Der New Yorker Musiker Mario Diaz de Leon hat mit „Kiasma“ via Denovali sein zweites Album veröffentlicht, auf dem er im Alleingang sowohl sphärische wie noisig-laute Musik zwischen Distortion, Ambient, Metal, Drone, Doom und Noise aufführt. Im Gegensatz zu vielen anderen Musikern hat Mario das, was er da macht, auch theoretisch erlernt, sprich: studiert. Wir gaben ihm zehn Begriffe vor und baten, diese zu kommentieren.
SLAYER oder Stockhausen?
Das ist unmöglich zu beantworten. Ich bin mit SLAYER aufgewachsen. Ich habe SLAYER in den letzten zehn Jahren dreimal live gesehen und es war jedes Mal unglaublich. Der Clip von ihrem Auftritt im Ritz in New York von 1986 ist eines der besten Live-Videos aller Zeiten. Stockhausens „Kontakte“ wiederum war eines der ersten modernen, klassischen Stücke, die ich je gehört hatte, und es hat mich einfach weggeblasen. Neben all den Werken aus den Sechzigern, für die er berühmt ist, bekommt sein späteres Werk in den USA kaum Aufmerksamkeit, zum Teil wohl, weil es schwierig aufzuführen ist. Der Mann war ein brillanter Megalomane. Wenn bei ihm alles stimmt, ist er beeindruckend wie kaum ein zweiter. Ich habe viel Zeit damit verbracht, Flötenmusik zu schreiben, und sein Stück „Kathinkas Gesang als Luzifers Requiem“ ist eine der besten Kompositionen für Flöte, die ich je gehört habe. Es gibt auch eine Menge elektronisches Zeug von ihm, das ich bisher nur in Stereo gehört habe, aber oft ist das ja für acht Lautsprecher geschrieben. Einige davon, wie „Cosmic pulses“ und „Oktophonie“, werden gerade in New York aufgeführt. Das letzte, was er schrieb, der „Klang“-Zyklus, hat auch großartige Teile. Die zweite Stunde, „Freude“, ist für zwei Harfen geschrieben und unglaublich gut. Ich wünschte, ich wäre 2010 in Köln gewesen, als der komplette Zyklus von der MUSIKFABRIK aufgeführt wurde.
NEUROSIS oder PINK FLOYD?
Vier der NEUROSIS-Alben, beginnend mit „Souls At Zero“, haben mich als Teenager sehr vereinnahmt und sind immer noch ein großer Einfluss für mich. Ich habe sie in den Neunzigern auch dreimal live gesehen, was ebenfalls einen großen Eindruck hinterlassen hat. Wunderbare Songs, und die Art, in der sie elektronische Versatzstücke und Visuals einzubinden vermochten, ist unvergleichlich. Die Idee, die Zuhörer aufzufordern, „Times Of Grace“ mit dem TRIBES OF NEUROT-Album „Grace“ simultan abzuspielen, ist der Wahnsinn. Für mich hat ihre Musik eine Art Tor in eine andere Welt eröffnet – aufregend und verstörend, gleichzeitig sehr real, mit dem echten Leben verbunden. Sie beschäftigen sich zwar viel mit mythologischen Symbolen und Spiritualität, bewahren aber die Brutalität und Verbundenheit mit der gelebten Erfahrung. Ich mag auch manches von PINK FLOYD sehr. Ich war zeitweise ein wenig besessen von dieser „Dark Side of the Rainbow“-Geschichte, also der Verbindung zwischen dem Film „Der Zauberer von Oz“ und ihrer Platte „Dark Side Of The Moon“, von der ich jedoch nicht glaube, dass sie beabsichtigt war.
Live oder Studio?
Das letzte Album war harte Studioarbeit und ich habe mich bis zur letzten Minute damit herumgequält. Aber das ist eigentlich ein normaler Teil der Arbeit an einem größeren Werk, da ich immer Sachen ausprobiere, die neu für mich sind. In gewissem Sinne ist es für mich immer eine Erlösung, wenn der Aufnahmeprozess beendet ist und ich wieder live spielen kann. Ein Aspekt dieses Projektes ist, dass manche Songs bearbeitet werden müssen, damit ich sie live spielen kann. Wenn einer der Songs auf der Platte sehr vielschichtig ist, dann muss ich das ein wenig zusammenstreichen, um es für die Live-Performance zu arrangieren, denn ich stehe ja alleine auf der Bühne. Manchmal heißt das auch, dass ich die Struktur verändern muss oder Teile verlängern muss, um eine gute Live-Atmosphäre zu kreieren.
