Hand hoch, wer hatte seinen ersten Proberaum, seine erste Jugenddisco oder sein erstes Dorfkonzert in einem Gemeindehaus oder kirchlichen Jugendzentrum? Eben! In den bisherigen Beiträgen der Reihe zu Punk und Religion standen einzelne Menschen im Fokus, die einen religiösen Hintergrund haben und gleichzeitig in der Punk/Hardcore-Szene aktiv sind. In diesem Teil beleuchten wir die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen kirchlichen und Szenestrukturen, lassen mit Backs von Positive Records einen Konzertveranstalter zu Wort kommen und zeigen exemplarisch anhand einiger ,,Klassiker“, welche Rolle diese kirchlichen Einrichtungen in der Infrastruktur der Szene spiel(t)en. Die Ursachen für diese sehr ungleiche Kooperation liegen in der kirchlichen Jugendarbeit, dem gemeinsamen politischen Widerstand und manchmal schlicht im Zufall.
Von der christlichen staatskirchlichen Jugendarbeit über die städtische Jugendsozialarbeit zu selbstverwalteten Jugendzentren. Eine (sehr) kurze Historie.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden christliche, auf der Ideengrundlage von Adolph Kolping (die Kolpinghäuser kennt man vielleicht als kostengünstige Ziele für Naherholungsurlaube einkommensschwächerer Familien) beruhende Gesellenvereine als erste Form der Jugendarbeit, die nicht mehr nur das Ziel militärischer Rekrutierung und religiöser Bildung verfolgten. Vor allem in den Städten setzte sich die Erkenntnis einer sinnvollen und abwechslungsreichen Freizeitgestaltung für Kinder und das soziologisch gerade neu entdeckte Jugendalter durch. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden erstmals auch Vereine für Mädchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann viele Jungen- und Mädchenvereine zu koedukativen Verbänden zusammengefasst.
Zur gleichen Zeit finden sich auch erste Ansätze staatlicher Jugendsozialarbeit. Galt es doch, mit Millionen junger Menschen, die zum großen Teil ohne abgeschlossene Ausbildung waren, darunter viele Waisen und Geflüchtete, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Zusammen mit dem Aufbau der öffentlichen Verwaltung entstanden so genannte Selbsthilfewerke der Jugend, Jugendnotdienste und Jugendwohnheime, die vor allem der beruflichen Perspektivlosigkeit der Jugendlichen etwas entgegensetzen sollten. In den Fünfziger Jahren etablierte sich schließlich der Begriff der ,,Jugendsozialarbeit“ mit der Zielsetzung, auf die veränderten Lebenslagen und jeweiligen Bedarfe benachteiligter Jugendlicher zu reagieren.
Die ältesten selbstverwalteten Jugendzentren in Deutschland sind das Jugendzentrum Backnang, das Jugendzentrum Neumünster sowie der Jugendclub Wadrill. Alle wurden1971 gegründet. Selbstverwaltet meint, dass in dem Jugendhaus keine Sozialpädagogen die Entscheidungsgewalt haben, sondern der Thekendienst, der Vorstand oder eine Vollversammlung der Jugendlichen über die Verwendung der Finanzen basisdemokratisch entscheidet. Die Frage der Selbstverwaltung wurde in den Siebzigern oft ein Streitpunkt zwischen den eher auf Kooperation mit der kommunalen Verwaltung bauenden Gruppen wie den Jusos und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) auf der einen Seite und den auf Konfrontation setzenden anarchistischen oder spontaneistischen Gruppen andererseits.
