Vic Bondi war für mich eine der Ikonen der frühen US-Hardcore-Szene: Mit ARTICLES OF FAITH nahm er unglaublich intensive Platten auf, die auch textlich brillant waren (unlängst via Alternative Tentacles wiederveröffentlicht), Anfang der Neunziger ging er es mit ALLOY und JONES VERY dann etwas ruhigere Wege, war aber kein Stück weniger intensiv und nahm auch ein wunderbares Solo-Album auf. Mit REPORT SUSPICIOUS ACTIVITY, einem Gemeinschaftsprojekt von Vic Bondi, J Robbins und Darren Zentek gab es letztes Jahr ein neues Lebenszeichen, was ich zum Anlass nahm, Bondi zu interviewen.
Vic, womit hast du dich musikalisch und beruflich die Jahre über beschäftigt? Ich glaube, das letzte Mal hatten wir Mitte der Neunziger Kontakt und du standest kurz davor, bei Microsoft anzufangen ...
Momentan lebe ich in New York City und leite Computer-Nachhilfeprogramme für Kinder. Bei Microsoft war ich von 1995 bis 2003 als Designer von Lernsoftware beschäftigt.
Was hat dich zurück in die Szene geführt? Was hat in dir den Wunsch geweckt, wieder in einer Band zu spielen?
Ich wüsste nichts davon, dass ich wieder in der Szene wäre. Die meiste Zeit frisst mein Beruf und meine Familie. Ich wollte allerdings wieder Musik machen und zwar, weil Bush ein Schandfleck für die Menschheit ist und bleibt. Ich habe versucht, ihn durch Protestieren und durch Wählen loszuwerden. Es hat nicht geklappt, also versuche ich es jetzt mit Schreien.
Wie kamst du in Kontakt mit Alternative Tentacles? War das in Zusammenhang mit den ARTICLES OF FAITH-Rereleases vor einiger Zeit?
Ich kenne Biafra seit zwanzig Jahren, also fragte ich ihn, ob er die Platte herausbringen will, und er sagte ja.
Deine EP von 2003 war das erste musikalische Lebenszeichen von dir seit acht Jahren. Was hat dich wieder auf den Plan gerufen?
Bush. Er ist ein Krebsgeschwür.
Sind REPORT SUSPICIOUS ACTIVITY eine echte Band oder war das mehr oder weniger ein Studioprojekt? Wie habt ihr zusammengefunden und wie war es, mit J. Robbins und Darren Zentek aufzunehmen?
Es handelt sich um eine Studioband, die zwar gerne eine echte Band wäre, aber an der Realität scheitert. Die Realität ist nämlich, dass wir alle Männer in mittlerem Alter sind, mit Beruf, Familie und Kindern. Das alles braucht enorm viel Zeit. Dazu kommt, dass Darren und J. in Baltimore leben, während ich und Eric Denno, den wir als zweiten Gitarrist dazu genommen haben, in New York wohnen. Deshalb müssen wir für jede Bandprobe 200 Meilen fahren. Trotzdem versuchen wir, uns die Zeit zu nehmen.
Wird es Auftritte, eine Tour und neue Aufnahmen geben?
Ja. Wir haben drei Konzerte an der Ostküste gegeben und eines im Februar in Chicago. Auf unserer MySpace-Seite findest du Fotos davon. Wir würden gerne im Herbst irgendwo außerhalb spielen. Wir würden auch gerne in Europa spielen, aber uns fehlt noch ein Booker. Momentan arbeiten wir an der nächsten Platte und haben auch schon vier Songs.
Dich singen und schreien zu hören, vermittelt mir den Eindruck, du wärst ein sehr wütender Mensch. Wie hast du diese Wut kanalisiert in den Jahren ohne Band?
Ich habe hart gearbeitet, geheiratet und ein Kind gezeugt, das lässt nicht viel Platz für Wut. Vielleicht habe ich sie mir auch nur für Bush aufgehoben.
Das zentrale Thema der Platte ist die Politik der Bush-Regierung. Lass mich dir eine einfache Frage stellen: Was stimmt daran nicht?
Bush und die Leute, die ihn umgeben, sind perfekte Beispiele für einen Typus Mensch, der bereit ist, sich durch korrupte Geschäfte mit weltweiten Auswirkungen das eigene Vorankommen zu sichern. Diese Leute haben sich zu derart vollendeten Huren entwickelt, dass ihnen ihre eigene Prostitution noch nicht einmal mehr als etwas erscheint, für das sie sich schämen müssten. Tatsächlich sind sie so soziopathisch, dass sie auf ihre bemitleidenswerte Abnormität auch noch stolz sind. Sie befinden sich auf einem Rachefeldzug gegen alles Gute auf der Welt und haben sich der Aufgabe verschrieben, alles zu vernichten, was wert wäre, geliebt zu werden. Sie sind Paradebeispiele für amerikanische Heuchelei, Rassismus und Gier. Es sind Monster.
