Vor mehr als vier Jahren erzählte mir Jan Heck, mein filmemachender Freund von der schwäbischen Alb, während einer Raucherpause irgendeines Kulturabends von seinem Vorhaben, komplett alleine und mit sehr geringer Förderung eine Dokumentation über die DDR-Punkband SCHLEIMKEIM machen zu wollen. Nun, viele Jahre und eine Pandemie später ist „Schleimkeim – Otze und die DDR von unten“ fertig. Wie viel Zeit, Geld und Energie ist da wohl reingeflossen? SCHLEIMKEIM als zeitgeschichtliches Phänomen waren mir schon geläufig, vor allem das Schicksal von Sänger Otze und die prekären Umstände für Punkbands in der DDR wurden immer mal wieder ausgeleuchtet, mehr war mir allerdings nicht bekannt, allerhöchstens vier oder fünf Songs. Ob Jan aus purer Sensationsgier, einer mir noch unbekannten Leidenschaft für Ost-Punk oder inspiriert durch die Biografie „Satan, kannst du mir noch mal verzeihen“ dazu verleitet wurde, so viel persönliche Kapazitäten in dieses sensible Projekt zu feuern, wollte ich herausfinden.
Jan, was verbindet dich mit Punk und was mit der ehemaligen DDR?
Mit 14 war Punk auf dem Dorf das Beste, was mir hätte passieren können. Punk vereinte alles, was mich begeisterte: Krach, Kunst, Rebellion, bisschen Politik, Lyrik, Weisheit und Schwachsinn. Ich interessierte mich als Kind sehr für Mozart und fand es auch schon immer super, dass dieser öfter zur Flasche gegriffen hatte und von verschiedenen geistlichen und adeligen Instanzen mit Arschtritten vor die Tür befördert wurde, weil er sich nicht „benehmen“ konnte. Mozart ist für mich schon immer Punk gewesen, hat ja auch schon Falco gesagt. Für mich war das damals so, als ob Punk eine Art Comic ist, der zur Wirklichkeit wurde, und das Beste war, ich konnte einfach mitmachen. Mein Aussehen veränderte sich, ich begann sehr schnell damit, Punkbands zu gründen, und benehmen wollte ich mich auch nicht mehr. Punk war für mich eine Tür, die direkt raus aus dem spießigen Dorf führte. Videos von den SEX PISTOLS, den RAMONES oder auch den POGUES haben mich fasziniert und magisch angezogen, was sie heute auch immer noch tun. Musik spielt in meinem Leben eine tragende Rolle, aber ich muss einfach sagen, dass Punk in meinen Augen das beste Musikgenre ist, das es je gegeben hat. Ich kann nicht anders, als ein Teil dieser Subkultur zu bleiben. Punk ist einfach das Geilste. Mit der DDR verband mich als schwäbisches Wessi-Schwein zuerst rein gar nichts. Mit der Zeit entwickelte ich aber eine große Faszination für sie, was in der Entstehung dieses Films gipfelte. Ich bin in letzter Zeit auch sehr oft in Leipzig unterwegs, der beste Laden da ist der Schnelli.
Bevor du dich an dieses irre Mammutprojekt wagtest, hast du dich doch hauptsächlich an unterhaltsamen Musikvideos für unbekannte Rumpelpunk-Bands versucht. Oder bist du etwa ein gelernter Filmemacher mit richtiger Ausbildung?
Ich habe „Motion Pictures“ in Darmstadt-Dieburg studiert und danach meinen Master an der Hochschule Mainz gemacht. Man könnte also sagen, ich habe eine sehr gute filmische Ausbildung genossen. Ich habe während meines Studiums sehr viele Kurzfilme und auch einen Spielfilm gedreht, der aber absolut nirgendwo lief. Jetzt arbeite ich als freier Regisseur und Cutter. Immer mal wieder mache ich auch noch Videos für Rumpelpunk-Bands, zum Beispiel meine eigene.
Die da wäre?
Ich singe und spiele Gitarre in der Band ZIK ZAK.
