ÅRABROT haben im Laufe der Jahre einen erstaunlichen Wandel hingelegt. Während die Norweger 2011 noch munter zu einer noisigen Mischung aus Punk und Metal geblödelt haben, hat sich der Schwerpunkt nach Frontmann Kjetil Nernes überstandener Kehlkopfkrebserkrankung und dem 2016 erschienenen „The Gospel“ in eine wesentlich ernstere und düsterere Richtung verschoben. Besetzungstechnisch als klassisches Quartett gestartet, arbeitet Nernes inzwischen mit Karin Park (seiner Frau) und wechselnden Gastmusikern. Wohin die Reise auf dem neuen Album geht, erklären Karin und Kjetil.
Ihr lebt nun schon einige Zeit zusammen mit euren beiden Kindern in einer ehemaligen Kirche mitten im Nirgendwo, die ihr teilweise zum Studio umfunktioniert habt und die zu einer Art Pilgerort für befreundete Musiker geworden ist. Was gibt euch die Arbeit auf dem Land?
Kjetil: Es ist einfach ein sehr inspirierendes Umfeld. Mal einfach schnell raus an die frische Luft und im Wald spazieren gehen, das ist schon sehr angenehm.
Karin: Ich finde es auch echt entspannend, nicht ständig von irgendwelchen Werbeschildern belästigt zu werden. Wenn man nicht permanent mit Informationen gefüttert wird, die man eigentlich gar nicht bekommen will, befreit das den Geist. Ständig gesagt zu bekommen, was ich tun, kaufen oder essen soll, stört mich schon enorm. Hier habe ich das Gefühl, selbständiger denken zu können. Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, keine Ahnung. Trotzdem muss man natürlich auch ab und an Zeit in der Stadt verbringen, um nicht in festgefahrene Muster zu verfallen, Abwechslung gehört dazu.
Kjetil: Wir beide brauchen diese Stadt-Land-Dualität. Wir sind keine klassischen Landeier. Wir müssen reisen können. Wir touren viel, treffen viele Leute, haben dann auch unser Stadtleben. Ich selbst bin auch in der Stadt aufgewachsen, ich brauche das zwischendurch schon. Diesbezüglich war das letzte Jahr natürlich sehr speziell.
Karin: Du kannst das ganz gut an unserem Garten erkennen, da ist einfach nichts. Wir sind einfach nicht diese Countrygarden-Menschen, keine Blumen für uns.
Mit „Norwegian Gothic“ seid ihr noch rechtzeitig vor dem ersten Lockdown fertig geworden, für eine Tour hat es dann aber nicht mehr gereicht.
Kjetil: Ja, genau, wir haben es ziemlich auf den Punkt davor fertiggestellt. Teilweise haben wir es mit Gomez, unserem Produzenten, im Vereinigten Königreich aufgenommen, Vocals, Overdubs und den ganzen Gitarrenkram haben wir dann hier vor Ort in der Church gemacht. Darüber bin ich auch sehr froh, wären wir nur minimal später dran gewesen, wäre das Album wahrscheinlich bis heute nicht fertig. Danach ging es dann kopfüber in den Lockdown.
Ich habe gelesen, dass „Norwegian Gothic“ das Schwesteralbum von Karins „Church Of Imagination“ sein soll. Wie ist das zu verstehen?
Karin: Schwesteralbum, das klingt nett.
Kjetil: Das sind die ersten Alben, auf denen wir wirklich zusammengearbeitet haben, manches Material ist sogar auf beiden Alben zu finden. Das war alles einfach so im Fluss, wir haben Karins Album 2018 fertiggestellt und dann ging es nahtlos weiter. Es sind parallele Projekte, die einander in vielerlei Hinsicht spiegeln.
Karin: Ja, das stimmt.
Ich finde die beiden Alben dennoch musikalisch sehr unterschiedlich. Ging es bei dieser Aussage also nur um den Entstehungsprozess?
Kjetil: Richtig, musikalisch sind sie wirklich sehr unterschiedlich. Es hat tatsächlich mit der Entstehung in der Church zu tun und damit, wie wir an das Material herangegangen sind.
Karin: Ja, beide Alben sind hier entstanden, aber ich habe die Songs für „Church Of Imagination“ geschrieben, Kjetil die Songs für „Norwegian Gothic“, jedenfalls überwiegend, deswegen ist das Songwriting natürlich schon ein anderes. Tatsächlich gibt es aber einen Song, der auf beiden Alben enthalten ist, allerdings in zwei völlig unterschiedlichen Versionen. Wir sind beide unseren Vorlieben nachgegangen, haben dabei aber mit den gleichen Leuten zusammengearbeitet.
Kjetil: Sobald du ein Projekt hier in der Church startest, kann man das wirklich hören. Alles hat einen speziellen Churchsound, der Raumklang des Gebäudes schleicht sich in alles ein, was du hier machst. Für mich hat sich das deswegen so angefühlt, als würden hier zwei verschiedene Universen unmittelbar aufeinandertreffen.
Wie würdest du diesen Churchsound umschreiben?