Letztere setzten auch vermehrt auf das Mittel der Hausbesetzung. Prominente Beispiele hierfür sind in Bremen das Haus auf den Häfen, in West-Berlin das Tommy-Weisbecker-Haus und das Georg-von-Rauch-Haus (remember den Song „Rauch-Haus-Song“ von TON STEINE SCHERBEN), die Putte im Wedding, das Arbeiterjugendzentrum Bielefeld und das Erich-Dobhardt-Haus in Dortmund. Selbstverwaltung bedeute die Möglichkeit einer Freizeit ohne Kontrollen, wie der Soziologe David Templin es in seiner Untersuchung über die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre ausdrückt. Alltagskultur und Politik werden liberaler, Ausbildungen und Schulbesuche länger. Jugendliche haben Freizeit, die gefüllt werden kann mit dem Wusch nach Freiräumen ohne elterliche und staatliche Kontrolle. Netzwerke entstehen, von denen noch die heutige Punkrock-Infrastruktur profitiert. Die DONOTS etwa, die sich immer auch als politisch links und antifaschistisch verstanden, haben als Band im Jugendzentrum angefangen. Auch in ländlichen Regionen abseits der großen Städte sind selbstverwaltete Jugendzentren Nährboden für eine politische Jugendkultur. Das AJZ Bahndamm in Wermelskirchen (siehe Ox #121 und #154) ist dafür ein immer noch aktives Beispiel.
Exkurs: Geistliche Unterstützung der DDR-Punks
Die Geschichte des DDR-Punk mit seinen Verwebungen mit kirchlichen Einrichtungen ist mittlerweile gut dokumentiert. Kurz: in der DDR diente die Kirche als Entfaltungsraum für subkulturelle Bewegungen, auch wenn das Verhältnis der Punks zur Kirche und umgekehrt nicht immer reibungslos war. Alkohol, Lautstärke und Aussehen (trotz Verzichts auf die sozialistische Kleiderordnung der DDR-Jugendclubs) der Jugendlichen waren für das kirchliche Personal eine Herausforderung. Was die beiden Welten verband, war ihr Status als kulturelle und politische Bedrohung des totalitären Systems. Die DDR-Punks galten für SED und Stasi aufgrund ihrer bloßen Identifizierung mit der Szene als konkrete Bedrohung. Sie hatten mehr zu verlieren als die Punks im Westen. Ein Stasi-Befehl von 1983 etwa empfiehlt seinen Mitarbeiter:innen im Umgang mit Punks: ,,Sachlich angehen, bei festgestellter Renitenz Samthandschuhe ausziehen, wir haben keinen Anlass, mit diesen Figuren zart umzugehen.“
Schon in den frühen Achtziger Jahren unterstützen die Kirche und ihre Mitarbeiter:innen in der DDR Punks im Rahmen der Offenen (Jugend-)Arbeit. In so genannten Samisdatzeitschriften finden sich Berichte über Punk-Konzerte und Feste. Samisdatdrucke sind Druckerzeugnisse ohne Verlagsbeteiligung, vergleichbar mit Selbstverlagen. Ab 1959 durften die Kirchen in der DDR diese ohne staatliche Genehmigung für den innerkirchlichen Dienstgebrauch herstellen, was auch zur Unterstützung und Dokumentation oppositioneller Aktionen genutzt wurde, als kirchliche Fanzines quasi. Erste Konzerte und ein kleines Festival fanden 1982 und 1983 in der Lutherkirche und Christuskirche in Halle/Saale statt, die unter anderem als ,,Evangelischer Jugendabend“ angekündigt wurden und bis zu 250 Zuschauer:innen anzogen. Mehrere Konzerte fanden auch in der Friedrichshainer Pfingstkirche in Berlin statt. Mit wachsender Reichweite trauten sich die Ost-Punks langsam weiter in die Öffentlichkeit. Von 1986 (und nach der Wende 1989/90) bis 1993 spielte die Radiosendung „Parocktikum“ des (einstigen) DDR-Jugendsenders DT64 auch Musik regionaler Bands. Im thüringischen Rudolstadt fand die mehrtägige kirchliche Veranstaltung Jugend 86 statt. Die Stasi dokumentiert 1986 insgesamt 16 kirchliche Einrichtungen, in denen (aus Sicht des Regimes) illegale Punk-Shows stattfanden.
