Seit über zehn Jahren spielt Nagel in der Punkband MUFF POTTER, bringt Platten heraus, geht auf Tour - und das "Wasted Paper"-Fanzine gab es auch noch. Über Wasser gehalten hat er sich in all den Jahren mit schlauchenden Nebenjobs bei Telefon-Hotlines oder in Fabriken. Jetzt hat er all diese Erfahrungen in dem Buch "Wo die wilden Maden graben" zusammengefasst. Herausgekommen ist ein teils fiktiver, teils autobiografischer Roman, der die Hochs und Tiefs eines Lebens zwischen Heim- und Fernweg beschreibt.
Wie ist dein Buch entstanden? Hast du nicht davor nur Kurzgeschichten geschrieben?
Das Buch ist aus all meinen Kurzgeschichten zusammengebastelt. Im Grunde besteht der Roman nur aus zusammengesetzten Fragmenten. Anfangs wollte ich gar kein Buch machen, sondern hatte nur all diese Storys auf meinem Computer. Mit den Jahren hatte sich das angesammelt und ich fand es ziemlich schade, dass es einfach nur so herumliegt. Allerdings wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Nach dem Ende vom Wasted Paper habe ich eben einfach weiter geschrieben. Irgendwann kam dann die Idee mit dem Buch. Dann habe ich die ganzen Fetzen miteinander verbunden.
Wieso gibt es das Wasted Paper nicht mehr?
Die Nummer acht war extrem hart - das Wasted Paper war ja sowieso immer ziemlich hart -, aber die Nummer acht hatte Adolf Hitler mit BLACK FLAG-Balken als Bart auf dem Cover, und der Inhalt stand dem Titel in nichts nach. Das war ein totaler Rundumschlag. Wir konnten das danach einfach nicht mehr toppen und hatten auch nichts mehr zu sagen. Weil wir alles schon gesagt hatten. Zwar haben wir das Wasted Paper nie offiziell aufgelöst, aber wir hatten einfach keinen Grund mehr, eine weitere Ausgabe herauszubringen. Nach einer Weile will man sich zu bestimmten Themen nicht mehr äußern. Wenn ich mir die alten Ausgaben heute durchgucke, steht da verdammt viel Krempel drin, den ich so nicht mehr vertreten kann. Ich bereue aber auch nichts davon, weil das damals eben passte. Inzwischen sehe ich das aber mit einem gewissen Abstand und lache darüber, wie naiv ich war. Oder über was für einen Scheiß ich mich aufgeregt habe, der mir heute vollkommen egal ist. Aber trotzdem ist meine Art zu schreiben für mich sehr fanzinemäßig geblieben. Ich bin kein professioneller Schreiber, ich bin totaler Autodidakt.
Allerdings ist dein Buch nicht so provozierend wie das Wasted Paper ...
Okay, aber das wurde beim Wasted Paper immer zu einfach gemacht, da wollten wir provozieren, und natürlich haben wir auch Leute angepisst, aber das war nie unsere allererste Intention. Es ging nicht auf Teufel komm raus darum, jemanden anzugreifen, sondern es ging darum, die ganze Scheiße in einem rauszulassen - ganz pathetisch gesagt -, sich zu artikulieren. Natürlich bin ich älter geworden und sehe nicht mehr alles ganz so schwarz-weiß, aber diese Intention ist in dem Buch und auch in MUFF POTTER-Texten noch immer ein ganz wichtiger Motor für mich. Eine Sprache für die Dinge zu finden, die einem auf den Sack gehen. Bei dem Buch ging es nicht darum, irgendwen anzupissen, aber natürlich passiert das auch!
Denkst du, dass das ein bestimmtes Licht auf MUFF POTTER wirft?
Ja, und auf gewisse Weise ist das auch richtig so, denn das Ganze wird schließlich aus meinem Blickwinkel erzählt. Ich gebe bei MUFF POTTER durch die persönlichen Texte schon sehr viel Einblick in mich selbst, aber durch so ein Buch natürlich noch sehr viel mehr. Natürlich sind da auch unangenehme Sachen dabei. Ich würde sonst vielleicht niemandem mal so nebenbei erzählen, wie toll es ist, auf Tour auf dem Klo zu onanieren. Aber ich habe versucht, nichts auszusparen, alles in seiner ganzen Komik und Tragik zu schildern. Das ist schon schwierig. Ich hätte viele Sachen gerne um meinetwillen - und auch um vieler anderer Leute Willen - rausgelassen, aber das ging eben nicht. Aber das Buch ist auch kein MUFF POTTER-Tourtagebuch, das muss man halt wissen.
Und wieso hast du dann nicht einfach ein Tourtagebuch geschrieben, sondern die Form des Romans gewählt?
