Der Titel des aktuellen Albums von POLAR mutet generell und verbindend an. „Everywhere, Everything“ bildet damit eine ideale Klammer für das emotional und zerrissen aufgesetzte Werk zwischen Modern-Melodic- und Post-Hardcore sowie Metalcore, auf dem die Briten noch stärker auf Stimmungen und Atmosphäre setzen.
Das ist für mich eine sehr treffende Beschreibung“, freut sich Schlagzeuger Noah. „Ich selbst habe schon immer Atmosphäre in der Musik geliebt und bin ein großer Fan des Post-Rock. Als ich eingeladen wurde, der Band beizutreten, und wir mit dem Schreiben begonnen haben, fühlte es sich natürlich an, diese Elemente zu meiner persönlichen Befriedigung einzubauen. Aber auch um dem Sound von POLAR ein neues Element hinzuzufügen. Wir wollten die Dinge wirklich durchrütteln und etwas anderes als bei den letzten beiden Veröffentlichungen machen. Es ging uns darum, neue Elemente hinzufügen, mit denen wir in Zukunft weiterarbeiten können.“ Der Musiker bestätigt auf Nachfrage, dass die Band plan- und absichtsvoll agiert: „Da ich erst seit 2019 dabei bin, kann ich nur über die letzten drei Jahre aus eigener Erfahrung sprechen“, so Noah. „Als Band geht es uns vor allem darum, kreativ zu sein, uns selbst zu fordern, und dabei eine gute Zeit zu haben. Soweit ich weiß, war die Einstellung der Band in den Anfangstagen etwas lockerer, aber das hat sich ziemlich schnell geändert, als POLAR begannen, sich in der Szene einen Namen zu machen. Heute konzentrieren wir uns vor allem darauf, das beste Material abzuliefern, das wir sowohl auf Platte als auch live spielen können.“ Apropos, der Schlagzeuger hat sein Handwerk im Studium einschlägiger Größen gelernt: „Was Vorbilder und Helden angeht, so muss ich mich der Mehrheit der Metalheads anschließen und sagen, dass METALLICA mich dazu gebracht haben, Metal als lebensfähige Quelle des Ausdrucks meiner Gefühle und Kreativität anzunehmen“, erzählt Noah. „Vor allem Lars Ulrich hat mich dazu motiviert, als junger Teenager ein immer extremeres Schlagzeugspiel zu betreiben, und mir die Tür zu vielen anderen großen Inspirationen hinter dem Schlagzeug geöffnet – Dave Lombardo, Gene Hoglan, Joey Jordison ... Solange du mit deiner Musik und deiner Art, in einer Band zu spielen, authentisch bist, werden sich deine Fans und du selbst auf Augenhöhe begegnen. Am Ende des Tages haben wir alle dasselbe Ziel: mehr großartige Musik!“
Damit schließt sich der Kreis zu POLAR und „Everywhere, Everything“. Auf dem Album steht die Emotionalität im Vordergrund, die mittels spannender Hart/zart-Kontraste eindrücklich in Szene gesetzt wird: „Wir wollen, dass alle unsere Songs ihre eigene Identität innerhalb unseres Katalogs finden, und haben festgestellt, dass unsere Live-Shows gerade deshalb so gut funktionieren, weil jeder Song seine eigene Energie in ein Set einbringt“, bekräftigt der Brite. „Als wir dieses Album geschrieben haben, ging es uns darum, Songs kreieren, die auf einer Platte oder in einem Set zusammenpassen, jedoch keine Kopien des vorherigen Materials oder des jeweils anderen sind. Eine Veränderung in diese Richtung wurde vor Jahren schon während des Übergangs zu ‚Shadowed By Vultures‘ eingeleitet, nachdem die Band verstanden hat, wie das Publikum auf melodische und eingängige Momente in den Songs reagiert. Ich habe das Gefühl, dass das Erforschen von größerer Dynamik unsere Auswahlmöglichkeiten erweitert und diesen Prozess in der Zukunft noch viel einfacher werden lässt.“ Auch deshalb, weil die Band mit grundehrlicher Musik auftritt, mit der man sich schnell identifiziert: „Wir ziehen Erfahrungen aus unseren Leben und lassen sie auf die eine oder andere Weise in die Musik einfließen“, formuliert Noah. „Sei es in einem Text oder in einer Stimmung, die wir mit den Instrumentalstücken erzeugen. Während ‚Nova‘ sich textlich mit sehr spezifischen Themen auseinandersetzte, die den Bandmitgliedern nahestehen, greift ‚Everywhere, Everything‘ das gleiche Ethos auf, erweitert die Botschaft aber so, dass die Hörer ihre eigenen Erfahrungen damit verbinden können.“
Der fünfte Longplayer von POLAR unterscheidet sich aber auch aus anderen Gründen von seinem Vorgänger: „Die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Einschränkungen haben uns daran gehindert, gemeinsam zu jammen und in einem Raum zu sein“, erzählt der Schlagzeuger. „Hinzu kommt, dass es das erste Album ist, zu dem auch unser Bassist Gav Thane und ich musikalische Ideen beigesteuert haben und wo Romesh Dodangoda – bekannt durch BRING ME THE HORIZON, FUNERAL FOR A FRIEND, THE GHOST INSIDE, HOLDING ABSENCE – als Co-Produzent dabei war. Aufgrund der äußeren Umstände wurde schnell klar, dass dieses Album eine Herausforderung für alle Beteiligten sein würde, aber das machte die Arbeit im Ergebnis noch viel befriedigender. Da die Songs während der Pandemie geschrieben und aufgenommen wurden, hatten wir alle viel Zeit, über unser Leben und unsere Lebensentscheidungen nachzudenken. Auf dem Album geht es genau darum: um das Nachdenken. Von den dunkelsten Ecken von ,Deliverance‘ und ,Snakes of Eden‘ bis hin zur Feier und Freude von ,Rush‘ und ,Baptism of fire‘ und allem, was dazwischen liegt. Songs wie das Titelstück oder ,Dissolve me‘ zeigen auf, welche Form und Qualität POLAR erreichen können, wenn die Sterne günstig stehen.“ Nun freut sich Noah auf die anstehenden Live-Aktivitäten: „Ich bin stolz darauf, an einem Album mitgewirkt zu haben, das sich getrost in die schon reiche Geschichte von POLAR einreihen kann. Nachdem ich bereits gesehen habe, wie sowohl langjährige Fans als auch Neulinge auf die Songs von ‚Nova’ reagiert haben, bin ich nun extrem aufgeregt, ‚Everywhere, Everything’ in die Welt hinauszutragen und auf die Bühne zu bringen. Es würde mich freuen, wenn dieses Album die Leute ermutigt, dankbar für die Menschen in ihren Leben zu sein, für die Herausforderungen, die sie überwunden haben, und für das, was die Zukunft bereithält.“
© by Fuze - Ausgabe #96 Oktober/November 2022 und Christina Kiermayer
© by Fuze - Ausgabe #98 Februar/März 2023 und Arne Kupetz