Hätte es eine ganz gewöhnliche Tourdoku über eine aktuelle Deutschpunk-Band wie etwa ERSATZKOPF nicht auch getan? Musste es gleich so ein pikantes und emotional aufgeladenes Thema sein?
Immerhin ist es ja zu einem gewissen Teil auch eine True-Crime-Doku. Obwohl ERSATZKOPF sehr, sehr gut sind, war es ganz einfach so, dass mich die Geschichte von SCHLEIMKEIM so sehr begeistert hat, dass ich mich regelrecht aufgeregt habe, dass niemand dazu bewegtes Bild produziert hatte. Ich wollte einfach diese Bilder auf der Leinwand sehen und an der Stelle habe ich eben gesagt: Dann mach ich das einfach!
Meinst du mit True-Crime die Tat, die Otze begangen hat, oder die DDR an sich?
Ich meine eigentlich die Tat. Der True-Crime-Faktor gehört natürlich zu der Geschichte von SCHLEIMKEIM dazu, aber ich habe versucht, ihn nicht zu sehr aufzublasen. Otze hat eine schreckliche Tat begangen und diese wird in der Doku untersucht und beleuchtet, so dass sich vielleicht sogar eine Art Einordnung herausbilden kann, was Personen dazu bringt, solche extremen Dinge zu tun. Ich möchte hier aber anmerken, dass die Doku die Tat in keiner Weise entschuldigt.
Das ist wahr, du zeigst viel Fingerspitzengefühl, bist nicht reißerisch und gibst ihr genau den richtigen Raum. Wie geht man an so eine Doku heran? Das muss doch ein unheimlicher Aufwand gewesen sein, der unmöglich alleine zu stemmen war.
Da sich das Buch „Satan, kannst du mir noch mal verzeihen – Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest“ von Frank Willmann und Anne Hahn bereits in meinem Besitz befand, schaute ich mir dieses noch mal ganz genau an. Danach entdeckte ich auf der Rückseite meiner SCHLEIMKEIM-Schallplatte eine Telefonnummer, was den ersten Stein ins Rollen brachte. Als ich dann darüber nachdachte, wie ich dieses Projekt finanziell am billigsten umsetzen könnte, entschied ich mich dazu, eine Bewerbung bei der Hochschule Mainz für den Master in Film abzugeben. Aus sicherer Quelle wusste ich, dass die Hochschule ihren Student:innen eine Medienausleihe mit Kameras, Licht und Ton zur Verfügung stellt. Ich habe mich also gezielt an dieser Hochschule beworben, um das Projekt umzusetzen. Natürlich habe ich das Privileg des Masterstudiums sehr genossen. Ich hatte eine tolle Zeit an der Hochschule und mein Professor Tjark Ihmels, der den Film von Anfang an betreut hat, war eine sehr große Hilfe bei der Umsetzung des Projekts. Ich habe außerdem ein kleines Stipendium von der Film + Mediennachwuchsförderung Rheinland bekommen, womit ich das ganze Benzin für die vielen Fahrten in den Osten bezahlen konnte. Noch dazu ist die Produktionsfirma Kontrastfilm aus Mainz irgendwann auf mein Projekt aufmerksam geworden. Die haben sich dann meines Films angenommen und mir vor allem bei der Klärung der ganzen Archivrechte sehr viel geholfen. Vor allem Tidi von Tiedemann, den Chef der Firma, muss ich hier als großen Unterstützer erwähnen. Ohne seine Hilfe hätte ich das alles nicht geschafft. Am allermeisten Support hatte ich von meinen ganzen filmschaffenden Freund:innen, die mir bei den Dreharbeiten geholfen haben. Niemand hat irgendwie Gage bekommen. Woher denn auch? Ich arbeite immer noch einmal in der Woche in einer Kneipe. Ich habe das ganze Projekt zwar quasi im Alleingang umgesetzt, aber ohne die Hilfe meiner Freund:innen hätte ich es niemals hinbekommen, das Projekt so zu verwirklichen.
Wie kamst du an die ganzen Originalaufnahmen?
