Nachdem der ehemalige MUFF POTTER-Sänger Nagel 2007 mit „Wo die wilden Maden graben“ seinen Einstand als Buchautor gab, widmete er sich nach der Auflösung der Band Ende 2009 ganz der Schriftstellerei. Ende September ist mit „Was kostet die Welt“ im Verlag Heyne Hardcore sein zweites Buch erschienen, in dem es um den zugewanderten Berliner Meise geht, der sich vorgenommen hat, das Geld seines verstorbenen Vaters durch ausgiebiges Reisen zu verpulvern. Als das Geld fast alle ist, fährt er noch an die Mosel in ein kleines Winzerdorf. Ich befragte Nagel zur Trenung von Fiktion und Fakten, seinen Plänen – und seiner neuen Band.
Der Punkband-Sänger ist Vergangenheit, der Autor Gegenwart? Kann man das so hart trennen oder wie hat sich dein Leben seit dem letzten MUFF POTTER-Konzert verändert?
Ach, ich habe doch vor dem MUFF POTTER-Split schon geschrieben, und nach dem Split noch Musik gemacht. Das ergänzt sich ganz gut. Trotzdem ist das Ende der Band nach so langer Zeit natürlich eine ziemliche Zäsur. Und das ist auch gut so. Kreative Gewohnheiten und eine Art von künstlerischer Sicherheit fallen weg, man muss sich neue Ventile für all die Energie suchen.
Wobei ... so ganz kannst du das mit der Musik ja nicht lassen. Die BLOOD ROBOTS spielten im September erste Konzerte. Wer steckt dahinter, was ist der Plan?
Die BLOOD ROBOTS sind mehr oder weniger eine Feierabendband, die schon seit zwei Jahren zusammen Musik macht und trotzdem jetzt erst die ersten Konzerte spielt. Ich spiele Bass. Die anderen Bandmitglieder waren vorher in Punk/Hardcore-Bands wie HIGHSCORE, DURANGO 95, MÖNSTER, SITUATIONS oder THE YELLOW PRESS. Die Band hat keinen Plan, außer halt jetzt endlich mal ein paar Konzerte zu spielen.
Dein erstes Buch war autobiografisch, doch was ist mit dem zweiten? Ich-Perspektive, ein Erzähler, in dem man durchaus Aspekte deines Lebens herauslesen kann – wie sehr vermischen sich da Erlebtes und Fiktion, wie genau sollte der Leser da trennen können?
Auch in „Wo die wilden Maden graben“ oder in vielen MUFF POTTER-Texten gab es durchaus Fiktives. Natürlich weiß ich, wovon ich da schreibe, das heißt aber nicht, dass ich alles eins zu eins so erlebt habe. Mir persönlich geht es ganz grob gesagt um Poesie, um eine eigene kraftvolle Sprache. Weniger um absolute Authentizität oder diese oft falsch verstandene „Ehrlichkeit“. Was soll das überhaupt sein? Wäre es denn nicht ehrlicher, über ein neues Sofa oder die Steuernachzahlung oder Orgasmus-Schwierigkeiten zu singen, oder was einen sonst so beschäftigt, statt immer nur über Liebe und Politik? Autobiografisches kann man beim Schreiben nicht ausklammern. Es wäre auch albern, das zu versuchen. Aber trotz des Ich-Erzählers: ich bin nicht Meise. Auch alle anderen Charaktere im Buch und nicht zuletzt das Weindorf, in dem es spielt, sind erfunden. Wenn das trotzdem alles sehr „echt“ wirkt, nehme ich das gerne als Kompliment, denn ich habe viel recherchiert, um das Buch so schreiben zu können. Ich habe sehr genau über die Figuren nachgedacht, Klischees an zu erwartenden Stellen vermieden und an anderen gezielt eingesetzt. Ein Leser muss da meiner Meinung nach gar nicht trennen können. Er verbringt einfach eine gewisse Zeit mit Meise, einer Figur, die ich erfunden habe und in der ich mich herrlich 320 Seiten lang austoben kann.