Kjetil: Hier ist vieles aus Holz, das hat einen großen Einfluss auf den Klang. Manche großen Räume sorgen auch für einen enormen Halleffekt, diesbezüglich ist die Church wirklich perfekt. Es ist ein altes Gebäude, das kannst du hören.
Karin: Aber nicht nur das, meiner Meinung nach arbeitest du hier einfach auch mit einem bestimmten Bauchgefühl, die dieses ungewöhnliche Umfeld erzeugt. Das kannst du nicht mit einem herkömmlichen Studio vergleichen. Wir haben hier viel aus der Zeit gelassen, als es noch als Kirche genutzt wurde, alte Bücher, die großen Kronleuchter hängen noch in der Hauptaufnahmehalle, die Instrumente aus der Zeit, Klavier und Orgel, sind noch alle da. Dieser Sound entsteht also nicht nur auf einem physischen, sondern auch einem psychologischen Level, das zieht sich auf allen Ebenen durch.
Karin, du hast viel zu diesem Album beigetragen, Orgel, Synths, Vocals, hast mit „Hallucinational“ einen Song geschrieben und an „The moon is dead“ mitgearbeitet. Ist das eher aus der Situation heraus entstanden oder war das von langer Hand so geplant?
Karin: Diese beiden Songs sind in weiten Teilen während der Session mit ZU [italienische Noise-Band] entstanden, sie lagen dann erst einmal eine Zeit lang herum und wurden erst einige Zeit später wieder ausgegraben und fertig gestellt. „The moon is dead“ ist eine Art Collage aus dieser Session und einem Sample aus einem japanischen Volkslied, das mir von einem Japanaufenthalt in Erinnerung geblieben war, irgendwie hat es sich ein wenig von selbst geschrieben. Es war also teilweise geplant, aus der Session an sich sollten ja schon Songs entstehen, und ja, da habe ich gezielt mitgewirkt, es ist aber bis zu einem gewissen Grad auch spontan entstanden.
Kjetil: Die ZU-Sessions waren 2017, da haben wir also tatsächlich ein paar ältere Dinge aus der Schublade gezogen. Insgesamt würde ich aber schon sagen, dass der überwiegende Teil der Arbeit an dem Album ziemlich strikt durchgeplant war, das lässt die Dinge einfach geschmeidiger laufen. Aber klar, es gibt immer etwas, das quasi nebenbei dann doch irgendwie auf dem Album landet. „The rule of silence“ ist beispielsweise aus den „Who Do You Love“-Sessions 2017/18 hervorgegangen. Ich habe es während der Aufnahmen zu „Norwegian Gothic“ einfach nur überarbeitet und so zu einem komplett anderem Monstrum umgemodelt.
Wenn man „Norwegian Gothic“ mit der Ende 2020 erschienenen EP „The World Must Be Destroyed“ vergleicht, gibt es zwar vor allen Dingen in visueller Hinsicht, also beim Artwork, einen deutlichen Zusammenhang, die EP ist aber viel düsterer als das Album, zeitweise regelrecht verstörend.
Kjetil: Das sehe ich auch so, diese EP besteht aus ein paar Alpträumen aus der Vergangenheit, die wir einfach loswerden mussten, ein Dämon, der sich an meinen Rücken gehängt hatte und erst einmal abgeschüttelt werden musste, damit ich an dem Album weiterarbeiten konnte.
Im Vergleich dazu hat „Norwegian Gothic“ eine eher surrealistische, fast schon psychedelische Kante.
Kjetil: Auf die Lyrics trifft das teilweise schon zu, die Bücher und Filme, die hier eingeflossen sind, fallen schon in diese Kategorie, meiner Meinung nach ist das Album aber weniger surrealistisch ausgefallen als einige der Vorgänger. Teilweise habe ich da wesentlich stärker mit surrealistischen Symbolen gearbeitet.
Karin: Oft ist es auch so, dass der Hörer Dinge erkennt, die du zwar nicht bewusst so eingebaut hast, die aber tatsächlich da sind und sich so deuten lassen. Und das ist gut so. Für Kjetil ist das in diesem Zusammenhang schwerer zu erkennen, weil er so nah dran ist und die Grundideen selbst ausgearbeitet hat. Dadurch, dass ich recht spät in den Prozess eingegriffen habe, fällt es mir ein wenig leichter, den Standpunkt des Hörers einzunehmen.
Kjetil: Vielleicht solltest du mir die gleiche Frage noch einmal in zehn Jahren stellen, dann würde ich sie vermutlich anders beantworten, haha.
Eine apokalyptische Dimension kann man dem Album aber nicht absprechen, oder?
Kjetil: Das sehe ich auch so. „The moon is dead“, „Hailstones for rain“, sowohl musikalisch als auch thematisch.
Karin: Wir führen ein apokalyptisches Leben.
Kjetil: Ich fühle mich jeden Tag apokalyptisch, wenn ich aufwache, haha.
Trotzdem gibt es im Verhältnis zu den unmittelbaren Vorgängern einige deutlich emotionalere, fast schon pathetische Momente.
