Seit Jahrzehnten ist die Biker-Szene in Deutschland geprägt von mächtigen Clubs wie Hells Angels oder Bandidos. Rockergangs, die von männlichen Ritualen geprägt sind, bei denen Frauen nur als Anhängsel der männlichen Mitglieder gelten. Auch bei kleineren, weniger kriminellen Motorradclubs geben vor allem Männer den Ton an. Bei deren Partys gehören Stripperinnen zum Unterhaltungsprogramm und Frauen werden auf Shirts zum Eigentum der Clubs erklärt. Das wollen die Petrolettes anders machen. Das ist eine Gruppe von Motorradfahrerinnen, die sich vor fünf Jahren in Berlin gegründet hat und inzwischen international vernetzt ist. Zu den Petrolettes gehören auch Musikerinnen aus dem Ox-Kosmos wie Yvonne Ducksworth (JINGO DE LUNCH) oder Mary Westphal (24/7 DIVA HEAVEN). Die 24/7 DIVA HEAVEN-Drummerin und die Petrolettes-Gründerin Irene Kotnik erzählen uns, was sie damit erreichen wollen.
Was und wer sind Petrolettes? Eine feministische Bikergang? Ein Rockerclub ausschließlich für Frauen?
Irene: Petrolettes steht auf jeden Fall für Frauenpower auf dem Zweirad. Aus meiner Sicht bilden wir ein Fenster in die Motorradwelt mit einem femininen Touch.
Mary: Wir sind eine Inspirationsquelle für Frauen für alles rund um den Motorsport. Sowohl auf dem Motorrad als auch neben dem Motorrad. Wenn es etwa darum geht, an der eigenen Maschine herumzuschrauben oder sich Costumized Bikes selbst zu bauen. Oder wenn man mit dem Motorrad verreisen möchte.
Irene: Das sprengt total den Rahmen eines Motorradclubs. Wir sind inzwischen eine weltweite Community. Inzwischen hat unser Projekt so eine Größe erreicht, dass wir einen gemeinnützigen Verein gegründet haben. Für mich trifft es die Bezeichnung „Bewegung“ am ehesten.
Mary: Besonders an Petrolettes ist, dass wir gezielt Frauen ansprechen oder Menschen, die sich als Frauen identifizieren. Das verbindet uns vielleicht mit einem Motorradclub. Dass wir unter uns sind und einen Safe Space für Frauen bieten, die sich vorher vielleicht nicht getraut haben, mit Motorrädern in Berührung zu kommen.
Wann und wie hat es mit Petrolettes angefangen?
Irene: 2016 gab es das erste Motorradfestival in Spandau direkt an der Havel namens Petrolettes. Ein Festival von und für Frauen, die zusammenkommen und eine gemeinsame Kraft bilden. Das war für uns alle ein besonderes Erlebnis. Da gab es keine Ellenbogen oder PS-Vergleiche. Daraus ist diese Plattform Petrolettes entstanden, unter diesem Namen laufen alle weiterführenden Ideen, die wir entwickelt haben. Schon damals waren wir rund 250 Motorradfahrerinnen und relativ international aufgestellt. Bei der ersten Ausgabe haben auch schon Bands wie GURR oder TRIXIE AND THE TRAINWRECKS gespielt. Außerdem gab es ein Rennen und eine große gemeinsame Ausfahrt. Also im Prinzip hatten wir schon das komplette Rahmenprogramm wie heute. Das ging relativ schnell.
War die Gründung von Petrolettes eine Antwort auf die männerdominierte Bikerwelt?
Irene: Wir hatten nicht vor, die Männerwelt zu spiegeln. Wir wollten einfach etwas Kreatives auf die Beine stellen. Bei uns ist es auch egal, mit welchen Motorrad oder mit welcher Marke man kommt – Sports-Bike, Cruiser oder Enduro. Es ist einfach divers und bunt. Wir sind total aufgeschlossen und tolerant. In erster Linie macht es uns Riesenspaß und es kommen immer wieder jede Menge neue Ideen. So können wir viele Dinge auf die Beine stellen. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob wir uns gegenüber klassischen Männer-Motorrad-Veranstaltungen positionieren.