Aus dem im Buch Geschriebenen ist auch Bedauern herauszulesen, nicht im Sinne von „Die Jahre mit MUFF POTTER waren verschwendet“, aber eben: „Kein Job gelernt, die Jahre vertrödelt, was mache ich denn jetzt?“ Auch wenn da der Protagonist deines Buches spricht, so scheinen das ja doch Gedanken zu sein, die dich als Autor umtreiben. Was für Beobachtungen liegen dem zugrunde?
Im Grunde handelt es sich dabei um die reflexhafte, aber tief verankerte Ablehnung eines (klein-)bürgerlichen Lebensstils. Das war für mich schon immer ein großes Thema. Meinem Helden – oder wohl eher Antihelden – Meise ergeht es da ähnlich, wobei er im Verlaufe des Buches ja so manch schmerzhafte Einsicht hat, zum Beispiel dass er sich einer Person gegenüber, die ihn liebt, extrem arrogant verhält, oder dass er seinem Vater ähnlicher ist, als ihm lieb ist. Meise weiß nicht, was er will, aber ziemlich genau, was er nicht will. Er ist ja auch noch ein paar Jahre jünger als ich, ich würde sagen, er darf das.
Dein „Meise“ hasst Sprüche, Sprichwörter, Kneipenparolen, dennoch breitest du diese im Buch in großer Vielfalt genüsslich aus.
Mich faszinieren und belustigen Konversationen, die eigentlich nur noch aus Worthülsen, Aphorismen und Phrasen bestehen. Das finde ich abstoßend und lustig zugleich. Das mal so abzubilden und zu sezieren hat mir viel Spaß gemacht. Und über Dummheit oder Prolligkeit kann man ja auch ganz herrlich lachen, wenn man den nötigen Abstand dazu hat.
Es gibt den schönen Slogan „Verschwende deine Jugend“ – eine gute Idee, das zu tun? Aber was ist verschwendet, welches Quantum Slackertum gehört zum Erwachsenwerden, wo fängt das Spießertum à la „Pärchenabend“ an, das „Meise“ so verachtet, aber sich vielleicht auch heimlich wünscht?
Ich finde es gut, seine Jugend zu verschwenden. Steile Karrieren ohne Brüche, Menschen, die in Rekordzeit ihr Studium durchziehen, die sind mir immer eher suspekt. Führt doch nur zu Altersdepressionen und dem Gefühl, etwas verpasst zu haben. Andererseits glaube ich nicht, dass es den einen richtigen Weg gibt. Das muss man wohl immer wieder neu austarieren. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, manche widersprechen sich sogar. Diese Ambivalenz, die sich daraus ergibt, habe ich sowohl in „Wo die wilden Maden graben“ als auch in „Was kostet die Welt“ darzustellen versucht.
Ach ja, gruselig: Sind wir jetzt alle erwachsen? Was ist das überhaupt?
Keine Ahnung. Gibt es das überhaupt noch in Zeiten, in denen kein Job mehr sicher ist, in denen von allen grenzenlose Flexibilität verlangt wird? Ich fühle mich jung, bin aber froh, nicht mehr 21 zu sein. Ich fühle mich nicht alt, finde es aber gut, älter zu werden. Macht das Sinn? Ich weiß es nicht.
Wie ist dein Leben sonst so? Reisen, schreiben, lesen ... singen? In Sachen Reisen hat dein Protagonist ein Defizit – wie war das bei dir nach unzähligen Touren? Und: Was unterscheidet das Touren vom Reisen?
Beim Thema Reisen gibt es tatsächlich große Parallelen zwischen mir und Meise – auch ich habe erst sehr spät damit angefangen. Ich wollte immer so viel Musik machen und schreiben wie möglich, dabei nur so viel arbeiten, wie nötig. Ich habe nie eine Ausbildung oder ein Studium begonnen, mich über zehn Jahre lang mit Nebenjobs über Wasser gehalten, bis ich endlich halbwegs von der Kunst leben konnte. Das heißt: ich hatte nie das Geld, um zu reisen, und es hat mir auch niemand beigebracht. Irgendwann war da auf einmal etwas mehr Zeit, etwas mehr Geld, und in mir wuchs das Gefühl, außer Backstageräumen und deutschen Autobahnen recht wenig von der Welt gesehen zu haben. Also begann ich zu reisen. Ähnlich wie Musik und Literatur ist das Reisen etwas, das ich mir selbst erschließen musste. Wahrscheinlich sind mir diese Dinge genau deswegen jetzt so heilig. Beim Reisen bin ich meistens alleine, habe keine festen Termine und Verantwortung nur für mich selbst, bewege mich deswegen wesentlich freier und aufmerksamer. Das macht es für mich so inspirierend, so aufregend und entspannend zugleich. Wogegen eine Tour ja zwischen den wenigen glamourösen Momenten des Tages irre anstrengend und stumpf sein kann. Siehe „Wo die wilden Maden graben“.