Freikirchliche Strukturen: Jesus Freaks
Die von Martin Dreyer 1991 als eine Art christliche Punk-Bewegung gegründeten Jesus Freaks werden vielen ein Begriff sein, da sie deutschlandweit eigene Konzertläden betrieben und betreiben, und in kleineren und mittleren Städten teilweise die einzige Chance für Jugendliche ohne Auto und gutem ÖPNV waren, Punk- und Hardcore-Shows (auch nicht-christlicher Bands) zu sehen. Dreyer ist der klassische Vom-Saulus-zum-Paulus-Charakter. Vom Junkie zum Christ und das Ganze noch einmal. Ein weiteres seiner in den Augen durchschnittlicher Ox Leser:innen vermutlich seltsam anmutenden Projekte ist die Herausgabe der so genannten „Volxbibel“ – einer Bibel in Jugendsprache. Und ja, das Endergebnis ist tatsächlich so gruselig, wie es sich anhört. Heute noch besonders aktiv ist die Gruppe in Remscheid, die mit ihrem eigenen Jugendzentrum Kultschock einen der wenigen Läden im Bergischen Land betreibt, wo man neben lokalen auch internationale Punk-, Hardcore- und Psychobilly-Bands sehen kann. Und trotz aller weltanschaulichen Differenzen und einer gesunden Skepsis gegenüber Menschen, die Religion zu ihrem Hauptlebensinhalt machen, muss ich einräumen, dass ich als neutraler Besucher dort niemals missionarisch belästigt wurde, die Leute freundlich und die Preise okay sind. Ich ziehe es daher jedem Besuch in einem reinen Kommerzladen vor.
Eine größere Bedeutung für die deutsche Punk- und Hardcore-Historie hatte das Hamburger Marquee, das Anfang/Mitte der Neunziger Jahre etwa zwei Jahre lang von den Jesus Freaks betrieben und vor dem Verschwinden bewahrt wurde. Planungen, das Marquee wahlweise in einen Puff oder ein griechisches Restaurant umzubauen, lagen schon auf dem Tisch. Stattdessen traten Szenegrößen wie YUPPICIDE und EARTH CRISIS dort auf. Auch in der Hamburger Roten Flora fanden Anfang der 2000er Jahre Shows unter Beteiligung von Veranstalter:innen und Bands aus dem Jesus Freaks-Umfeld statt, was Flora-intern zu Reibereien führte. Im Schanzenviertel gab es außerdem eine Konzertreihe/-gruppe mit dem Namen Straight Sound Foundation aus dem Umfeld der Freaks, die ebenfalls eine Reihe nicht-christlicher Bands veranstaltete. (Danke an dieser Stelle an Marcus von PRAISER für Infos zu Aktivitäten der Hamburger Jesus Freaks zu dieser Zeit.)
Positive Records
Wer veranstaltet Konzerte für Bands mit größtenteils religionskritischen Inhalten für ein zu großen Teilen nicht-religiöses Publikum in religiösen Einrichtungen? Und warum? Und wie reagieren die Hausherr:innen darauf? Zwei konfessionell gebundene Läden, die ich häufiger mal als Zuschauer aufgesucht habe, sind das Café Nova in Essen und das HoT (Haus der offenen Tür) Rottmannshof in Dorsten. Backs, Inhaber der Konzertveranstaltungsagentur Positive Records aus Dorsten, hat in beiden Läden über eine längere Zeit Hardcore-Konzerte veranstaltet und erzählt, wie und warum man als Atheist Booker in einem evangelischen Jugendzentrum wird.
Backs, wie hat das bei dir angefangen mit Konzerten? War es bei dir auch so, dass kirchliche Einrichtungen einen ersten Zugang darstellten, bevor du wusstest, wie und wo Punkrock eigentlich funktioniert?