Kjetil: Es gibt tatsächlich eine verletzlichere Seite, die sich auch in der Musik widerspiegelt. In ein paar Reviews habe ich gelesen, dass wir uns von der Hardcore-Ecke mehr in Richtung Sentimentalität bewegt hätten. Vielleicht kommt das mit dem Alter?
Karin: Meiner Meinung nach spielt hier die Dualität zwischen weiblich und männlich eine große Rolle. ÅRABROT war immer eine sehr maskuline Angelegenheit, jetzt gibt es auch eine feminine Ebene, vielleicht kommt das hier ein Stück weit durch.
Würdest du dem Album eine positive, hoffnungsfrohe Ebene zuschreiben?
Kjetil: Schwierig. Als ich dieses Album abgeschlossen hatte, war ich guter Dinge. Klar, wir sind dann in einer Pandemie gelandet und es war eine harte Zeit, aber musikalisch gesehen war ich optimistisch. Ich sehe musikalisch bezüglich der Dinge, die wir erreichen können, eine sehr positive Entwicklung. Also ist mein persönliches Gefühl schon ein gutes. Ob das Album selbst beim Hören zumindest zeitweise solche Gefühle auslösen kann, muss dann jeder für sich selbst entscheiden.
Das Artwork der EP und des Albums wurde von Martin Kvamme komplett umgekrempelt und aufeinander abgestimmt. Wie kam es dazu?
Kjetil: „Norwegian Gothic“ ist eine Kulmination der Dinge, die wir in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gemacht haben. Damit hat sich alles zusammengefügt. Ich hatte aber auch das Gefühl, dass damit ein neuer Abschnitt beginnt. Darum habe ich mich dafür entschieden, Martin an Bord zu holen und der Sache eine Art neues Gesicht zu verpassen. Wir sind dann mit ein paar speziellen Ideen zu ihm gegangen und er hat es entsprechend umgesetzt.
Du spielst viel mit christlichen und heidnischen Symbolen, Kreuz und Schlange zum Beispiel, aber auch mit visuellen Elementen aus den Bereichen Tod und Verfall. Waren das eure Ideen oder Martins?
Kjetil: Wir haben schon in der Vergangenheit viel mit Symbolen gespielt, dieses Mal waren es aber tatsächlich bis zu einem gewissen Grad auch Martins Ideen. Das Kreuz ist tatsächlich das Kreuz der Church, es ist am und im Gebäude. Und die Church ist ÅRABROT, darum geht es, das wollten wir zeigen.
Habt ihr deswegen auch das Wort „Gothic“ im Albumtitel, um den Zusammenhang zu verdeutlichen?
Kjetil: Auch. Wenn du weiß gekleidet in einer okkulten Rockband spielst, dann wirft das natürlich schon ein paar Fragen auf. Vor ein paar Jahren hatten wir einen Freund aus den USA, der uns im Scherz „Norwegian Gothic“ nannte. Wir haben darüber gelacht, jetzt fand ich das aber irgendwie passend, auch in musikalischer Hinsicht, jetzt nicht im Sinne von Metal-Gothic, eher in Richtung Achtziger-Punk/New Wave, BAUHAUS, BIRTHDAY PARTY oder SIOUXSIE & THE BANSHEES. Außerdem fallen einige meiner Lieblingsschriftsteller in diese Kategorie, Cormac McCarthy oder William Faulkner, beides Südstaaten-Gothic-Autoren. Ich hatte also ein gutes Gefühl bei dem Titel, das Problem war nur, dass ich nicht recherchiert habe, ob das schon mal jemand benutzt hat. Nachdem wir uns festgelegt hatten, habe ich dann feststellen müssen, dass die norwegische Band ULVER schon mal ein Lied mit exakt diesem Titel veröffentlicht hatte und ich dachte nur ui-ui-ui-uiuiui [Gameshow-Verlierersound]. Ich habe dann extra nachgefragt, ob das für sie in Ordnung ist, und das war es zum Glück.
Ihr habt zwei sehr sehenswerte, filmisch zusammengehörende Videos zu den Songs „Kinks of the heart“ und „Hailstones for rain/The moon is dead“ veröffentlicht. Neben der außergewöhnlichen Ästhetik scheint meiner Meinung nach hier erstmals in der Geschichte der Band ein sozialkritischer Ansatz durch. War das eure Intention?
Karin: Das ist schwer zu beantworten. Ja, wir sagen, alle Sonderlinge sind willkommen in der ÅRABROT-Church, und kritisieren die Oberflächlichkeit von Kirche und Religion. Da ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Und wir spielen auch mit der religiösen Dimension von Rock’n’Roll. Eigentlich hast du recht, das ist schon sozialkritisch.
Kjetil: Die ursprüngliche Idee dahinter war aber kein politisches Statement. Es geht bei ÅRABROT eigentlich in erster Linie um Musik, Artwork und Literatur. Die politische Seite versuche ich zu meiden, wenn möglich.
Karin: Das Ergebnis ist aber immer ein vielschichtiges, wir wollen provozieren, Fragen aufwerfen und erreichen, dass die Menschen da draußen darüber nachdenken. Wenn du schon eine eindeutige Antwort präsentierst, funktioniert das nicht.
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