PARANOID VISIONS gründeten sich 1981 in Dublin, waren Teil der dortigen Anarchopunk-Szene und hatten im Laufe der Achtziger zunehmend Erfolg. 1992 lösten sie sich auf und kamen in den nächsten Jahren nur sporadisch wieder zusammen. 2005 erfolgte die Reunion, und 2012 veröffentlichten sie mit „Escape From The Austerity Complex“ ein höchst politisches Album, wofür es angesichts der politischen und wirtschaftlichen Situation in Irland auch reichlich Gründe gab. Unter den Studiogästen war auch Steve Ignorant (ex-CRASS), und die Zusammenarbeit gestaltete sich so erfreulich, dass man daraufhin mit „When ...?“ ein komplettes Album zusammen einspielte, nachdem Steve zuletzt mit THE LAST SUPPER als Backing-Band aktiv gewesen war. „When ...?“ erschien Ende 2013 auf dem britischen Label Overground Records.
Stilistisch waren sich PARANOID VISIONS und CRASS in ihren frühen Jahren recht ähnlich, erstere schlugen dann aber einen etwas gothlastigeren Kurs ein, während CRASS eher experimentellere Klänge bevorzugten. Mit „When ...?“ schloss sich dann ein Kreis, denn 1979 schrieb ein 13 Jahre alter Punk namens Peter einen Brief an die von ihm verehrte Band CRASS – und bekam eine Antwort, von Steve. Zwei Jahre später war er unter dem Pseudonym PA Gitarrist seiner eigenen Band, die er zusammen mit Sängerin Deko Dachau gegründet hatte.
Auch im Irland der Gegenwart gibt es eine Menge Gründe, wütend zu sein, und dazu gehört auch das „Nationalheiligtum“ Bono Vox von U2, dem man sich in „Charity begins at home“ widmet, einer Anklage an scheinheilige „gemeinnützige“ Organisationen, die vor allem an gutbezahlten Stellen für die eigene Führungseben interessiert sind, ganz zu schweigen davon, dass U2 schon lange ihre Steuern im günstigeren Holland zahlen. Mit U2 verbindet PARANOID VISIONS sowieso eine alte Feindschaft, schon 1987 starteten sie die „FOAD2U2“-Kampagne („Fuck off and die to U2“) und sprühten die irische Hauptstadt mit der Abkürzung zu. Ich mailte Peter „PA“ Jones meine Fragen.
Peter, bitte verschaffe uns zunächst einen Überblick über die Bandbesetzung.
Die Band besteht aktuell aus mir an der Gitarre, Deko, Sarah Bellum und Aoife Destruction am Gesang, Dan Sonya Grave an der Gitarre, Martin Lucifer King am Bass, Paul Zapart am Schlagzeug, und Steo Pain kümmert sich um die Samples. Deko und ich sind seit 1982, in der Band, während Sarah und Paul dazukamen, nachdem die Band 2005 neu gegründet wurde. Steo und Aoife kamen 2008 und die anderen beiden sind kürzlich zu uns gestoßen.
Wie sahen die Anfänge eurer Band in den frühen Achtzigern aus?