Das ist ja über dreißig Jahre her, da kann ich mich nicht im Detail erinnern. In Essen war damals viel in der Zeche Carl los und im Dortmunder FZW habe ich mal YOUTH OF TODAY gesehen. Mein erstes großes Konzert war mit IRON MAIDEN. Punk und Hardcore fingen auch erst mit ungefähr 17 Jahren bei mir an, vorher habe ich so ein bisschen AC/DC und FOREIGNER und solche klassischen NWoBHM-Sachen gehört, aber nur relativ kurz. Dann fing es an mit Death Metal. Die erste politische Band für mich waren NAPALM DEATH. Deren erste Platte „Scum“ kam 1987 heraus und darüber bin ich zum politischen Grindcore und Crustcore gekommen. DOOM waren auch wichtig.
Deren Inhalte hatten ja eher keine Schnittmenge mit Religion.
Nein, ganz im Gegenteil. Mit 17 Jahren bin ich auch aus der Kirche ausgetreten, da müsste ich auch schon gefirmt gewesen sein. Ich war auch Messdiener. Unser Pfarrer war ziemlich cool und locker, die Freizeiten mit ihm haben Spaß gemacht. Selbst nach heutigen Maßstäben war der seiner Zeit mindestens zwanzig Jahre voraus.
Hatten die kirchlichen Amtsträger eher ein Sozialarbeiter-Selbstverständnis? In den Achtzigern wurde ja auch die staatliche Jugendsozialarbeit wichtiger.
Die Leitung im HoT Rottmannshof, dem evangelischen Jugendzentrum, in dem ich viel veranstaltet habe, hatte auch ein Sozialarbeiter. Ich habe meinen Zivildienst auch im HoT Rottmannshof gemacht, aber erst mit 24 Jahren. Vorher war ich beim THW, bin da aber rausgeflogen. Den Sozialarbeiter hat auch null interessiert, ob ich in der Kirche bin oder nicht.
Und das HoT Rottmannshof war auch deine erste eigene Erfahrung mit Booking?
Ja. Das erste Konzert war mit einer unbekannten Thrash-Metal-Band aus Dorsten, die ich auch gemanaget habe. Die hatten zwei Tapes gemacht und hatten ein Angebot von einem Label. Das kam mir aber seltsam vor und roch nach Abzocke. Deshalb habe ich denen geholfen. Darum heißt mein Laden auch Positive Records, weil ich ohne Beschiss arbeiten möchte. Über Adressen im Rock Hard und Metal Hammer habe ich Tapes bis nach Australien verschickt. Von Ende der Achtziger bis Mitte der Neunziger gingen solche Metal-Sachen ziemlich gut. Seit dieser Zeit bin ich auch straight edge. Nicht aus ideologischen Gründen, ich wollte das einfach mal ausprobieren. Anfangs war der Plan, mal ein paar Monate nicht zu saufen. Das fand ich gut und bin dann dabei geblieben. Daraus entstand die Idee, mal im HoT Rottmannshof ein Straight-Edge-Festival zu machen. Ich hatte mit der Leitung abgeklärt, an dem Tag keinen Alkohol zu verkaufen wie sonst, und es herrschte ein komplettes Rauchverbot im Laden. Den damaligen Sänger von SPAWN, der jetzt bei EYES OF TOMORROW spielt, habe ich auf einem Konzert mal angesprochen. Der hat noch CONGRESS aus Belgien und FEEDING THE FIRE besorgt. Da spielte der Sänger von BORN FROM PAIN mit. Ich hatte überhaupt keine Erwartung an die Sache. Mit den Bands war ausgemacht, dass sie eine ganz kleine Gage bekommen. Bei 35 Besuchern wäre ich bei plus/minus null gelandet. Dann waren 200 Leute da. Von überall her, sogar amerikanische GI-Kinder aus Frankfurt waren gekommen. Daraufhin habe ich mit Hardcore- und Straight-Edge-Shows weitergemacht. Und meine Konzerte waren besser besucht als die regulären Rock Veranstaltungen im HoT Rottmannshof. Die JUZ-Leute holten technisch versierte Bands, die ihnen gefielen, aber das heißt ja nicht, dass dann viele