Was das Schreiben anbelangt: Welche Bücher, welche Autoren haben dich in letzter Zeit und auch generell beeindruckt, gar beeinflusst?
Ich mag meine Lieblingsautoren für ganz unterschiedliche Dinge. Manche sind tolle Geschichtenerzähler, andere haben einen guten Witz, manche können noch die kleinsten Details spannend verpacken, andere dagegen verzichten fast gänzlich auf Details und erzählen beeindruckend schnörkellos und direkt ... Das Tragikomische beispielsweise von Woody Allen hat mich bestimmt beeinflusst. Dieser Galgenhumor. Auch das Absurde von Monty Python oder das Collagenhafte von Jonathan Safran Foer. In den letzten Jahren habe ich außerdem alles gelesen, was Jörg Fauser jemals geschrieben hat. Das hat mein Faible für das Thema Westdeutschland noch mal angeheizt. Mosel, das ist natürlich auch Rheinland-Pfalz, alte Bundesrepublik, das Deutsche Eck, Helmut Kohl, Handwerk. Das jetzt mal von außen durch die Augen eines geborenen Großstädters zu betrachten, hat mir Spaß gemacht.
Wie schwer oder leicht fällt dir das Schreiben?
Schreiben an sich fällt mir leicht, wenn ich erst mal drin bin. Trotzdem gibt es dabei auch qualvolle Momente. Es hat zum Beispiel sehr lange gedauert, bis ich den Aufhänger für „Was kostet die Welt“ gefunden habe. Die grundsätzlichen Themen hatte ich seit langem im Kopf – was machen mit dem unverhofften Erbe und diese ganze Familie versus Heimatlosigkeit-Thematik. Doch mir fehlte das Setting, der Rahmen. Bis ich einmal per Zufall auf ein Weingut an die Mosel kam und dachte: das ist es, hier muss das alles spielen. Danach ging alles recht schnell. Innerhalb von wenigen Monaten habe ich das ganze Buch runtergeschrieben. Dann ging allerdings noch mal das Dreifache an Zeit dafür drauf, zu recherchieren, zu kürzen, zu lektorieren, also alles auf den Punkt zu bringen. Was ja meiner Meinung nach das Wichtigste ist, die kleinen Details, die Sprache, der Rhythmus. Es ist schon so, dass man zwischendurch auch mal durch schlimme Phasen geht, wo man alles in Frage stellt. Mein Ich-Erzähler hat mich zuweilen richtig angekotzt. Vor allem in diesem miesen Berliner Winter 2010, als ich die hässliche Großstadt verflucht habe, beim Schreiben aber ständig über die sommerliche Provinz herziehen musste, obwohl ich mir in dem Moment nichts Schöneres vorstellen konnte als die Moselgegend im Juni. Rituale habe ich nicht. Ich bin ja absoluter Autodidakt, ich habe das alles nie gelernt, das Schreiben, das Singen, das Gitarrespielen. Da ist viel Trial and Error dabei, und das kann sehr mühsam sein. Ich merke es aber, wenn ich eine gute Phase habe, und in einer solchen versuche ich dann, soviel rauszuhauen, wie es geht. Da wird man zu einer Art Höhlenmensch. Dann höre ich meinem Gegenüber manchmal gar nicht richtig zu, kann kein Buch, keinen Film, keinen Songtext genießen, weil ich alles nur auf irgendeine Verwertbarkeit für meine Arbeit abchecke. Das ist wahrscheinlich relativ soziopathisch, aber nur so gelange ich zu den Ergebnissen, die ich mir so vorstelle. „Ein Leben als Schwamm“, wie es bei MUFF POTTER mal recht treffend hieß. Ich kenne diesen Zustand zwar schon vom Songtexteschreiben. Nur, dass ein Buch natürlich ungleich umfangreicher ist.