Wir haben uns Anfang der Achtziger gegründet. Die zweite Punk-Welle wurde damals bestimmt durch die Unterteilung in Sparten wie Hardcore, Anarcho, Oi! und den originalen 77er-Punk. Wir waren 1977 noch sehr jung, und aus Irland zu sein bedeutete, dass Bands wie THE CLASH oder SEX PISTOLS von uns so weit entfernt waren, wie PINK FLOYD von den Londoner Punks. Das bedeutet, dass diese Bands, die uns ja wirklich etwas bedeuteten, zu dieser Zeit bereits bei einem Majorlabel unterschrieben hatten. Wir hatten nicht das Gefühl, mit ihnen auf einer Stufen zu stehen. Wir mussten ohne diese Erfahrung auskommen, die die englischen Punks gemacht hatten. Aber dann erschienen CRASS auf der Bildfläche und wir konnten wir uns mit dem, was sie sagten und taten, identifizieren. In Irland gab es keine entsprechenden Labels und Punk war unsere Umwelt der letzte Dreck, also musste alles zu 100% D.I.Y. organisiert werden, damit überhaupt etwas passierte. Als Band konnte nur überleben, wer sich richtig reinhängte. Bei der Gründung von PARANOID VISIONS hatten wir nicht vor, einen Plattendeal zu bekommen oder nach den Regeln der Industrie zu spielen. Also machten wir es so, wie wir es bei CRASS und Anarchopunk gesehen hatten und begannen, unser Material auf Tape zu veröffentlichen. Wir fanden, dass das nicht so genau definierte Genre Anarchopunk auf uns passte, gerade angesichts der musikalischen Vielfalt, die es umfasste – musikalisch könnten AMEBIX, THE MOB, THE CRAVATS und CHUMBAWAMBA nicht weiter auseinander liegen. Wir wollten alles spielen, wozu wir technisch in der Lage waren.
Wegen eures relativ großen Erfolgs in den späten Achtzigern – ein Song von euch tauchte 1991 sogar im „The Commitments“-Soundtrack auf – beschrieb euer Label euch mal als „borderline mainstream crossover act“. Wie hast du diese Jahre erlebt?
Als wir in den frühen Achtzigern anfingen, Platten zu veröffentlichen, waren wir ziemlich erfolgreich. Wir verkauften mehr als die meisten irischen Bands, die auf Majorlabels waren, trotzdem weigerten wir uns, das Spiel in irgendeiner Weise mitzuspielen. Einige Teile der Gegenkultur wollten uns lieber im Mainstream sehen, als Alternative zu U2 oder BOOMTOWN RATS oder diesen unzähligen Wannabes, die uns alle ankotzten, weil sie einfach überhaupt nicht originell waren. So landeten wir im Fernsehen und in Zeitschriften oder Zeitungen. In den frühen Neunzigern ging ein Mitglied von uns zu den Auditions für „The Commitments“ und sang ein paar unserer Songs. Sie war damals allerdings noch minderjährig, also war der Vertrag, den sie unterschrieben hatte, schlicht ungültig. Ihr blieb nur der Weg, mit Hilfe eines befreundeten Anwalts gegen die unautorisierte Nutzung des Songs zu klagen. Seltsam genug, dass wir heute mehr Platten verkaufen als zu dieser Zeit.
Was habt ihr denn für ein Problem bei U2? Okay, „Bono bashing“ ist einfach, aber es gibt Leute, inklusive mir, die ihre Klassiker-Alben aus den Achtzigern wirklich mochten. Warum hast du eine andere Sicht darauf – stammt ihr nicht aus derselben Underground-Musikszene der späten Siebziger und frühen Achtziger?
Ja, Bono ist ein leichtes Ziel, aber auch ein legitimes. Ich hasse U2 aus mehreren Gründen. Unsere Ablehnung rührt zum großen Teil daher, dass sie ebenfalls Iren sind, ihre Heuchelei ist für uns daher viel offensichtlicher und wir haben mitbekommen, was hinter den Kulissen so abgelaufen ist, und das wirft kein gutes Licht auf sie. Sie fingen an als gute New-Wave-Band, aber sie haben für den Erfolg ihre Seele verkauft und traten anderen Bands auf die Füße, um nach oben zu kommen. Sie holten die besten lokalen Bands auf ihr damaliges Label Mother Records, aber – angeblich – nur, um deren Karriere zu behindern, damit ihnen bloß keiner den Titel „erfolgreichste irische Band“ streitig machen konnte. Einige Stücke auf „The Joshua Tree“ sind stilistisch und inhaltlich schamlose Kopien von Demotracks lokaler Bands. Eine davon nahm ein Album für Mother auf, das aber niemals veröffentlicht wurde. Es gibt viele widerliche Geschichten über ihre Geschäftspraktiken.