Leute kommen. Das führte dazu, dass ich später im Auftrag des Jugendzentrums das gesamte Booking gemacht habe, also elf Konzerte pro Jahr. Daraus ergaben sich mehr und mehr Kontakte, so dass zum Beispiel BOYSETSFIRE auf der ersten Tour da spielten. Und DOOM habe ich auch mal gemacht. Außerdem FOUR WALLS FALLING bei einem kleinen Festival zusammen mit SURFACE aus Essen. Und da gab es lustigerweise auch mal eine Diskussion über Religion. Bei SURFACE waren Krishnas dabei. Und da haben sich Leute aufgeregt und moniert, dass ich Hare-Krishna-Bands spielen lasse. Da dachte ich mir so, ist okay, wenn die das stört. Aber da stehen die Leute ausgerechnet in einem evangelischen Jugendzentrum und beschweren sich über religiöse Inhalte. Dann muss man auch so konsequent sein und da nicht auf eine Show gehen. Entweder komplett religionsfrei bleiben oder auch die Krishnas in Kauf nehmen.
Wie haben die anderen Bands reagiert?
Die Szene hier im Umkreis war sehr klein, da ging es eher darum, zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Jeder kannte sich. Nein, das war kein Streitpunkt.
Gab es auch Einwände von Seiten des Jugendzentrums?
Nein, gar nicht. Die wussten ja sogar, dass ich Atheist bin. Das hat die gar nicht interessiert.
Auf deinem Merch steht auch fett „Fuck Religion“ drauf.
Haha, das gab es in dieser Form damals noch nicht. Ich habe aber heute immer noch einen Schlüssel vom Jugendzentrum, obwohl die Leitung mittlerweile gewechselt hat. Es ist ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Wenn die mal irgendwas transportieren müssen, helfe ich. Das läuft immer noch unter evangelischer Jugendarbeit und die Jugend unterstütze ich immer noch gerne. Der Standort Dorsten ist nach wie vor ein Problemviertel. Was mir generell auf den Sack geht bei den konfessionellen Jugendzentren, ist, dass sie im Prinzip von Steuergeldern finanziert werden und nicht von Kirchensteuern. Bei konfessionellen Schulen und Kindergärten ist es das Gleiche. Und die angestellten Sozialarbeiter:innen müssen aber Mitglied in der Kirche sein. Warum werden von dem Geld nicht einfach städtische Einrichtungen bezahlt?
Da ist im Arbeitsrecht momentan einiges im Gang.
Ja, zum Beispiel, dass Menschen in reinen Verwaltungstätigkeiten ohne geistlichen Bezug nicht mehr wegen einer Scheidung gekündigt werden können.
Liegt das daran, dass die Trennung von Staat und Kirche bei den Leuten heute mehr ins Bewusstsein rückt?
Ja, wir haben schließlich diese Trennung und zahlen jährlich Millionen an Steuergeldern als Ausgleich für Enteignungen aus dem Mittelalter. Ich wollte mal ein Haus kaufen, das auf einem Grundstück der Kirche steht, als Pachtgrundstück, Erbpacht. Nicht nur dieses Haus, fast der komplette Stadtteil. Wir liegen in Dorsten auf der Grenze zwischen dem Ruhrgebiet und dem Münsterland. Und das Münsterland ist politisch komplett schwarz. Ich war mal Direktkandidat für den Bundestag und den Landtag für die Partei Die Linke. Das konntest du vergessen. Die Leute hier sind so was von schwarz, da bekommst du keine Stimmen. Meine Mutter ist Jahrgang 1928 und die hat erzählt, dass der Pfarrer damals bei den Predigten der Gemeinde immer gesagt hat, dass sie ja wisse, wo man bei der Wahl das Kreuzchen macht. So war das im Münsterland. Als ob die Parteien mit dem C im Namen schon mal etwas Christliches getan hätten. Dann müssten sie ja sozialer sein als die SPD.