Hast du noch Hoffnung?
Ich sehe mich als Optimisten, und mitzubekommen, wie Berlusconi in Italien aus dem Amt gejagt wurde, gibt mir etwas Hoffnung, dass Verbesserungen möglich sind. Andererseits habe ich wenig Hoffnung, was die USA betrifft. Ich setze da auf euch in Europa, die Welt aus der Scheiße zu ziehen. Alles, was uns in Amerika übrig bleibt, ist jeden Tag dagegen anzukämpfen, dass, genährt von dem Dunghaufen Bush, ein voll ausgebildeter, giftiger Faschismus heranwächst.
Wovon handelt "Revenge"? Ist das autobiografisch oder sind das
Beobachtungen, die du bei Leuten deiner Umgebung gemacht hast?
"Revenge" habe ich geschrieben, als ich arbeitslos war, ich denke, dieses Gefühl wird auch wiedergegeben.
Warum hast du dich für dieses Foto als Albumcover entschieden? Welchen Hintergrund hat es und was symbolisiert es für dich?
Die Fotografie hat den World Press Photo Award 2003 gewonnen. Die Aufnahme stammt von Jean-Marc Bouju von Associated Press. Ich habe sie 2004 in Europa entdeckt. In Amerika habe ich nie dergleichen gesehen. Wahrscheinlich sprach es mich als Vater an. In Amerika verwenden die Medien unermesslich viel Zeit darauf, Araber als unmenschliche Terroristen darzustellen. Dieses Foto gibt zumindest einem von ihnen sein menschliches Gesicht zurück. Ich konnte mich selbst in diesem Bild wieder finden. Wenn Terroristen sich in mich hineinversetzen könnten, wären sie wahrscheinlich keine. Übrigens stellt das bei weitem größte Verbrechen der Bush-Regierung die Internierung von Menschen in Guantanamo Bay dar. Für fünf Jahre eingesperrt zu werden, ohne Anklage und ohne Hoffnung auf Entlassung, ist doch kafkaesk. Und diejenigen, die still und heimlich wieder entlassen wurden, hatten mit Terrorismus überhaupt nichts zu tun. Daher befinden sich dort offensichtlich viele unschuldige Männer und auch die Schuldigen sollten das Recht auf einen Prozess und Verteidigung haben. Guantanomo stellt eine den Magen umdrehende Perversion von Gerechtigkeit dar, gleichauf mit den sowjetischen Gulags.
Mit ALLOY und JONES VERY warst du an Bands beteiligt, die den Weg ebneten für das, was später in den Neunzigern als "Emo" bezeichnet werden würde. Hast du die musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre verfolgt? Was hältst du davon?
Bitte mach mich nicht für dieses Emo-Ding verantwortlich. Es befinden sich keine Emo-Songs auf der REPORT SUSPICIOUS ACTIVITY-Platte und das sollte dir alles über mein Verhältnis zu Emo sagen, was du wissen musst. Mein Musikgeschmack deckt sehr vieles ab, aber ich bin und war nie ein Fan von Solipsismus und Narzissmus.
Mit ARTICLES OF FAITH warst du Teil der ersten Welle von Hardcore-Bands, zu einer Zeit, als Hardcore noch eine Bedeutung hatte und es undenkbar war, dass so etwas wie "religiöser Hardcore" oder Bands, die die Truppen unterstützen, existieren könnten. Was ist falsch gelaufen, wenn sich selbst ein cleverer Kerl wie Henry Rollins dafür bezahlen lässt, für US-Soldaten in Afghanistan zu spielen?
Ich denke, die Existenz von etwas wie christlichen Hardcore-Bands zeigt, dass es möglich ist, die äußere Hülle einer Sache zu imitieren und gleichzeitig ihren Geist zu vergewaltigen. Ich habe immer versucht, Leute darauf hinzuweisen, dass die Hülle unbedeutend ist. Johnny Cash kann so sehr Hardcore sein wie BLACK FLAG. Bei Hardcore und Punk geht es genauso sehr darum, was du sagst, wie darum, wie du es sagst. Fehlt einer dieser Bestandteile, funktioniert es nicht. Ich kann nicht über das urteilen, was Henry Rollins getan hat, und ich bin mir nicht sicher, ob er dafür bezahlt wurde. Ich denke, er wollte das Richtige machen. Es erschreckt mich, wenn ich Berichte höre über Marines, die sich selbst in mordlustige Stimmung versetzen, indem sie sich die RAMONES anhören. Das ist eine vollständige Travestie von allem, was ich am Hardcore einmal geliebt habe.
Was ist aus diesen ganzen unveröffentlichten Solo-Aufnahmen von Anfang/Mitte der Neunziger geworden?
Oh, die habe ich immer noch. Vielleicht kommen sie irgendwann einmal heraus.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #67 August/September 2006 und Joachim Hiller
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