MAXIMILIAN POLLUX

Foto© by Carolin Auer

Einmal Gangster und zurück

Dr. Watson ist eine französische Bulldogge, die mit ihrem Herrchen immer wieder vor unserer Haustür vorbeiläuft. Eines Tages wurde mir auf YouTube ein Beitrag empfohlen, auf dem ich Dr. Watson zu erkennen glaubte. Titel: „Wie ist es, zehn Jahre im Knast zu sein“. So lernte ich Maximilian Pollux kennen, der mit seiner Frau Catherina Huber vor knapp zwei Jahren SichtWaisen e.V. gegründet hat, um innovative Präventionsarbeit mit Jugendlichen zu leisten. Seitdem besucht Maximilian Schulen, Jugendeinrichtungen und Justizvollzugsanstalten, um Jugendlichen anhand seiner „Karriere“ als Gangster vor allem die Schattenseiten der Kriminalität bewusst zu machen.

Selbst als Jugendlicher von seinem Onkel instrumentalisiert, imponierte ihm das so, dass Maximilian Gangster werden wollte. Im Alter von nur 19 Jahren wurde er bereits mit internationalem Haftbefehl gesucht. Darauf folgten über zwei Jahre Flucht durch Europa, bis er in den Niederlanden gefasst, eingesperrt und nach Deutschland überführt wurde, wo er zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Davon hat er fast zehn Jahre abgesessen und war dabei in verschiedenen Gefängnissen untergebracht. Heute erarbeitet er in kriminalpräventiven Workshops und im geplanten Mentorenprogramm zur Einzelfallbetreuung Alternativen, um jungen Menschen seinen Weg zu ersparen.
Was ihn zu dem machte, was er damals war, wie es im Knast tatsächlich läuft, und wie er heute, sechs Jahre nach seiner Entlassung ist, erzählt Maximilian in seinem im Juni gestarteten YouTube-Blog. Mein Arbeitgeber ermöglichte mir, mit Maximilian Pollux und der Fotografin und Kamerafrau Caroline Auer Beiträge für seinen Blog im ehemaligen Gefängnis in Mainz zu drehen und dieses Interview zu führen. Was Maximilian über Haft, Strafe und Justiz denkt, wohin ihn sein Weg nach seiner Entlassung führte und wie auch Musik kriminelles Handeln beeinflussen kann, darum geht es in diesem Gespräch.

Im Nachhinein betrachtet, war deine Strafe angemessen?
Meine Strafe war im Rahmen des Gesetzes. Wenn ich an meinem Urteil zu bemängeln hätte, dann dass ich mit 19 vor dem Gesetz als Erwachsener galt. Im Kopf war ich ein Sechzehnjähriger. Ansonsten aber war die Strafe angebracht und entsprechend aller gesetzlicher Vorgaben, die mir im Vornherein hätten klar sein können.

Wie denkst du über die deutsche Justiz?
Der deutsche Strafvollzug fußt auf drei Grundsätzen. Erstens: Schutz der Allgemeinheit. Stellt jemand für andere eine Gefahr dar, ist das für mich der einzige Grund, jemanden in den Knast zu stecken. Sexualstraftäter sind zwar keine Gangster, aber als Triebtäter eine ständige Gefahr für die Gesellschaft. Der zweite Grund: Abschreckung. Gefängnis muss schlimm sein. Soll Abschreckung funktionieren, muss die Konsequenz unangenehm sein. Der dritte Grund ist die Resozialisierung. Im Gefängnis sollen Menschen darauf vorbereitet werden, nach ihrer Haft straffrei zu leben und wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Meiner Meinung nach widersprechen sich die Punkte Abschreckung und Resozialisierung, denn wie soll etwas Fürchterliches jemanden gleichzeitig zu etwas Besserem machen? Wir müssen als Gesellschaft weg von diesem Bestrafungsgedanken. Das ist ein Überbleibsel aus der Zeit von Auge um Auge, Zahn um Zahn, um Selbstjustiz zu verhindern. Der Gesellschaft wird das Gefühl vermittelt, dass Gerechtigkeit geschaffen wird, indem der Staat für den einzelnen Bürger straft. Wir alle sind uns einig, dass einem Dieb nicht die Hand abgehackt werden soll. So weit sind wir als Gesellschaft bereits. Andererseits aber sperren wir einen Dieb drei Jahre ein. In der Zeit verliert er jegliche Kontakte, seine Arbeit, seine Wohnung. Er kann sein Kind nicht sehen. Vielleicht wird er in der Haftzeit krank? Vielleicht verpasst er den Tod seiner Mutter? Man nimmt ihm also jegliche Perspektive und Zukunft. Das alles nehmen wir in Kauf, aber die Hand abhacken wollen wir nicht. Wir müssen uns als Gesellschaft davon lösen, als Antwort auf ein Vergehen zu strafen.