Außer im HoT Rottmannshof hast du auch im Café Nova in Essen Konzerte veranstaltet. Das ist ebenfalls ein evangelischer Laden.
Da waren schon vorher Konzerte. Und ich war auf der Suche nach anderen Locations, da habe ich einfach bei denen angefragt. Bis auf einen Sozialarbeiter arbeiten im Nova alle ehrenamtlich. Und da ist ein Tonstudio angegliedert, mit dem KREATOR auch zu tun haben. Und der Besitzer hat auch ein bisschen das Booking vom Cafe übernommen.
Mir war das als Besucher auch gar nicht klar, dass das ein christlicher Laden ist. Da hingen auch keine christlichen Symbole.Oder sind die bei Konzerten entfernt worden?
Nein, da waren keine. Auch im HoT Rottmannshof nicht. Die haben ja auch den Anspruch, alle Jugendlichen anzusprechen. Noch nicht einmal im Büro hing da ein Kreuz. Deshalb war das Nova auch so angenehm als Laden. Heute schreiben einige Agenturen dir vor, in welchen Läden du was machen sollst. Sonst würde ich zum Beispiel nie freiwillig ins Palladium oder ins E-Werk gehen. Im Palladium nehmen die Geld fürs WLAN. 2019 habe ich AS I LAY DIYNG da gemacht und eine Woche später COCK SPARRER in der Turbinenhalle. In der Turbinenhalle ist das total easy. Da fragten COCK SPARRER, die super nette Typen sind, ob sie noch eine Flasche Whiskey haben können. Hatte ich nicht, weil es nicht auf dem Rider stand. Dann fragte ich den Chef von der Turbinenhalle und dann kriegte ich die umsonst. Dann komme ich nach Hause und sehe die Endabrechnung vom Palladium. Stehen da echt 45 Euro für WLAN drin. Die lassen sich alles bezahlen. Ein Tisch fürs Meet & Greet? 10 Euro! Stromkabel für die PA kosten auch.
The Church in Hermosa Beach
Neben der Vielzahl an kurzlebigen religiösen Konzertorten gibt es einige ,,Klassiker“ unter den christlichen Venues, die insbesondere für die frühe US-amerikanische Hardcore-Szene eine Rolle gespielt haben. Hier eine kleine subjektive Auswahl.
Die im Punk/Hardcore-Kontext wohl bekannteste Kirche dürfte die Community Baptist Church – kurz: The Church – in Hermosa Beach, Kalifornien sein. Sie ist Schauplatz der ethnografischen Dokumentation „The Decline of Western Civilization“ (1981) von Penelope Spheeris, in der die frühe L.A.-Punk- und Hardcore-Szene filmisch festgehalten wird. The Church war als Konzertort, Proberaum und Wohnmöglichkeit ein Dreh- und Angelpunkt der Punks in Hermosa Beach in den frühen Achtziger Jahren. Zu den Musikern, die sich in der verlassenen Kirche einmieteten, gehörten Mitglieder von BLACK FLAG, THE TOURISTS (benannten sich erst in RED CROSS und später aus rechtlichen Gründen in RED KROSS um), THE LAST und DESCENDENTS. Die Live-Aufnahmen von BLACK FLAG in „The Decline of Western Civilization“ sind in The Church gedreht und Sänger Ron Reyes gibt an, dort für 16 Dollar Miete in einer Art Wandschrank einen Schlafplatz gemietet zu haben.