Lärm oder Harmonie?
Meine Musik ist sicherlich eher tonal als atonal. Ich habe nie versucht, eine exklusiv auf Geräuschen basierende Tonsprache zu entwickeln, ich behalte fast immer ein gewisses harmonisches Denken bei. In Teilen meiner Musik besteht dort jedoch kein großer Unterschied – es ist alles Teil ein und des selben Kontinuums. „Mansion“, „Moonblood“ und bis zu einem gewissen Grad auch „Hypnocaust“ und „Faithless“ sind Beispiele dafür. Wenn du Geräusche filterst, bekommst du eine Tonhöhe und anders herum: wenn du Harmonien verdichtest, kannst du verschiedene Ausprägungen von Lärm erschaffen. Ganz zu schweigen von den Mitteln und Wegen, mit denen du akustische Instrumente „erweitern“ kannst. Das ist etwas, das du bei vielen anderen auch hören kannst, das ist nichts Einzigartiges. Einige meiner größten Einflüsse – Ligeti, Xenakis, Dumitrescu, WOLF EYES, Merzbow, viele Black-Metal-Musiker, selbst einige Spätromantiker – benutzen genau diesen Effekt, also dass du mit schnellen Veränderungen der Tonhöhen eine Art Geräusch erschaffen kannst. Ein Beispiel dafür ist beispielsweise „Chasse-neige“ von Liszt.
Komposition oder Improvisation?
Ich bin viel mehr auf Komposition fokussiert als auf Improvisation, wenngleich das bei mir lange Zeit fifty-fifty war. Viele meiner meiner klassischen Arbeiten entstehen aus einer Improvisation, die dann arrangiert wird. Ich improvisiere aber immer seltener, auch wenn manchmal eines zum anderen kommt, wenn ich etwas aufführe. Im Moment arbeite ich jedoch an einem Projekt namens „Bloodmist“ mit Toby Driver und Jeremiah Cymerman, bei dem Improvisation eine wichtige Rolle spielt. Auch wenn ich es live kaum noch tue, improvisiere ich immer noch zu Hause oder im Studio. Ich habe gelernt, dass meine Kompositionen oder Ideen darunter leiden, wenn ich alles nur plane.
Klassik oder Pop?
Ich vereinfache mir die Frage und lege „Pop“ als „Top 40“ aus und „Klassik“ als westliche Kunst- und Musiktradition, vom Mittelalter bis heute. Also: Klassik. Mir fällt, ehrlich gesagt, nichts ein, was mich in der heutigen Mainstream-Popmusik interessiert. Popmusik aus früheren Jahrzehnten ist aber eine ganz andere Geschichte.
Solokünstler oder Band?
Wenn es sich ergibt, könnte es großartig sein, eine Band zu haben, aber ich warte nicht darauf.
Vokal oder instrumental?
Bislang habe ich sehr wenig Musik mit Gesang gemacht, aber das könnte mit der nächsten Platte anders werden.
Analog oder digital?
Ich habe mein ganzes Leben lang schon mit beidem parallel gearbeitet. Ich gebe keinem davon den Vorzug– beides hat seine Stärken für gewisse Zwecke.
Universität oder Selbststudium?
Ich habe viel Zeit in Bildungsinstitutionen verbracht und es hat für mich gut funktioniert. Das lag an der Kombination verschiedener Faktoren – der richtige Ort, die richtigen Leute zur richtigen Zeit. Es gab für mich aber auch nie einen Plan B – entweder ein Unterricht, der mich interessiert, oder gar keiner. Wenn ich nicht ernsthaft moderne klassische Musik hätte komponieren wollen, wäre ich gar nicht zur Uni gegangen. Ich bin sehr dankbar, diese Art von Gemeinschaft gefunden zu haben, und ich bin stolz auf die Arbeit, die ich in diesem Umfeld leisten konnte. Nicht zuletzt, weil ich dort meinen eigenen Projekten viel Zeit widmen konnte. Das Verhältnis zwischen moderner klassischer Musik und den Hochschulen ist nicht unproblematisch, nichtsdestotrotz ist es großartig, dass es Schulen gibt, an denen Leute diese Musik studieren und intensiv weiterentwickeln können.
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