Roger Miret

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The godfather of hardcore

Roger Miret, 1964 in Havanna geboren, ist der ältere Halbbruder von Freddy Cricien und der eigentliche Gründer von MADBALL. Ich wollte von ihm wissen, wie es dazu kam, dass er seinen kleinen Bruder im Grundschulalter auf Punk-Konzerte mitschleppte. Ich erwische Roger in seinem Haus in Arizona, seine Frau bringt gerade die Kinder zur Schule, er muss nach dem Interview los zu seiner Arbeit als Elektriker – ganz das glamouröse Rockstarleben eben ...

Roger, wie denkst du heute über deine Idee, den kleinen Bruder auf Punk-Konzerte und zur Bandprobe mitzunehmen?


Es war damals auf jeden Fall eine gute Idee. Wir wohnten in der verrückten Lower East Side, zu einer Zeit, als es dort richtig übel war – Kriminelle, Gangs, Drogenabhängige ... Dennoch war ich der Meinung, dass der bei mir besser aufgehoben ist als zu Hause, wo es in Richtung Missbrauchssituation ging. Ich wollte, dass er sicher ist, und indem ich ihn mitnahm, konnten wir zudem Zeit zusammen verbringen. Und schon, als er das erste Mal mit mir mitkam, war er begeistert. Sein erstes Konzert waren BAD BRAINS im CBGB’s, das muss 1983 gewesen sein. Ich war damals mit Kim zusammen, irgendwo habe ich noch ein Foto von uns. Freddy war damals sechs.

Wie hast du ihn in den Club bekommen? Heute wäre das doch unmöglich.

Damals war alles möglich, keinen kümmerte es. Wir saßen damals im Park rum und schickten Freddy zum Bierholen. Wenn wir Konzerte spielten, packten wir Freddy ins Drumcase und trugen ihn rein. Karen, die Frau von CBGB’s-Boss Hilly Kristal, checkte das und suchte nach ihm, aber wir versteckten ihn, haha. Im A7-Club lief das genauso, und die Shows dort fingen echt spät an ...

Du musst ein großes Verantwortungsgefühl gehabt haben damals, dir deinen kleinen Bruder aufzubürden und denn mitzuschleppen. Normalerweise nervt einen der kleine Bruder in so einem Alter, man will mit Freunden und der Freundin Spaß haben.

Sogar meiner Mutter war es lieber, Freddy in meiner Obhut zu wissen. Freddys Vater – wir sind Halbgeschwister – war Alkoholiker und keine gute Gesellschaft. Die Zeit mit mir war für Freddy eine Auszeit von der verrückten Situation zu Hause, all dem Scheiß, der da abging. Im Detail soll Freddy dir das erzählen, wenn er will. Ich kannte es aus meiner ganzen Kindheit und Jugend nicht anders – ich war derjenige, der sich um die kleinen Geschwister kümmern musste, denn unsere Mutter musste arbeiten und mein Stiefvater auch. Ich kochte, sorgte dafür, dass die was zu essen bekamen. Meine Mutter vertraute mir also mit Freddy. Allerdings kannte sie meine Lebensumstände nicht so genau ... Ich habe ihr nicht alles erzählt.

So eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Übernehmen von Verantwortung für den kleinen Bruder einerseits und der Verantwortungslosigkeit, mit der man sich selbst in der Punk-Szene austobte, bestand aber ja durchaus.

Ja, das ist echt seltsam. Und wenn ich so zurückblicke und mir dann meinen Sohn und meine Tochter anschaue, die sind acht und zehn, dann frage ich mich schon, was ich mir damals mit Freddy gedacht habe. Wir hausten teilweise in leerstehenden Gebäuden, in denen sich nur Verrückte rumtrieben. Aber ganz ehrlich, mein Gefühl damals war, dass Freddy in meiner Obhut sicherer ist als daheim. Seltsam, oder? Aber wir Kids aus der Lower East Side hielten auch zusammen wie Brüder und Schwestern, weil wir keine andere Wahl hatten. Wir waren so was wie unser eigener Stamm, wir beschützten uns gegenseitig. Und so kümmerte nicht nur ich mich um Freddy, wir alle spürten diese Verantwortung: Ray, Adam, Vinnie ... alle hatten ein Auge auf ihn.