Gäbe es deiner Meinung nach Alternativen?
Modelle des Strafvollzugs, in denen es den Leuten nicht schlecht geht. Dass sie neben dem Freiheitsentzug die Möglichkeit haben, das Internet zu nutzen oder ihre Familie zu sehen, gerade die Menschen, die keine Gefahr für andere darstellen. Unter Umständen könnten wir viele Gefängnisse abschaffen, wenn ein Großteil der Drogen und der Drogenkonsum generell entkriminalisiert werden würden. Alle Ersatzfreiheitsstrafen, also Freiheitsstrafen für Geld, müssten verboten werden. Es ist nicht in Ordnung, wenn jemand etwas nicht bezahlen kann und dafür in den Knast muss, zudem die Gesellschaft dafür aufkommen muss, wenn du erst einmal ruiniert bist.

Was ist ein Gangster und wer sind die anderen im Knast?
Gangster sind Menschen, die sich mit dem kriminellen Lebensstil identifizieren. Sie übernehmen einen Kodex und bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Straftaten. Die anderen sind durch unglückliche Umstände in Haft geraten. Zum Beispiel war da ein Fahrer, dessen Fahrgast in eine Pension einbrach. Der Fahrer dachte, sein Gast wohne dort. Weder wusste der Fahrer, dass die Tür aufgebrochen worden war, noch dass dort Dinge geklaut wurden. Also galt er als Fahrer bei einem Einbruch. Oder eben Leute, die ihre Schulden nicht bezahlen können, durch wiederholtes Schwarzfahren in der Bahn oder Fahren ohne Führerschein. Sicher haben diese Menschen Verbrechen begangen, aber sie sind nicht kriminell, geschweige denn Gangster, denn letztere sind darauf vorbereitet, was dort passiert.

Und dieser Kodex definiert sich wie?
Ich begehe ganz bewusst Verbrechen, um mich zu bereichern. Sollte ich erwischt werden, mache ich keine Aussage. Ich weiß, was ich tue, kenne das Strafmaß und hadere auch nicht mit meinem Urteil.

Was ist das Faszinierende an einem Film wie „Der Pate“?
Ein Gangster ist ein Macher, lebt nach seinen eigenen Prinzipien, Regeln, Vorstellungen und hat alle Fäden in der Hand. Als junger Mensch übersieht man gerne das Ende: alle tot, allen geht’s schlecht und Michael, der Pate, bleibt trotz seiner großen Familie ein einsamer Mensch. Die reale Welt der Kriminalität ist einerseits ein bisschen Action, andererseits überwiegen Langeweile, Schmerz, Einsamkeit und Angst. Aus einer gewissen Distanz betrachtet ist so ein Film sehr spannend. So etwas allerdings nachahmen zu wollen, beweist einen extrem selbstdestruktiven Anteil in einem, der unbedingt anders befriedigt werden muss.