Kritik an Bono und U2 zielt einerseits auf Bonos explizit christliche Mission – auch wenn er das gerne aus der Öffentlichkeit raushält, andererseits auf die Tatsache, dass die Band ihre Geschäfte von Irland in die Niederlande verlegt hat, um Steuern zu sparen.
Bonos Heuchelei ist so ekelhaft wie seine Wohltätigkeit, denn nur 1% seiner Einkünfte werden gespendet. Dazu kommt der Umzug nach Holland, um in Irland keine Steuern zahlen zu müssen. Seien wir doch mal ehrlich, niemand zahlt gerne Steuern, aber wenn du 300 Millionen Euro verdienst, kannst du es dir gut leisten, die Wirtschaft deines eigenen Landes zu unterstützen, besonders wenn du immer davon sprichst, wie stolz du auf deine Nationalität bist. Bono wird sich an alles dranhängen, von dem er glaubt, dass er ihm Glaubwürdigkeit verschafft. Er war schon ein arroganter Wichser, als U2 Nobodies waren, und das ist über die Jahre nur noch schlimmer geworden.
Und worum geht es in dem Text zu „Charity begins at home“?
In dem Song geht es um das Thema Wohltätigkeit, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen geht es um die Reichen und Berühmten, die Charity-Veranstaltungen nur organisieren, um ihren eigenes Ansehen aufzupolieren. Zum anderen übt er Kritik an Wohltätigkeitsorganisationen, die ihrem Geschäftsführer aus den eingenommenen Spenden 250.000 Euro Gehalt finanzieren, während nur ein kleiner Prozentsatz für die gute Sache bleibt.
Für viele Deutsche ist Irland hauptsächlich ein schönes Urlaubsland, Klischees inklusive. Es ist ein sehr idealisiertes Bild: die großartige Landschaft und die Pubs, wo man immer Folkmusik spielt und sich mit Whiskey betrinkt. Ich schätze mal, du siehst das etwas differenzierter ...
All das macht Irland zu einem großartigen Touristenziel, sicher. Aber angesichts der erschreckend miesen Sozialleistungen, des desolaten Gesundheits-und Steuerwesens, der Preissteigerungen und der grundsätzlichen Inkompetenz derer, die uns regieren, ist hier zu leben eine ganz andere Sache.
Aktuell befindet sich Irland inmitten einer Achterbahnfahrt. Von einem armen Land mit starken katholischen Moralvorstellungen hat es sich zum „Celtic Tiger“ entwickelt, es folgte der öffentliche – oft auch private – Konkurs, und nun scheint eine langsame Erholung in Sicht zu sein.
Im Grunde war es viel angenehmer in Irland zu leben, als niemand Geld hatte. Nachdem die Wirtschaft erst mal aufgeblüht war, jeder BMW fuhr und Häuser besaß, hat sich auch eine gewisse Arroganz und Gier eingeschlichen. Als ob der alte, unterdrückte Ire tot sei und der neureiche Ire vergessen hätte, wo er herkommt. Es gab vorher kein Jahrzehnt ohne Flaute oder Abschwung, die Nullerjahre haben das ausgelassen. Und als der Boom plötzlich zu Ende war, hatten große Teil der Gesellschaft das Gefühl, ihr Leben sei vorbei, ihre Wünsche und Erwartungen zerstört.
Mit dem wirtschaftlichen Absturz einher ging der „moralische Bankrott“ durch die vielen, jetzt endlich aufgedeckten Skandale der katholischen Kirche. Reichlich Material für eine Punkband, oder?
Ja, es ist eine großartige Quelle für Songtexte. Die katholische Kirche stand schon immer im Zentrum der Gesellschaft und die Priester waren unantastbar. Kindesmissbrauch und Pädophilie waren definitiv weit verbreitet. Ob es einfach an ihrer Macht lag und sie sich unter ihrem Deckmantel sicher wähnten, nicht erwischt oder aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht verfolgt zu werden, oder ob es von Anfang Perverse waren, die sich vom Priestertum angezogen fühlten, in der Hoffnung, dass Gott sie rettet, das sei mal dahingestellt.
Reichlich Themen für Künstler – wie sehr hat die irische Musikszene all das thematisiert?