Ich habe Archive durchsucht, die teilweise nicht mal wussten, dass solche Aufnahmen in ihrem Keller liegen. Dabei bin ich Hinweisen von Zeitzeug:innen gefolgt und am Ende wirklich fündig geworden. Als ich die Filmaufnahmen von SCHLEIMKEIM aus der DDR gefunden habe, hat sich das angefühlt, als ob ich einen Schatz gehoben hätte. Neun Stunden lang habe ich alte Videokassetten durchsucht. Ich glaube, bis jetzt hat kaum jemand diese Aufnahmen gesehen.
Und wie einfach war die Kontaktaufnahme zu den stellenweise skurrilen Weggefährt:innen, die in dem Film auftauchen?
Es war sehr schwierig, Personen namens Spinne, Speiche, Cabi, Lippe oder Pankow ausfindig zu machen. Ich musste oft sehr lange recherchieren, bis ich an die Kontakte gekommen bin, teilweise Jahre. Ich habe mit einigen von ihnen dann im Vorfeld stundenlange Telefonate geführt. Ich bin sehr, sehr froh, an diese Gruppe von Zeitzeug:innen herangekommen zu sein. Alle Personen in meiner Doku sind echt supernett und wirklich tolle Menschen.
Anfangs sieht man dich noch selbst in der Doku und zwischendurch hört man auch deine Stimme aus dem Off. War es schwer, sich für einen Dokumentationsstil zu entscheiden?
Das Gute an der Doku ist, dass es um eine Punkband geht. Mir war also von Anfang an klar, dass die Machart selbst Punk sein musste. Umso mehr die Doku aneinandergeklebt, schroff, laut, leise, roh und dreckig wirkt, desto besser. Bei der Erzählung der Geschichte war ich jedoch sehr genau und vorsichtig. Otze macht im Grunde eine klassische Heldenreise durch, die in einer Tragödie endet, und dies wollte ich, gepaart mit historischen Informationen und Belegen, auch genau so erzählen. Dass ich in der Geschichte als „Erzähler“ fungiere, war eigentlich überhaupt nicht geplant. Bei unserem allerersten Dreh habe ich spontan gesagt: „Komm, lass das noch mitnehmen, wie ich hier bei den SCHLEIMKEIM-Leuten an die Türe klopfe. Vielleicht brauchen wir das noch mal.“ Und genau so war’s dann auch. Ich bin selbst auf eine Reise gegangen, um die Dokumentation zu machen, und dies zu einem kleinen Teil des Films werden zu lassen, fand ich gut. Das Publikum merkt, dass hier keine riesige Firma mit tausenden von Euros hinter der Produktion steckt. In Wirklichkeit war es einfach so ein Hansel mit seinen Punk-Freund:innen. Es war also nicht schwierig, sich für einen Stil zu entscheiden, es kam alles ganz natürlich.
Du hast so lange an der Umsetzung gesessen, gab es Momente des Zweifelns?
Oh ja, die gab es. Wenn man sich mehr als vier Jahre ununterbrochen nur einem Projekt widmet, wird man irgendwann einfach bescheuert. Mehrmals habe ich geflucht und mich gefragt, wozu ich diese Scheiße überhaupt mache. Aber als ich den Film zum ersten Mal vor Publikum auf einem Filmfestival gezeigt habe, wusste ich, dass sich die Arbeit und der Schmerz gelohnt hatten.
Wie viel Material ist dem Schnitt zum Opfer gefallen?
Ich habe aus vierzig Stunden Material einen 96-Minuten-Film geschnitten. Ich hätte also locker drei Filme daraus machen können. Der Schnitt hat ewig gedauert und ich musste sehr viele liebgewonnene Szenen rausschmeißen. Fast jeder Ort in dem Film hat beispielsweise einen Bezug zu der Geschichte von SCHLEIMKEIM, was aber fast gar keine Erwähnung findet, da dies von der Hauptstory einfach zu sehr abgelenkt hätte.
Hast du im Nachhinein etwas von den beteiligten Personen mitbekommen? Haben alle den Film gesehen?