Das wäre mir tatsächlich zu intim gewesen. Und das ist auch nicht der Aspekt daran, der mich interessiert. Der Reiz liegt für mich darin, mir eine eigene Sprache zu suchen, Geschichten zu erzählen. Und manchmal muss man da ein wenig nachhelfen, die Story aufpeppen oder kürzen oder vereinfachen oder ausmalen. Für mich sind auch nicht die einzelnen Geschichten in dem Buch so wichtig, sondern das Zusammenspiel, das sich am Schluss des Buches auflöst. Sich zu erinnern, um herauszufinden, wer man ist und was man überhaupt macht. Und wie viel Wert das alles eigentlich hat, wenn man bedenkt, dass man auch in einer Hotline sitzen und einen Scheiß-Nebenjob machen könnte. Das ist für mich der wichtigste Aspekt. Und den hätte ich bei einem simplen Tourtagebuch nicht reinbringen können.
Deshalb hast du auch die zwei Erzählebenen gewählt?
Genau. Am Anfang des Buches fragt man sich vielleicht noch, was der plötzliche Sprung im Text soll, aber irgendwann nähern sich die zwei Ebenen immer mehr an. Im letzten Kapitel gibt es dann eine Schlüsselszene, wo sich das Ganze vermischt und auch ein bisschen umdreht.
Am Anfang schreibst du von der Lethargie, die einen nach einer Tour überkommt. Gewöhnt man sich denn nie an die zwei verschiedenen Leben?
Nein, ich gewöhne mich da einfach nicht dran. Es gibt keinen Punkt, in dem ich mich einrichten kann, weil mein Leben nur aus Extremen besteht. Das finde ich oft gut und aufregend, aber oft macht es mich auch wahnsinnig. Aber ich will ja nicht anders leben: Gerade waren wir im Studio, dann war ich auf Lesereise, jetzt kommt das Buch raus, gerade gebe ich ein Interview und dann gehe ich wieder ins Studio, um zu singen. Natürlich ist das purer Stress. Daraus ergeben sich natürlich Widersprüche und ganz gegensätzliche Bedürfnisse: der Wunsch nach Ruhe, aber auch die Angst vor Ruhe. Diese ganzen Widersprüche zu thematisieren, war mir sehr wichtig. Ich habe da immer noch keinen Mittelweg gefunden. Ich bin mit Sicherheit nicht mehr so unausgeglichen, wie ich vor ein paar Jahren war, aber eine Lösung habe ich bis jetzt noch nicht gefunden. Und ich glaube, dass es diese Lösung nie geben wird. Wenn man in einer Band spielt, die einem wichtig ist, dann gibt es keinen Punkt, an dem man sich zurücklehnen kann. Man muss immer weitermachen, immer neue Sachen machen. Es gibt keinen Feierabend. Zwar findet man kurze Oasen, wo man mal Luft holen kann. Ich denke aber, in diesem ganzen Musik-Kosmos werde ich immer unter Strom bleiben müssen. Denn ich selbst will ja auch nur Musik von Leuten hören, die so leben.
Ist dann das Schreiben da eine willkommene Abwechslung, weil man dabei allein ist?
Das ist tatsächlich so. Vielleicht war das auch der Aufhänger dafür, dieses Buch zu machen. Ich kam von einer Tour nach Hause und brauchte eine Beschäftigung. Ich habe keinen geregelten Job, keine Familie, keine Beziehung. Ich wurde von einem Extrem ins nächste geworfen, vom Dauerstress in totale Langeweile. Ein Buch zu schreiben, ist natürlich auch reine Selbstbefriedigung. Aber auch knallharte Arbeit. Ich habe ein ganzes Jahr an dem Buch gearbeitet. Nicht konstant, aber ich habe schon mal zwei Wochen die Wohnung nicht verlassen. Aber es ist auch eine geile Arbeit. Das heißt nicht, dass jeder Moment total erfüllend ist, ganz viel ist auch frustrierend. Wenn man nicht weiterkommt zum Beispiel. Aber dann ist es wieder umso besser, diesen Punkt zu überwinden, den eigenen Schweinehund zu besiegen. Ich bin ja auch so wahnsinnig stolz auf dieses Buch! Manche versuchen, einem das als Arroganz auszulegen, das ist es aber nicht. Ich habe auch immer noch totale Freude an uralten MUFF POTTER-Texten. Hin und wieder schaue ich mir einen Text an und denke‚ das hast du ja ganz gut hingekriegt. Dann freue ich mich da auch drüber. Denn das ist ein Wert, der bleibt. Und von daher lohnt sich das auch. Ich würde sowieso schreiben, also kann ich auch was daraus machen.