Du hast mit „Kieleck“ einen Roman veröffentlicht, der einen Justizvollzugsbeamten beschreibt. Was sind das für Menschen, die so einen Job ausüben?
Wie überall gibt es Gute und Schlechte. Wenn du keine Tiere magst, solltest du nicht als Tierpfleger arbeiten. Meiner Meinung nach sollten in einer JVA nur Menschen arbeiten, die auch ein gewisses Verständnis für Menschen haben. Aber wer arbeitet in einer JVA in einer ländlichen Gegend in Brandenburg oder in Bayern? Das sind oftmals Leute, die in der dritten Generation dort arbeiten, weil es eben ein sicherer Job ist in einer Gegend, in der es nicht so viele sichere Jobs gibt. Was aber nicht bedeutet, dass diese Menschen gut mit Menschen können. Ich denke schon, dass die meisten Beamten gute Arbeit machen wollen, was ihnen allerdings fehlt, ist eine pädagogische oder psychologische Ausbildung. Bei der Auswahl der Justizvollzugsbeamt:innen wird auf so etwas meiner Meinung nach wenig Wert gelegt. Seit ich meinen Blog habe, melden sich immer wieder auch Justizvollzugsbeamt:innen, die meinen Ausführungen gegenüber sehr positiv eingestellt sind, weil ich auch die andere Seite darstelle. Ich bin der Letzte, der nicht auch so einen Beamten verstehen würden, der mit den besten Absichten seine Arbeit angehen will, aber vom System aufgefressen wird. Entweder sagen die Kollegen, verbrüdere dich doch nicht mit den Gefangenen, oder aber die Häftlinge nutzen dich aus, weil du nett zu ihnen bist und sie dir nicht deinen kleinen Finger, sondern den ganzen Arm abreißen. Und so über Jahre hinweg zwischen den Stühlen sitzend, da wird auch ein Beamter mit bester Einstellung irgendwann zumachen. „Kieleck“ ist ein Hasswerk, aber ich würde es heute so nicht mehr schreiben. Kieleck ist ein Mix aus allen miesen Beamt:innen und bösartigen Menschen, die mir in der Haft begegnet sind. Heute würde ich das psychisch nicht mehr packen, mich über zweieinhalb Jahre lang mit so einer Figur zu beschäftigen. Zwischendurch habe ich das Skript weggelegt. Die letzten Seiten des Romans schrieb ich tatsächlich in der letzten Nacht meiner Haft bis vier Uhr morgens, während ich wieder einmal in Isolationshaft saß.

Konntest du in Haft einen Schulabschluss erwerben oder einen Beruf erlernen?
Es gibt Jugendgefängnisse, in denen du einen Schulabschluss machen oder einen Beruf erlernen kannst. Dann gibt es Gefängnisse, in die man verlegt wird, um die Mittlere Reife zu absolvieren. Meine Anstalt war eine Endstation für alte Leute, auch wenn ich weit unterm Altersdurchschnitt war. Solche Einrichtungen sind nicht dafür gedacht, noch einmal etwas zu lernen. Aber mit Unterstützung der Anstalt habe ich übers Telekolleg mein Fachabitur gemacht, was mir ermöglichte, als zweiter Gefangener in Bayern zum Bürokaufmann ausgebildet zu werden. Voraussetzung war jemand unter dreißig, ohne Ausbildung, aber seinen Namen sollte er schreiben können. Unter 850 Gefangenen gab es aber niemanden. Ein Lehrer bot mir deshalb an, wenn ich ihm verspreche, die Ausbildung durchzuziehen, werde ich dreieinhalb Jahre früher entlassen. Diese einmalige Chance war für mich der Anlass, aus der Subkultur auszusteigen. Das erste Mal in meinem Leben arbeitete ich, ein Vertrauensbeweis für die Lehrer und Pädagogen, ohne die ich nicht früher entlassen worden wäre.