Mary: Mich hat inspiriert, als ich zu den Petrolettes gekommen bin, dass ich die Scheu verloren habe, Fragen zu stellen. Wie irgendein Teil an meinem Motorrad heißt oder so. 2019 haben wir mit 24/7 DIVA HEAVEN die Einladung bekommen, beim Petrolettes-Festival zu spielen und das war wirklich ein besonderes Erlebnis für mich. Bis dahin war ich immer Motorrad-Fan, hatte aber nicht einmal einen Führerschein. Das hat sich schnell geändert. Ich war einfach total heiß darauf, bei den Rennen mitzufahren, weil es einfach den Raum dafür gab. Ein Jahr später hatte ich meinen Führerschein und bin seitdem dabei. Die Petrolettes haben mir gezeigt, dass alles möglich ist. Ich kann inzwischen auch einen Motor auseinanderbauen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal mache. Natürlich schrauben nicht alle Petrolettes selbst an ihren Maschinen herum, das ist auch völlig okay. Ich zum Beispiel würde nie Offroad fahren, das ist mir viel zu gefährlich. Wichtig ist in meinen Augen einfach die Möglichkeit und die Vorbildfunktion, dass man alles machen kann, worauf man Lust hat. Durch die Medien hat man dieses Bild rund ums Motorrad von sexy Ladys, die sich nur auf den Maschinen räkeln, die aber nicht selbst einen Reifen wechseln können. Bei uns bekommt man die Realität vermittelt, dass es ganz viele Frauen gibt, die das sehr wohl können. Auch ohne männliche Hilfe.
Im Prinzip ist es also ein ähnlicher Ansatz wie mit dem „Grrrl Noisy“-Kollektiv, das ihr mit 24/7 DIVA HEAVEN und drei anderen Bands in Berlin gegründet habt. Nur da geht es um Frauen auf der Bühne.
Mary: Genau. Der Ansatz ist ähnlich. Bei vielen Fragen haben wir nach Frauen gesucht, die sich mit dem Thema auskennen. Egal, ob Motorräder oder Instrumente. Um eine Anlaufstelle in diesen männerdominierten Szenen zu schaffen. Als ich zum Beispiel nach geeigneter Schutzkleidung fürs Motorradfahren gesucht habe, wusste ich gar nicht, wen ich fragen kann. Wenn ich in den Zubehör-Shop gehe, sind die meisten Klamotten viel zu groß oder passen vom Schnitt nicht. Und in der Frauenabteilung gibt es nur Sachen in Pink oder mit Schmetterling. Da fühle ich mich nicht abgeholt. Mit Petrolettes haben wir eben auch viele Diskussionen in diese Richtung angestoßen. Dass es vielleicht bald Produkte gibt, die auch Frauen ansprechen.
Eure Festivals und Rallyes haben eine Dimension erreicht, dass sie auch von der männlichen Motorradwelt wahrgenommen werden. Gab es schon Reaktionen auf eure Aktivitäten? Zum Beispiel von Motorradclubs?
Irene: Größtenteils gab es bisher nur Wohlwollen und Unterstützung, und zwar nicht nur von Frauen und von unseren männlichen Kumpels. Aber wir bewegen uns ja gar nicht in den Sphären von Hells Angels oder Bandidos. Wir sind auch kein Club, wir sind eine weltweite Community. Mit diesen männlichen Motorradclubs haben wir keine Schnittstellen. Wir haben auch kein einheitliches Auftreten wie die. Also mit Kutten und Colours.
Habt ihr eine politische Agenda wie zum Beispiel der Dachverband Kuhle Wampe, unter dem sich etwa vierzig Motorradclubs vereinigt haben? Die nehmen an antifaschistischen Demos teil oder protestieren gegen G8-Gipfel.
Irene: Natürlich gehört auch eine gewisse politische Haltung dazu. Wir haben aber kein Podium, auf dem Reden gehalten werden, oder Regeln, die für alle gelten. Das steht nicht auf unserer Agenda. Wir bieten unseren Teilnehmerinnen Wochenenden voller positiver Gefühle und eine Atmosphäre, von der du noch monatelang zehren kannst. Wir geben allen die Gewissheit mit, dass Frauen zusammen stark sein und miteinander etwas Großes schaffen können.