Doch wie kam es dazu? Aufgrund von Mitgliederschwund ab den Sechziger Jahren verkaufte die Gemeinde 1973 die Kirche an einen Bauunternehmer. Pläne für Restaurants auf dem Gelände scheiterten. 1975 kauften Sam und Lorraine Elton das Grundstück für 150.000 Dollar und wollten es neu nutzen. Unter dem Namen Creative Craft Center vermieteten sie Räume an lokale Künstler:innen und Kunsthandwerker:innen, die vor Ort Waren herstellten und sie dann im Center verkaufen sollten. Die Idee, aus der Kirche eine Art selbstverwaltetes kulturelles Zentrum zu machen, entstand also schon vor der Nutzung durch die Punks. Nach drei Jahren schlossen die Eltons das Handwerkszentrum und verkauften das Gebäude an Investor:innen, deren Vision war, das Gebäude in ein Einkaufszentrum mit Bürokomplex umzuwandeln. Wieder stellte sich die Stadtverwaltung quer. Während der Verhandlungen zogen Hausbesetzer:innen und Punks in die verlassene und zunehmend heruntergekommene Kirche ein. The Church entstand und wurde bis1983 als Veranstaltungsort genutzt, dann dünnte die Szene aus. Nach dem Abriss des Gebäudes befand sich dort kurzzeitig ein auf den Fundamenten errichteter Skatepark, bevor das Grundstück schließlich neu bebaut wurde. WESTERN ADDICTION widmeten The Church auf ihrem Album „Cognicide“ (2005) den Song „The church of Black Flag“ und beschreiben den Zeitgeist und die Motivation der Szene rund um die alte Kirche:
„This is the church where Black Flag lives / Sentiments are born of desperation / Where good thoughts come from / Monuments in futility / Stress and anger, passion and humility / But we’re above thumbs
This is the church where Black Flag resides / There’s no profit, no success, just pride
Nil by mouth with prophetic paint / Autistic license, we’re always poor and hungry / Art just doesn’t pay / Finding beauty in ugliness / Compulsive strides are pensive and second best / This is on our chests
This is the church where Black Flag resides / There’s no profit, no success and we’re tired / We’re tired!
This is the church free of cognicide / There’s no profit, no success and we’re tired, / In the church where Black Flag resides / There’s no profit, no success, just pride
St. Stephen’s Episcopal Church in Washington D.C.
Diese Kirche ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Ein gewisser Bill MacKaye war hier langjährig als Gemeindemitglied aktiv, sein Sohn Ian MacKaye dürfte den meisten als Sänger der Straight-Edge-Legenden MINOR THREAT und FUGAZI ein Begriff sein. Zudem hatte Mark Andersen dort mit Positive Force seinen Sitz und organisierte regelmäßig Benefizkonzerte und Non-Profit-Punk- und Hardcore-Shows. Andersen hat außerdem in seinem Buch „Dance Of Days“ die Geschichte des D.C.-Hardcore dokumentiert und aufgearbeitet. Seine erste Show in St. Stephen war 1986 ein Soli-Konzert für eine Landwirtschaftsinitiative in Nicaragua, kurz darauf spielten FUGAZI im Café der Kirche. St. Stephen war seit den Siebziger Jahren bekannt für seine Offenheit: Priesterinnen wurden ernannt, lesbische und schwule Paare gesegnet. Man war offen für jegliche Musik und verstand sich als All-Ages-Venue, was auch den nichtgläubigen Andersen auf die Idee brachte, hier eine längerfristige Veranstaltungspartnerschaft mit der Gemeinde einzugehen.
First Unitarian Church in Philadelphia
Mittlerweile nicht mehr aktiv. Sean Agnew (nicht verwandt mit den Agnew-Brüdern Rick, Frank und Alfie von den ADOLESCENTS) hat hier als R5 Productions von 1996 bis 2014 All-Ages-Shows veranstaltet. 2007 bezeichnete das Rolling Stone Magazine diese Kirche als einen der besten Independent-Veranstaltungsorte der USA. Agnew holte große Bands wie ARCADE FIRE, AT THE DRIVE IN, TV ON THE RADIO, machte aber auch regelmäßig kleinere Kellershows mit Punk- und Hardcore-Bands.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #157 August/September 2021 und Daniel Schubert