Und wieder Skandinavien. Und wieder Schweden. Und wieder Örebro. Die Vermutung, dass hoch oben im Norden Europas ein ganzer Haufen von Nestern liegt, in deren Behaglichkeit zwischen langem Winter und Langeweile mit schöner Regelmäßigkeit eine gute Rockband nach der anderen ausgebrütet wird, entpuppt sich mit RIDEAU einmal mehr als Tatsache. Und Gabriel (Gesang), Carl-Magnus (Gitarre), Calle (Bass) und Kristofer (Schlagzeug) lüften bereitwillig das Geheimnis, warum Schweden ein solcher Hort der Bandgründungsfreude ist. Es hat mit Kommunalpolitik zu tun. Zudem lüften sie, ihrem Bandnamen entsprechend, den einen oder anderen Vorhang und geben Einblick in ihre Punkrockerseele.
Ihr kommt aus derselben Stadt wie MILLENCOLIN, NASUM und CARDIGANS. Was ist so besonders an Örebro?
Calle: Alles. Zumindest wenn du mich als überzeugten Lokalpatrioten fragst. Örebro ist die wahre Perle Schwedens, mit einem wunderbaren Schloss, einem Fußballteam, das nie irgendwas gewinnt, aber unglaublich treue Fans hat, und es kommt eben tolle Musik aus Örebro. Tatsächlich hat der Vorort, in dem ich lebe, Kumla, die höchste Dichte an Rockbands im ganzen Land. Und das Label Burning Heart wurde auch hier gegründet.
Schweden ist ja generell bekannt für einfluss- und erfolgreiche Rockbands wie HELLACOPTERS, REFUSED, HIVES oder ROYAL REPUBLIC. Wie kommt das?
Kristofer: Es gibt hier eben sehr, sehr viele Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, ein Instrument zu lernen. Wir haben zahlreiche kommunale Musikschulen im Land und der Unterricht ist bezahlbar. Der so genannte „Studieförbund“ wiederum bietet jungen Bands Proberäume an und vermittelt Auftritte. Das alles ergibt, zusammen mit der Dunkelheit, Kälte und Langeweile im Norden, das ideale Fundament für gute Rockmusik.
Wie habt ihr euch kennen gelernt?
Carl-Magnus: Kristofer und ich tourten zusammen in anderen Bands und wollten irgendwann etwas Neues anfangen. Zunächst gründeten wir dazu die Hardcore-Rockband INSEKT, zu der auch Gabriel stieß. Aber gerade als die Band bekannt geworden war und für uns größere Konzerte anstanden, musste unser Sänger aus gesundheitlichen Gründen aussteigen, er hatte Probleme mit den Stimmbändern. Der Arzt riet ihm, mindestens sechs Monate lang nicht zu singen. Und das war es dann. Also überlegten wir uns, noch mal von vorne anzufangen. Mit der gleichen Besetzung, aber musikalisch anders ausgerichtet.
Der Name dieser neuen Band ist nun RIDEAU. Das ist Französisch und bedeutet Vorhang.
Carl-Magnus: Die Idee kam uns bei einem Konzert, das wir gemeinsam mit KVELERTAK in Stockholm spielten. Wir hatten vorher schon an einen Namen wie IRON CURTAIN gedacht, fanden den aber viel zu offensichtlich punkig. Und an diesem Abend trafen wir dann unsere Freunde von der Band VÄSTERBRON, die uns erzählten, dass sie früher mit dem Gedanken gespielt hatten, sich RIDA – Schwedisch für Vorhang – zu nennen. Das klang für uns verdammt gut. Und als wir das wunderschöne französische Wort „rideau“ irgendwo entdeckten, war die Sache klar. Dieser „Vorhang“ im Namen steht letztlich für alles, was dahinter passiert. Er steht für all das Böse und Hässliche und Interessante, das wir vor anderen Menschen verbergen wollen.
Das Cover von „Rideau“, eurem Debütalbum, ziert ein menschlicher Kopf, in dem die Gedanken offensichtlich ordentlich herumschwirren. Sieht es in euren Köpfen ähnlich wirr aus?
Gabriel: Dieser Kopf steht für all das, was wir sind und was uns ausmacht. Er steht für das Gehirn, die Seele, für Gefühle wie Angst, Sorge, Wut, Freude, Liebe ... Er ist das, was du hinter dem RIDEAU-Vorhang findest. Außerdem steht dieser Kopf für unsere Fans und Zuhörer. Wenn wir auf die Bühne gehen, dann gibt es nämlich nur ein Ziel für uns: Wir wollen jeden Menschen, der anwesend und wegen uns gekommen ist, mit unserer Musik berühren.
Auf „Rideau“ spielt ihr Punk und schnellen, harten Rock. Bis auf den letzten Song, „December“. Der dauert dann plötzlich fast zehn Minuten und es erklingt ein Jazz-Saxophon ...
Gabriel: Punk dreht sich seit jeher darum, auf nichts etwas zu geben und Dinge zu tun, die keiner erwartet. Und dieser Song mit seiner Länge und dem Saxophon ist eben unsere Art, dieses Unerwartete zu tun und eine Grenze zu überschreiten. Aber ganz nebenbei: Auch die STOOGES arbeiteten in den Siebzigern auf „Fun House“ mit einem Saxophon. Vielleicht ist dieses Instrument also das größte Punk-Ding überhaupt.
Zumindest ist Jazz eine Musik, die, vielleicht mehr noch als Punk, für Freiheit und Revolution steht.
Kristofer: Stimmt. Jazz und Punk tragen beide diese Aspekte in sich. Nun ist es so, dass ein Musikgenre umso festgefahrener ist, je länger es existiert. Aber das wollten wir mit „December“ vermeiden. Lieber ein Saxophon als zig weitere Gitarrensoli. Der Song entstand übrigens rein improvisiert im Studio. So wie beim Jazz.
Ansonsten klingt ihr auf dem Album sehr wüst und rauh. Was ist euer Rezept, um diesen Live-Sound im Studio einzufangen?
Gabriel: Man muss wütend sein. Und man muss sich an den anderen in der Band reiben. Das haben Lennon und McCartney schließlich auch so gemacht, haha.
Calle: Man muss seine Energie darauf konzentrieren, Stimmungen einzufangen und in Riffs, Akkorde und Drumparts zu übersetzen. Und dann gibt es keine Kompromisse. Da kann ich verdammt stur sein. Wenn es darum geht, den RIDEAU-Sound zu generieren, machen wir alle keine Gefangenen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #126 Juni/Juli 2016 und Frank Weiffen
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