Die irische Musikszene hat sich aus Kontroversen immer rausgehalten und jede Konfrontation vermieden. Sehr wenige Bands haben etwas zu sagen, und die, die es tun, finden kaum Gehör. Punk war und ist die Stimme der Gegenkultur, aber die Bands beschränken sich am liebsten darauf, die zu überzeugen, die sowieso längst Bescheid wissen, statt zu versuchen, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Dafür kämpfen wir seit Jahren. Wir hinterlassen, wann immer möglich, unsere Spuren in den Medien, denn nur so können wir der Opposition eine Stimme geben.
Von 1992 bis 2005 war eure Band inaktiv. Was habt ihr in diesen Jahren gemacht, und warum die Reunion?
Wir sind aus verschiedenen Gründen auseinandergegangen, aber Tatsache ist, dass wir die Band nie aufgelöst haben, wir haben sie nur für eine Zeit ruhen lassen. 1996 waren wir wieder zusammen, um die SEX PISTOLS auf der „Filthy Lucre Tour“ zu begleiten, und dann wieder 2001 für eine Tour mit THE DAMNED zu ihrem 25-jährigen Jubiläum. 2005 wollte dann ein Label eine Compilation rausbringen mit Stücken aus unserem Backkatalog. Also haben wir zugestimmt, ein Line-up für ein paar Shows zusammenzustellen. Da haben wir ziemlich viel Arbeit reingesteckt und dachten, es wäre doch Verschwendung, jetzt nicht noch ein paar Gigs mehr zu spielen. Dann sind wir auf die Idee gekommen, ein paar neue Songs zu schreiben, und da es gut lief, haben wir seither weiter gemacht.
Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit mit Steve Ignorant, dem einstigen CRASS-Mitglied? Gibt es eventuell auch Pläne für eine Europatour?
Wir lernten Steve kennen, als wir für seine „Last Supper“-Tour einen Gig in Dublin organisiert haben, es gab dann ein paar gemeinsame Auftritte – in Manchester, in Dublin, die letzte Show war in London. Auf der Aftershowparty erzählte ich ihm, dass wir einen Song haben, bei dem wir jedes Mal denken, den müsste eigentlich Steve Ignorant singen. Wir haben ihm dann den Track und die Texte zugeschickt, und er war tatsächlich bereit rüberzukommen und ihn mit uns aufzunehmen. Am Ende überzeugten wir ihn zu einem weiteren Song, die Überlegung war nämlich, das als Single rauszubringen, auf unserem Label Louder Than War. Danach gingen wir zusammen in den Pub und im Laufe des Abends sagte Steve, er sei bereit dazu, auch mehr mit uns zu machen, wenn wir wollen. So beschlossen wir, zunächst die EP zu machen, aber letztlich wurde ein ganzes Album daraus. Es wird auch 2014 einige Gigs geben, aber die Booking-Agenturen haben allgemein kein Interesse an uns, da wir nicht bereit sind, drei Wochen am Stück unterwegs zu sein. Deshalb buchen wir die Gigs lieber selbst.
Zum Schluss hätte ich gern noch einen Kommentar von dir zur „Celtic Punk“-Welle. Es scheint, als kämen diese Bands aus allen Winkeln der Welt, nur nicht aus Irland ...
Ich hoffte, das Celtic-Punk-Ding wäre schon wieder tot. Ich hasse es. Ich bin sowieso kein Fan von traditioneller irischer Musik, ich mag weder den Sound und die Stimmung, noch die Instrumente. Und wenn amerikanische Bands das machen, ist es noch weniger zu ertragen. Stell dir mal vor, eine amerikanische Band, die noch nie in Deutschland war, würde sich THE FIERY FRITZ’S nennen und anfangen, Bierkeller-Volksmusik mit elektrischen Gitarren zu spielen und Lieder zu singen, die davon handeln, wie toll Bayern im Frühling ist. Du würdest es sicher hassen ... hoffe ich zumindest mal.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #113 April/Mai 2014 und Joachim Hiller
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