Hamburg und Oldenburg, das sind friedliche Städte hoch im Norden, die in der Musiklandschaft einen angenehmen Ruf genießen. Selten ist Deutschlands Jugend so gern zur Schule gegangen wie in Hamburg. Auch von Oldenburgs Bands ist nicht bekannt, dass sie ihr Publikum vergrault hätten. Doch könnte jetzt anders werden. Jetzt gibt es "politicide.net", ein Musiklabel im Internet, das angetreten ist, um eine Vision in die Wirklichkeit umzusetzen. Das Internet ist ein guter Weg, um unkonventionelle Künstler zu fördern. Hier darf schließlich jeder seine Meinung sagen und seine Musik spielen.
Mag einigen die musikalische Biografie der beiden politicide-Gründer und Brüder Mario und Florian Filsinger unbekannt sein: Ihre oft elektronische Musik ging in der Vergangenheit mit strapazierten Zuhörernerven und Unverständnis einher. Brainstormmusic, das gefällt nicht jedem. Werden durch politicide jetzt Filsingers Wohnorte, Hamburg und Oldenburg, die Achsenstädte des Lärms? Wenn es nach der Konkurrenz geht, sind sie es bereits jetzt. Netlabels boomen. Die Diskussion "Klasse statt Masse" läuft an, und politicide hat auf kritische Äußerungen reagiert. "Es gibt so viele Netlabels, da ist es klar, dass nur sehr wenige hervorstechen", erklärt Mario. Dass nun aber aus genau dieser Ecke der Ruf laut werde, einen Netaudiofilter einzusetzen, um vorgeblich Qualität statt Quantität durchzusetzen - in Wirklichkeit will man aber "nur die ohnehin bekannten Labels, also sich selber featuren" -, stößt bei den Filsingers auf Unverständnis. Man fühlt sich zumindest indirekt angesprochen: "Die sich selbst etablierende Geschmackspolizei widerspricht dem basisdemokratischen Gedanken von Netaudio. Wir haben darauf mit der Einführung eines Qualitätssiegels namens ?Netaudio Filler. Quality approved netaudio spam' reagiert." Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Aber warum die Aufregung? Um das zu verstehen, muss erklärt werden, dass politicide eine ehrenamtlich betriebene Plattform ist, bei der mehr als das Geld die Mediendemokratie im Vordergrund steht. "Aufgrund der Vorreiterstellung einzelner Medien stellt ein von dieser Seite eingeführter Netaudiofilter ein Problem für die Meinungsfreiheit dar."
Trotzdem bringt die Online-Musik mehr Lust als Frust. "Politicide ist eines der spannendsten Netaudio-Labels derzeit", sagt Mario Filsinger, Künstlername mario f. Es drehe sich viel um die Spielarten der elektronischen Musik. Um "Laptopmusik, die man daran erkennt, dass ein Hornbrillenträger hinter einem PowerBook eine leere Tanzfläche beschallt." Wieder dieser Filsinger-Humor. Ohnehin werden nicht nur ernsthafte Befindlichkeitsäußerungen unterstützt, sondern auch Quatsch wie SALAMANDROIDS. Namen fallen, von denen manch alteingesessener Punkrocker noch nie gehört haben dürfte: "Wir veröffentlichen auch elektronisch geprägte Singer/Songwriter wie PHONOPILOT, Ambient Marke YOURSCK und Tarkatak." Es geht häufig elektronisch zur Sache, aber man sei stilistisch nicht festgelegt. Punkrock gehört genauso wie Techno zum Programm. Auch das Multitalent Florian Filsinger, nebenher Webdesigner, DJ und Grafiker trägt zum politicide-Fundus bei. Sein Bruder schwärmt: "Abgesehen vom Verwandtschaftsgrad sind seine Sachen so gut, dass ich sie kaufen würde. Richtig toller Ambient!"
Das Tollste an politicide aber ist, dass man die Musik gar nicht kaufen muss. Draufklicken, runterladen, brennen, fertig. Alles umsonst und total legal. Politicide ist auf Verbreitung von Musik angelegt, nicht auf Verkauf. Ohne dass eine Verwertungsgesellschaft wie die GEMA daran beteiligt wäre, dürfen die Tracks weitergegeben und öffentlich gespielt werden. Einige politicide-Acts haben internationales Airplay erreicht. Erfolgsdefinition à la Filsinger: "Netaudio bietet durch Flexibilität und gute Erreichbarkeit bei wachsender Verfügbarkeit von Breitbandanschlüssen optimale Vertriebsmöglichkeiten abseits des festgefahrenen Musikbiz."
Und, es wird immer besser, die andere Seite der Medaille glänzt auch. Die Künstler haben das Recht, ihre Lizenzen zu erweitern oder einzuschränken, zum Beispiel, wenn ein Plattenvertrag mit ins Spiel kommt. Bekanntermaßen schmeckt der Erfolg mit unentgeltlicher Arbeit besonders süß. Seit kurzem kooperieren die Brüder mit einer "Berliner Agentur". Diese vermittelt die Künstler an verschiedene Kunden weiter. "Mercedes hat einen Ambient-Track für einen Werbefilm gebucht. Bei so einem Deal kommt viel Geld rum, das der Künstler allein einstreichen kann."
Moment, Mercedes und politicide? Werturteile über die Künstler bezüglich der Verwendung ihrer eigenen Musik erlaubt Mario sich nicht. Verhindern ließe sich eine solche Zusammenarbeit ohnehin nicht. Lieber steht man zu den namhaften Referenzen. Es kommt eben immer - auch in der Subkultur - auf den Blickwinkel an. Es würde ja auch niemand behaupten, dass ein alternder Punkrocker nicht einen zweiten Frühling in der Techno-Szene erleben könnte.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #67 August/September 2006 und Arne Koepke