Mary: Aber natürlich positionieren wir uns ganz klar gegen Sexismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das steht auch in der Satzung von unserem Verein drin. Wir sind also kein loser Haufen von Frauen, die politisch keine Ahnung haben.
Wie laufen eure Festivals ab?
Mary: 2019 war ich mit 24/7 DIVA HEAVEN eingeladen. Das Festival fand damals auf dem Ferropolis-Gelände in Sachsen-Anhalt statt. Da konnte man an Workshops zur Fahrzeugtechnik teilnehmen oder sich auf eine Motocross-Maschine setzen und das mal ausprobieren. Es war eine total herzliche Umgebung, in der durch das viele Chrom alles blinkte. Bei mir sorgen Motorengeräusche immer für eine permanente Gänsehaut. Und dann gab es natürlich noch jede Menge Musik. Das war für mich bisher das krasseste Festival-Erlebnis. Da gab es keine Ängste, sich zu blamieren. Da wurde man nicht angeglotzt. Denn neben dem Organisationsteam werden auch alle anderen Positionen, egal ob Technik, Security oder Bar, von Frauen besetzt. Das war für uns auch eine große Inspiration, unser Musikkollektiv „Grrrl Noisy“ ins Leben zu rufen. Momentan laufen die Vorbereitungen für das Petrolettes-Festival 2022 bereits auf Hochtouren.
Irene: Neben dem Festival gibt es auch in regelmäßigen Abständen Petrolettes-Rallyes. Da sind wir gemeinsam drei Tage lang auf dem Motorrad unterwegs. Wegen Corona lief das dieses Jahr allerdings anders. Wir haben eine gemeinsame Ausfahrt organisiert, die auf verschiedenen Strecken lief. Da waren die so genannten Petro-Leaders an verschiedenen Checkpoints, die alle Teilnehmerinnen abklappern mussten. 2019 haben wir auch einen Schrauberinnen-Wettbewerb auf die Beine gestellt. Da haben wir verschiedene Teams von Hobby-Mechanikerinnen zur Teilnahme aufgerufen. Also Frauen, die sich das alles autodidaktisch beigebracht haben. In Zusammenarbeit mit einem Motorradhersteller gab es vier Modelle, die gleichzeitig an alle Teams ausgehändigt wurden. Die hatten dann eine bestimmte Zeit, in der sie fertig werden mussten, und damit sind sie am Ende gegeneinander Rennen gefahren. Immer nach dem Motto: Wer sich nicht traut, kommt auch nicht weiter. Momentan arbeiten wir an unserer App, mit der sich alle Petrolettes vernetzen können. Das musst du dir wie eine Weltkarte vorstellen und jede Stadt, in der es Petrolettes gibt, ist darin verzeichnet. Dann kannst du mit anderen in Verbindung treten, egal ob du Freunde suchst, ein Urlaubsziel anvisierst oder einen Motorschaden hast. Das ist natürlich alles nicht so einfach, weil es eben Pionierarbeit ist. Es gibt keine Vorlagen, die wir einfach kopieren können. Alles entsteht aus der Community für die Community.
Steht ihr auch in Verbindung mit Motorradherstellern? Ich kann mir vorstellen, dass der Markt für Frauen bei denen auch relativ unterentwickelt ist.
Irene: Es gibt da wirklich Interesse. Die stellen auch fest, dass immer mehr Frauen Motorrad fahren. Das belegen auch die Zahlen der Führerschein-Neulinge, die jedes Jahr dazukommen. Das Wachstum ist also gegeben, jetzt müssen wir nur schauen, dass die Industrie da auch ein verstärktes Augenmerk auf die Bedürfnisse der Fahrerinnen hat. Wenn ich Motorradwerbung sehe, soll die bisher nur Männer ansprechen. Aber ich denke, dass so langsam ein Umdenken einsetzt. Da suchen wir auch den Dialog.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #158 Oktober/November 2021 und Wolfram Hanke