Das bürgerliche Klavier und der wilde Punk, das sind gefühlt eher Gegensätze, auch wenn es aus der Rock’n’Roll-Geschichte durchaus Gegenbeispiele gibt. Piano, Klavier, Flügel, das impliziert Frack und Hochkultur, und damit holt das auch für Punk-Tourzwecke eher unhandliche Instrument unsereins nicht unmittelbar ab. Uli Sailor, den man seit über zwanzig Jahren von Bands wie D-SAILORS, TUSQ und TERRORGRUPPE kennt, bricht diese Klischees auf und spielt Punksongs auf dem Piano. Ich ließ mir erklären, wie es dazu kam.
Uli, wir kennen uns gefühlt ewig ... mindestens seit du Ox-Praktikant warst. Wann war das ...?
Das war im Frühjahr/Sommer 1998. Ich bin nach meinem Zivildienst 1997 zum Studieren von Jülich nach Köln gezogen. Das müssten meine ersten Semesterferien gewesen sein, die ich bei euch in Essen verbracht habe. Ziemlich genau 25 Jahre her, wow, das ist wirklich schon ewig!
Dein musikalischer Background waren damals die DRUNKEN SAILORS oder D-SAILORS, irgendwie „Fat Wreck“-Punk ... Waren das deine ersten musikalischen Gehversuche, die ja – später – doch schon professionell waren?
Es ging mit D-SAILORS richtig los, als wir im Sommer 1998 unser Debütalbum auf Vitaminepillen Records veröffentlicht haben. Wir hatten uns 1992 als Schülerband gegründet, damals unter dem Namen DRUNKEN SAILORS, und sind bis zur Auflösung 2010 doch ganz schön rumgekommen. Wir haben insgesamt vier Alben veröffentlicht, knapp 400 Konzerte gespielt, darunter drei Tourneen in Brasilien. Meine ersten Gehversuche liegen aber noch länger zurück. Vor den Sailors hatte ich noch eine andere Band, in der ich Keyboarder war. Wir haben immerhin ein Konzert auf einer Privatparty gespielt, uns danach mit dem Sänger gestritten und dann aufgelöst, haha. Da war ich 14.
Und wie kamst du zur Musik? Ganz klassisch bildungsbürgerlich mit Klavierunterricht ... und dann?
Ja, genau so war’s. Klavierunterricht mit sechs, Saxophonunterricht mit zwölf. Ich habe dann unter anderem im Schulorchester und der Big Band der Musikschule Jülich gespielt. An der Musikschule gab’s einen sehr engagierten Gitarrenlehrer, der Bandworkshops angeboten und mich als Sänger reingeholt hat. Dort habe ich vor D-SAILORS meine erste Rockband-Erfahrung sammeln dürfen. Zu Hause habe ich auch schon früh eigene Songs am Klavier geschrieben. Dadurch, dass ich das als Kind gelernt hatte, ist das so in Fleisch und Blut übergegangen. Ich kann mich einfach ransetzen und losspielen.
Nach D-SAILORS kamen TUSQ ... Musikalisch eine ganz andere Nummer, oder?
Das war 2010, TUSQ habe ich zusammen mit Timo von SCHROTTGRENZE gegründet. Wir haben uns bewusst musikalisch vom Punkrock zum Indie orientiert, um uns mal auszuprobieren. Das hat meinen Horizont extrem erweitert, vor allem die Zusammenarbeit mit unserem Produzenten Jürgen Hendlmeier, mit dem wir zwei Alben in Finnland aufgenommen haben. Ich erinnere mich noch, dass ich damals eigentlich gerne deutsche Texte geschrieben hätte, Timo überzeugte mich aber, bei Englisch zu bleiben, damit wir auch international spielen können. War am Ende auch die richtige Entscheidung, wir haben drei Alben aufgenommen, über 150 Konzerte gespielt, unter anderem in Lappland, Argentinien, Brasilien, Russland und England. Es gab viele geile Festival-Konzerte und richtig coole Support-Tourneen, unter anderem mit TEENAGE FANCLUB, KASHMIR, HOLD STEADY oder NEW MODEL ARMY. Der nachhaltige Erfolg ist leider ausgeblieben, aber es war eine geile Zeit, die ich nicht missen möchte.
Und irgendwann kam diese andere Band mit T: TERRORGRUPPE. Da warst du Eros Razorblade ... Deine Erinnerungen?