Wenn du von Familie sprichst, meinst du also diese Gruppe von Freunden und nicht zwingend Verwandte im klassischen Sinne?

Genau! Es gibt einen Unterschied zwischen auf Blutsverwandtschaft basierender Familie und Familie, die auf Freundschaftsbanden basiert. Das ist eine andere Art von Familie, aber genauso echt und stark. Wir fühlten uns alle sehr eng verbunden. Und zusammengebracht hatte uns die Hardcore-Punk-Musik. Wir kamen alle aus schwierigen Verhältnissen, hatten Gewalt und Missbrauch erfahren, waren Außenseiter und Rebellen und waren auf der Suche nach neuen Verbündeten, die wir aber nicht in der unmittelbaren Familie sahen. Aufgehoben wie in einer Familie fühlten wir uns nur in unserer Lower East Side-Hardcore-Community.

Das waren völlig andere Lebensbedingungen als die, unter denen ich und wohl viele andere Punk- und Hardcore-Fans hierzulande aufwuchsen – eher wohlbehütet und bürgerlich. Ich muss zugeben, dass ich lange Schwierigkeiten hatte, die Lebensrealität von AGNOSTIC FRONT zu verstehen, und anderen ging es sicher genauso. Ist dir das schon öfter begegnet?

Ja, und mit deiner Aussage hast du etwas sehr Wichtiges, Wahres gesagt. Mein Sohn, meine Tochter wachsen genau so auf, wie du es beschrieben hast. Die sind sicher, die müssen sich keine externe Familie suchen wie ich und Freddy damals. Die haben Eltern, die gut zu ihnen sind, da gibt es keinen Alkoholmissbrauch, keinen Missbrauch irgendeiner Art. Die wachsen wohlbehütet auf und müssen das, was wir erst anderweitig suchen mussten, nicht erst noch finden. Wie es uns damals ging, das ist einerseits also schwer nachzuvollziehen – und andererseits auch ganz leicht. Denn du musst ja nur auf eine Show von uns oder MADBALL gehen und die Erfahrung machen, wie es ist, sich zugehörig zu fühlen. Das sind deine Leute da bei dem Konzert! Die denken alle mehr oder weniger wie du. Klar, das Schöne am Hardcore ist, dass jeder seine eigene Meinung hat, dass man sich austauscht und herausfordert mit seinen Ideen. Ich will ja nicht in einem Raum mit Menschen sein, die alle exakt so denken wie ich, das wäre eine Maschine. Nein, ich brauche die Herausforderung, ich muss Fragen stellen können, deine Meinung kennen lernen, etwas von dir lernen. Ignoranz ist dumm, es muss sich ständig eine neue Tür öffnen. Das alles ist das Schöne an unserer Musik – nicht nur der von AGNOSTIC FRONT, sondern von Punk und Hardcore allgemein. Engstirnigkeit schließt dich aus von all diesen Erfahrungen. Und ich denke, eine Show von MADBALL oder AGNOSTIC FRONT vermittelt ein Gefühl davon, was ich damit meine. Die New York Hardcore-Szene hat es aus irgendeinem Grund geschafft, Menschen weltweit zusammenzubringen. Vielleicht liegt das ja an diesem Familiengefühl, dass man sich zugehörig fühlen kann – auch ohne im Detail zu verstehen, was die Typen da von ihrem Leben in der Lower East Side erzählen. Darauf kommt es an.

Hast du dir jemals Sorgen um deinen Bruder gemacht? So ein kleiner Bruder bleibt ja für den Rest seines Lebens der kleine Bruder, auch wenn er über vierzig ist.

