammenfinden, um einen Neustart zu wagen. Aber bei euch gehören zum engeren Umfeld noch einige weitere Personen, die es wert sind, erwähnt zu werden.
Gemma, Chalky, Andy und Ben sind die guten Seelen hinter der Bühne. Dan war ein ganz besonderer Freund von uns, der den Text zu „6 ft higher“ beisteuerte. Leider starb er vor drei Jahren an einem Krebsleiden. Seine Hochzeit vor fünf Jahren war der Auslöser, dass wir wieder zu spielen begannen. Dan war Umweltaktivist und auch sonst eine äußerst liebenswerte Person. Wären wir nur alle so wie er, wäre diese Welt eine bessere.
Auf „Strike“ sowie auf eurer Homepage taucht folgender Vers auf: „For punks / Pranksters and / Cultural gangsters / Inspire, co-operate / Conspire, re-generate / A republic of dreams / Of desires without barriers / Subversive as love / Set free from constraint / The message we send / Is the means / Is the end / If not you then who? / If not now then when?“, gefolgt von Emma Goldmans bekanntem Zitat: „If I can’t dance, it’s not my revolution.“ Was daran gilt heute noch in Bezug auf Punk?
Wir bemühen uns, ein glückliches Leben zu führen und anderen ein glückliches Leben zu ermöglichen. Nichts anderes umfasst unser humanistischer Ansatz in der kurzen Zeit, die wir auf diesem Planeten verbringen. Larry Law schrieb einige situationistische Texte in seiner Reihe „The Spectacular Times“, wovon wir vielleicht folgende Paraphrase von Raoul Vaneigem auf dem nächsten Album verwenden werden: „If you don’t relate what you say to everyday life you have a corpse in your mouth.“ Wir versuchen, darauf hinzuarbeiten. Unser Leben hat sich, von Punk mal abgesehen, in vielerlei Hinsicht bewegt. Wir haben uns durch unsere Erfahrungen mit der Punk-Szene verändert in der Art, wie wir sind, wie wir uns entwickelt haben und wie wir die Welt sehen, die uns umgibt. Mit dem dadurch erworbenen „Inneren Bullshit-Detektor“ sind wir kritischer geworden. Das ermöglicht uns ein freies Denken, Menschlichkeit, Kreativität und Rücksicht.
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