Das war ein ziemlicher Hammer, als MC Motherfucker mich 2013 anrief, um zu fragen, ob ich nicht zur Wiedervereinigung in die TERRORGRUPPE einsteigen will. Sie wollten zur Reunion ihren Sound erweitern und haben sich eine:n fünfte:n Musiker:in an der Orgel gewünscht. Das konnte ich anbieten, außerdem noch Saxophon zu den Ska-Punk Songs beisteuern und tighte Background-Vocals singen. Als ich mir dann noch ein Theremin und eine Rassel zugelegt habe, war ich offiziell „Multi-Instrumentalist“. Mit meinem von Johnny Bottrop vergebenen Punkernamen war ich zu Beginn etwas unglücklich, aber das hat ja Tradition. Bis auf Zip Schlitzer mussten sich, glaube ich, alle an ihren Namen gewöhnen. Es war für mich eine große Ehre, denn ich war Fan, hatte Ende der Neunziger und Anfang der Zweitausender mit D-SAILORS, aber auch als Saxophonist bei WOHLSTANDSKINDER, viele Konzerte der TERRORGRUPPE supportet. Das war echt ein krasses Gefühl, jetzt auf einmal Bandmitglied zu sein. Allein mit diesen Typen im Proberaum zu stehen und all diese Riesen-Hits zu spielen war so cool, ich musste mich da regelmäßig kneifen, dass das jetzt wirklich wahr ist, haha. Insgesamt habe ich mit TERRORGRUPPE knapp 200 Konzerte gespielt, zwei Alben und ein Doppel-Live-Album aufgenommen. Mehr Rock’n’Roll werde ich in meinem Leben wohl nicht mehr erleben!
Und wann kam das „Punkrock Piano“ ins Spiel? Und wie? Und warum?
2019, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, standen alle meine Bands vor der Auflösung. Bei TUSQ war das Problem, dass wir in drei verschiedenen Städten wohnten. Allein der organisatorische Aufwand, um sich zum Proben zu treffen, war enorm, wir haben viel Geld für Zugtickets und Mietproberäume ausgeben. Irgendwie gab’s dann leider nicht die große Nachfrage nach Konzerten oder Platten von uns, die Zeit wurde knapper, durch Familiengründung und „richtige“ Jobs, so dass wir die Band dann auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt haben. TERRORGRUPPE hatten gerade mit „Jenseits von Gut und Böse“ ihr Abschiedsalbum aufgenommen und eine Tour für November 2020 gebucht. Wir haben für die Auflösung wegen Corona dann noch zwei Jahre gebraucht, aber mir war schon 2019 klar, dass ich unbedingt weiter Musik machen will. Gleichzeitig war ich total müde von dieser ganzen Bandorganisation. Ich habe mich gefragt, wie ich ganz alleine Konzerte spielen kann, und hatte die Schnapsidee, ich mache einfach ein Piano-Solo-Album. Einer der Klickmomente war, als ich gecheckt habe, dass ich als Sänger ja gar keine Band brauche, denn ich kann mich am Klavier einfach selber begleiten. Allerdings stellte sich mir dann sofort die Frage, wie das eigentlich klingen soll, wenn ich solo-mäßig an den Start gehe.
Was ist dein Konzept? So was wie der Pianist in der Lobby eines Punkrock-Hotels zu sein?
Die Idee mit den beiden Cover-EPs hatte einen relativ pragmatischen Hintergrund. Wenn ich ganz alleine ein richtiges Konzert spielen will, brauche ich eine gute Setlist und mit zehn guten Covern hab ich schon mal eine gute Basis. Generell tue ich mich mit Covern schwer, denn mein Ziel ist es nicht, der Mambo Kurt des Punkrock-Pianos zu werden. Gleichzeitig war mir klar, dass ich nicht innerhalb kurzer Zeit genug eigene Songs für ein Konzert an den Start bringen werde. Ich wollte Coversongs auswählen, mit denen ich persönlich viel verbinde, und da lag es dann nah, mich an den Punkrock-Songs meiner Jugend zu versuchen. Ich habe erst mal recherchiert, was es schon so an Punk-Pianisten gibt. Man findet recht viel im Internet, aber die meisten spielen am Klavier Balladen und singen auch meistens nicht dazu. Das fand ich ziemlich langweilig, ich wollte meine Versionen unbedingt im selben Tempo und mit der gleichen Energie wie die Originale spielen. Und dazu singen natürlich. Zudem hatte ich auch von Anfang an den Plan, ein Album mit eigenen Songs zu schreiben. Das tue ich gerade und nehme schon bald ein paar davon auf. Der positive Effekt der Covertracks war, dass ich damit meinen eigenen Sound gefunden habe. Meine Songs werden vom Arrangement und von der Energie her den Covern sehr ähnlich sein. Ich schreibe gerade tatsächlich ein Melodic-Hardcore/Pop-Punk Album am Klavier. Das würde niemals so klingen, wenn ich nicht auf die Idee mit den Cover-EPs gekommen wäre. Dass das Ganze jetzt auch auf Vinyl erscheint, macht mich echt ganz schön stolz!