Es haben quasi alle Leute, die mitgemacht haben, den Film schon mal gesehen, ja. Zu meiner großen Freude fanden ihn alle auch wirklich gut. Das ging runter wie Apfelsaft.
Wie stehst du selbst zur Musik von SCHLEIMKEIM?
Ich bin wirklich ein Riesenfan. Mit 14 hat mir jemand eine CD von SCHLEIMKEIM in die Hände gedrückt und ich war sofort begeistert von der rotzigen Stimme des Sängers und dem kreissägenartigen Sound der Gitarre. Obwohl ich mich jetzt über vier Jahre wirklich sehr intensiv mit der Band auseinandergesetzt habe, geht mir jedes Lied wie am ersten Tag rein wie nichts. Die Rohheit von Songs wie „Tag & Nacht“ oder der Ur-Version von „Mit dem Knüppel in der Hand“ sind einfach genial. Über die textliche Genialität des Songs „Geldschein“ muss nichts mehr gesagt werden. SCHLEIMKEIM sind eine sehr besondere Band, weil sie nicht nur eine der besten, sondern vielleicht auch authentischsten deutschen Punkbands darstellt, die es je gegeben hat. Das Absurde daran ist, dass die DDR einen großen Teil zu dieser Authentizität beigetragen hat.
Wann, wo und wie können die Leute deine Dokumentation zu Gesicht bekommen?
Ich arbeite mit Hochdruck an einer Kinoveröffentlichung. Wenn alles gut läuft, wird der Arsenal Filmverleih aus Tübingen den Film unter Vertrag nehmen und dann läuft er in allen kleinen Kinos in Deutschland. Es bleibt spannend!
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SCHLEIMKEIM (auch SCHLEIM-KEIM geschrieben) sind ein Faszinosum der deutsch-deutschen Punkgeschichte. Die Band wurde 1980 im Erfurter Stadtteil Stotternheim von den Brüdern Dieter „Otze“ (voc, dr/gt) und Klaus Ehrlich (gt) sowie Andreas „Dippel“ Deubach (bs) gegründet. Wie so viele andere DDR-Punkbands auch gestalteten sich ihre Aktivitäten zur Zeit der DDR-Diktatur schwierig, Konzerte waren oft nur im Kirchenkontext möglich, die Repression seitens der Stasi erheblich. Trotzdem gelang 1983 die Veröffentlichung der LP „DDR von unten“, eine Split-LP von ZWITSCHERMASCHINE und SCHLEIMKEIM. Die Aufnahmen wurden aus der DDR nach West-Berlin geschmuggelt, wo Aggressive Rockproduktionen die LP als wohl erstes Punkalbum mit und von DDR-Punkbands veröffentlichte und so die Bands in Westdeutschland bekannt machte. SCHLEIMKEIM überlebten als Band und mit Besetzungswechseln die Wendejahre, durch die Platten „Abfallprodukte der Gesellschaft“ (Nasty Vinyl, 1992) und „ Schwarz, Rot, Gold – Nie gewollt (Höhnie Records, 1992) sowie vielen Compilation-Beiträgen auf westdeutschen Labels erlangten sie immer größere Bekanntheit und spielten bis zur Auflösung 1996 Konzerte. 1999 der Schock: Otze tötete seinen Vater mit einer Axt und wurde in der Folge in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. 2005 starb er an einem Herzinfarkt. 2008 erschien im Ventil Verlag das Buch „Satan, kannst du mir noch mal verzeihen. Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest.“ von Anne Hahn und Frank Willmann. Mario („Isegrim“, „Lippe“) Lippmann (ab 1988 dr) und Hagen Schröder (ab 1991 bs) reaktivierten die Band bzw. den Bandnamen in den Jahren 2008/2009, seit 2019 und bis in die Gegenwart finden wieder regelmäßig SCHLEIMKEIM-Konzerte statt, ja hat sich um die Band fast schon ein gewisser Kult entwickelt, siehe auch der Comicband „Betreten auf eigene Gefahr“ (2023) in der Songcomics-Reihe von Ventil.
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