Haha, ja, vor allem wenn dein „kleiner“ Bruder viel größer ist als du. Der kann sich schon um sich selbst kümmern, wenn es drauf ankommt. Ich mache mir also nicht so grundsätzlich um ihn Sorgen, aber ich will, dass es ihm gut geht, dass seine Kinder okay sind. Ich mache mir die ganze Zeit Gedanken über die Menschen, die mir nahe stehen. Aber ich weiß, dass es Freddy gut geht, und ich habe unser Verhältnis nie in der Art gesehen, dass ich die Fackel an ihn weiterreiche oder so. Ich habe ihn einfach auf die Bühne geschubst damals, ihm gesagt, er soll mal einen Song singen, einfach damit er sieht, dass er das kann. Und den entscheidenden Schubs bekam er dann bei der „One Voice“-Tour, als er drei Wochen lang bei AGNOSTIC FRONT singen musste. Ich war damals bei der Tour in Amerika richtig krank geworden, musste ins Krankenhaus, und sagte zu ihm, dass außer mir niemand anders als er es draufhabe, den Job zu übernehmen. Er war sauer, er wollte das zuerst nicht, er war ja erst zwölf oder dreizehn. Aber dann hat er es doch gemacht und es hat ihn erwischt, er wollte, dass MADBALL seine richtige Band wird, dass es nicht mehr nur ein Nebenprojekt ist. Es war cool, dass ich, Vinnie, Will und Matt Henderson die beiden ersten MADBALL-Singles mit ihm aufnahmen. Wir machten das für Freddy, wir liebten ihn. Und wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass er aufgriff, was wir ihm gaben und er Hardcore dann selbst entdeckte. Wir waren nur sein Trampolin für den Absprung und er machte aus MADBALL sein eigenes Ding.

Hast du dir auch mal richtig Sorgen um ihn gemacht? Situationen, wo du das dringende Bedürfnis verspürtest, ihm einen brüderlichen Rat zu geben?

Da gab es einige. Als Teenager war er so bekloppt wie jeder von uns in diesem Alter. Ich habe dann immer versucht mich zu erinnern, wie ich in seinem Alter drauf war, und über sein Verhalten zu lachen. Und heute lacht er über den Scheiß, den seine Kinder machen. Wirklich Sorgen gemacht habe ich mir, als ich damals morgens um halb sechs den Anruf erhielt, er sei mit einem Messer verletzt worden. Ich setzte mich sofort ins Auto und fuhr zu ihm ins Krankenhaus. Er war einfach ein wilder Teenager und brachte sich in dumme Situationen.

Wie nah seid ihr euch heute, wie oft trefft ihr euch? Du lebst in Arizona, er in Florida – da seht ihr euch doch wahrscheinlich eher in Europa auf Tour als in den USA, oder?

Haha, das trifft es ziemlich genau! Demnächst sehe ich ihn in New York beim Black n’ Blue Bowl in Brooklyn. MADBALL spielen am Abend vor unserem Auftritt. Und ich treffe ihn in Florida, wenn ich meine Mutter besuche. Ansonsten lebe ich ja weit weg von den anderen, weit im Westen, in Arizona. Und wenn MADBALL mal hier in der Gegend spielen, besucht uns Freddy.

Wie nah sind sich MADBALL und AGNOSTIC FRONT denn deiner Meinung nach musikalisch? Euch packt man natürlich beide in die New York Hardcore-Schublade, aber die gemeinsamen Tage sind doch lange vorbei.

MADBALL sind definitiv die kleinen Brüder von AGNOSTIC FRONT, auch wenn sie sich musikalisch etwas anders entwickelt haben. Aber nimm ein Album wie „One Voice“ von 1992, denk dir meine Stimme weg und Freddys dazu, dann klingt das wie das, was MADBALL seit Jahren machen. Vor allem auch, weil wir durch den Einstieg von Matt Henderson auf diesem Album eine andere Art des Gitarrensounds hatten, das war der Beginn einer neuen Ära für AGNOSTIC FRONT und daran knüpften MADBALL dann an, also mehr an diese New-School-Sachen. Als Bands waren wir immer schon eng verbunden. Und bei der zweiten Europatour waren MADBALL – da hatten sie gerade die zweite Single raus – unsere Vorband, was dann so aussah, dass Freddy nach dem MADBALL-Set, bevor er von der Bühne ging, das Mikro an mich weitergab – ich spielte bei denen Bass – und es ging mit dem AGNOSTIC FRONT-Set weiter, sobald Craig meinen Platz am Bass übernommen hatte. Heute würde ich den Sound von AGNOSTIC FRONT als etwas punkiger und rauher als den von MADBALL beschreiben.