Mal ganz offen: Das Piano ist nicht gerade ein typisches Punk-Instrument ... Klaviermusik klingt schnell nach Richard Clayderman.
Ich finde, das ist alles nur eine Sache der Attitüde. Du kannst das Klavier genau so hart und schnell spielen wie ein Punk-Instrument. In den Fünfzigern und Sechzigern gab’s viele wilde Rock’n’Roll Pianisten. Die verzerrte Gitarre hat denen einfach irgendwann den Rang abgelaufen und dann sind die in Vergessenheit geraten. Ich kenne mich in diesen Jahrzehnten musikalisch nicht gut aus, aber zum Beispiel Little Richard war eine ganz schöne Kanone am Klavier.
Wie wählst du die Songs aus, die du spielst? Welche taugen fürs Piano, welche nicht?
Ich hab’s mir nicht einfach gemacht bei der Songauswahl, ich wollte mir nicht so „Punk Chartbusters“-mäßig die besten Punk-Nummern der Achtziger und Neunziger vornehmen. Alle Songs mussten ganz eng mit mir und meiner Geschichte verbunden sein. Die Titel auf der ersten EP sind alle jeweils der erste Song des Albums, mit dem ich die Band das erste Mal gehört habe. Das hatte auch den Hintergrund, das damals der erste Song eines Albums immer ein wichtiger Gradmesser war, ob man die Band cool findet und das Album weiterhört, oder nicht. Bei den deutschen Sachen habe ich ebenfalls nur Bands ausgesucht, denen ich persönlich sehr nahe stehe. Generell eignen sich natürlich die Stücke am besten, die eine simple Songstruktur haben. Ellenlange Instrumentalparts oder Gitarrensoli lassen sich eher schlecht umsetzen.
Und gibt es da Noten oder musst du das selbst „umfummeln“?
Nee, Noten gibt es nicht. ich gehe da eher so lagerfeuermäßig ran. Akkorde raushören und dann einfach mal ausprobieren. Ich spüre das relativ schnell, ob sich der Song für eine Pianoversion eignet oder nicht. Ein weiterer mir wichtiger Punkt war, dass die Tonart zu meiner Stimmlage passen muss. Ich habe fast alle Songs runtertransponiert, damit ich sie besser singen kann.
Darf ich fragen, was du eigentlich „in echt“ machst? Früher warst du mal „beim Fernsehen“, wenn ich mich recht erinnere.
Ich bin freiberuflicher Video-Producer, drehe und schneide Videos für größere und kleinere Kunden, zumeist mit Schwerpunkt Social Media. Bei meinen Bands kümmere ich mich auch zumeist um die Musikvideos, Teaser und Trailer fürs Internet. In den Nullern habe ich ein paar Jahre als Redakteur bei MTVIVA und Brainpool gearbeitet. Aus dieser Zeit gibt’s noch einige Connections und deshalb arbeite ich auch heute noch hier und da fürs Fernsehen. Da mich die meisten TV-Inhalte eher abturnen, bin ich da aber eher picky. Diese freiberufliche Tätigkeit lässt sich allerdings gut mit dem Musikmachen verbinden. Ich kann praktisch von überall arbeiten, schneide zum Beispiel oft auf Tour tagsüber im Bus noch Videos am Laptop. Mein Traum wäre allerdings, mit der Musik etwas mehr Geld zu verdienen, um ein bisschen unabhängiger zu werden. Aber erzwingen kann man das nicht, das lässt einen nur verkrampfen, wenn man damit Geld verdienen muss. Von daher versuche ich mitzunehmen, was geht, und freue mich über alles, was kommt. Ich muss aber schon sagen, dass die Resonanz auf das „Punkrock Piano“ sehr positiv ist, habe ich selten bei einem meiner eigenen musikalischen Projekte so erlebt.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #168 Juni/Juli 2023 und Joachim Hiller