Wie ging das damals überhaupt, dass Freddy auf Tour gehen konnte, der hätte doch eigentlich zur Schule gehen müssen?

Er ging damals zur Highschool und hatte als Bedingung für die Freistellung auferlegt bekommen, dass er einen Aufsatz über die Reise schreibt – den hat er aber nie abgeliefert, haha. 1991 muss das gewesen sein, noch vor „One Voice“, und die zweite MADBALL-Single war gerade erschienen, ich erinnere mich noch daran, wie wir die alle in die Cover fummelten.

Demnächst erscheint deine Autobiografie in deutscher Übersetzung. Die englische Version ist ja bereits seit einer ganzen Weile raus, wie war das Feedback darauf? Und wie empfandest du die Arbeit daran, wenn man gezwungen ist, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen?

Das Feedback ist überwältigend und sehr, sehr positiv. Das Buch erscheint bereits in der dritten Auflage, und alleine auf der letzten Europatour habe ich eine 500er-Tourauflage der englischen Version verkauft. Die Arbeit an dem Buch war sehr therapeutisch, um ehrlich zu sein. Ich habe mich geöffnet und über alles geschrieben, was mich beschäftigte. Das Buch geht zurück auf das Jahr 1998, da fing ich an zu schreiben und plante eigentlich, nur über die ersten Jahre bis zum „Cause For Alarm“-Album von 1986 zu schreiben. Heute bin ich froh, auch über die Zeit danach geschrieben zu haben, und ich hatte ja auch Hilfe bei der Nachbearbeitung, das waren drei Durchgänge. Ich verlor bei der Bearbeitung zwar 21 Seiten, aber dafür ist das Buch jetzt intensiver, direkter, es liest sich besser. Ich war selbst erstaunt, was ich alles zurückgehalten hatte und was ich für das Buch dann rauslassen konnte. Ich gab es Freddy zu lesen und er sagte zu mir, es sei echt hart für ihn gewesen, denn da kamen ja auch Sachen hoch, die ihn betrafen und die er verdrängt hatte. Jetzt stehen italienische, französische und deutsche Übersetzungen an und ich ärgere mich, dass ich die nicht lesen kann. Manches lässt sich einfach nicht übersetzen, und ich frage mich, was die jetzt daraus gemacht haben. Ich weiß noch sehr gut, wie ich in einem Interview mal missverstanden wurde: Ich hatte gesagt, heute sei ja kaum noch jemand aus New York – die Menschen dort kommen aus allen Teilen der USA –, und es las sich dann so, als habe ich etwas gegen Einwanderer. Das lag nicht mal an einer falschen oder schlechten Übersetzung, es war einfach nicht die exakte Wortbedeutung erfasst worden.

Was gibt es Neues in Sachen AGNOSTIC FRONT?

Aktuell bin ich unterwegs auf Filmfestivals, auf denen „The Godfathers Of Hardcore“ gezeigt wird, der Film über AGNOSTIC FRONT, über mich und Vinnie Stigma. Der Film kommt sehr gut an, und ich finde, der Teil des Film über mich knüpft sehr gut an mein Buch an. Der Film ist echt gut, sehr berührend, und ganz anders, als du vielleicht denkst. Der Film wird in den USA jetzt gerade auf Festivals gezeigt, und der Regisseur Ian McFarland hat schon versucht, den auch auf Festivals in Europa zu bekommen, aber erstaunlicherweise war da kein Interesse. Den Titel des Films darf man übrigens nicht als Anmaßung missverstehen. Die Bedeutung von „godfather“ ist „Pate“, soll hier aber besagen, dass es um Leute geht, die die Pioniere von Hardcore waren. Ich hoffe einfach mal, dass der Film, wenn das Buch auf Deutsch erscheint, auch in Europa eine Chance bekommt – und an einem neuen Album arbeiten wir natürlich auch schon wieder. Und wir sind ständig auf Tour – wenn das Interview erscheint, bin ich gerade von einer Südostasien-Tour zurück. We love it, we live it!