Was hast du seit deiner Entlassung gemacht?
Traumatisiert durch die Verhaftung, dann die Haft, ist die Entlassung wie ein Schock. Die Zeit ist ja zwischen 2005 und 2015 nicht stehengeblieben. Ich musste das Internet, Facebook, Instagram oder YouTube erst entdecken und bin jetzt selbst bei Letzterem aktiv. Wie die meisten, die aus dem Knast entlassen werden, ging ich in die alte Heimat zurück, in meinem Fall zu meinen Eltern nach Nürnberg. Das erste Jahr war für mich die Hölle. Innerlich zerrissen, paranoid bei jeder Polizeisirene, der Türklingel meiner Eltern, es erinnerte an alles Schreckliche. Obwohl meine Entscheidung stand, nicht mehr kriminell zu werden, war das leichter gesagt als getan. Keine Ahnung, was es heißt, normal zu arbeiten. Also versuchte ich mich im Pokerspiel. Dann wollte ich Buchautor werden, aber wer sollte mein Buch verlegen? Verleger:innen kenne ich nicht, aber Gangster, über die ich im Rotlichtmilieu jederzeit einen Puff hätte übernehmen können. In dieser Zeit lernte ich glücklicherweise meine Frau kennen. Sie nahm mich so, wie ich bin, allerdings mit der Bedingung, mein altes Umfeld Nürnberg zu verlassen. Wir sind nach Mainz gezogen und haben uns hier einen komplett neuen Bekannten- und Freundeskreis aufgebaut. Seitdem arbeite ich daran, ein positiver Typ zu sein, und wie ich etwas Gutes und Cooles machen kann, und betrachte die Gesellschaft nicht als Feind. Und es kam das erste Mal positive Aufmerksamkeit zurück. Als ich mit den Workshops in den Schulen begann, erfuhr ich das erste Mal außerhalb des Elternhauses positives Feedback, was sich besser anfühlt als Strafe. Das alles musste ich als Sozialunternehmer unseres Vereins SichtWaisen e.V. erst lernen.

Wirst du bedroht, da du mit den SichtWaisen für die andere Seite arbeitest?
Ich arbeite nicht für die andere Seite. Der wesentliche Unterschied ist, etwa bei Aussteigerprogrammen, dass die Leute die Brücken komplett abbrechen und teilweise, um Anschläge zu verhindern, mit der Polizei zusammenarbeiten. Zehn Jahre Haft sind eine lange Zeit. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand, mit dem ich vor der Haft Probleme hatte, eine scheinbar noch offene Rechnung mit mir begleichen möchte, zudem das ja selbst alles Gangster sind oder waren. Außerdem habe ich nie gegen irgendjemanden ausgesagt oder in irgendeiner Form kooperiert. Das wissen alle von früher, die mich kennen. Ich sehe mich mit den SichtWaisen als Brücke zwischen beiden Seiten, auf der beide aufeinander zugehen können, um sich in der Mitte zu treffen. Wir möchten für niemanden Partei ergreifen. Ich habe auch heute noch ein Herz für alle Gangster, die ich kenne. Es macht mich traurig, dass ich sie nicht erreiche, aber es ist nicht so, dass ich die Ideologie dahinter gar nicht mehr verstehen würde – mit einem Unterschied: Heute weiß ich, dass sie falsch ist. Ich bin ein Ex-Häftling, war zehn Jahre lang Häftling und kein Gangster. Im Knast machst du haftinterne Sachen.

Was ist aus den Mithäftlingen geworden, die du im Gefängnis kennen gelernt hast?
In der Haft hatte ich mit der Elite und nicht mit den Taschendieben zu tun. Die Rückfälligkeit der Leute, die ich in der Haft kennen gelernt habe, liegt bei 50%. Die einen sagen, das Business ist kacke, und machen was anderes. Und die sind alle erfolgreich in dem, was sie heute tun. Und sei es „nur“ im ideologischen Sinn wie ich. Wir haben im letzten Jahr viel bewegt und konnten mit 3.500 Schülerinnen und Schülern arbeiten. Wenn du ein guter Krimineller warst, kannst du im richtigen Leben viel erreichen. Wenn du mit dem Stress als Krimineller klarkommst, bekommst du draußen auch alles gut hin. Du musst klug und schnell sein und viele Fähigkeiten haben, damit bist du auch im normalen Berufsleben eine Maschine. Heute will mich niemand mehr umbringen oder verhaften. Das macht meinen Job sehr viel einfacher. Die andere Hälfte ist recht schnell wieder straffällig und kriminell geworden, egal ob sie momentan noch frei oder bereits wieder in Haft sind.

Deine Mutter hat dich mit 17 rausgeworfen. Was rätst du Familienangehörigen, wenn jemand auf die schiefe Bahn gerät?
Meine Eltern haben immer zu mir gestanden. Das kann ich nicht jedem raten, weil das nicht immer die richtige Entscheidung ist. Bei mir ging es nicht nur ums Geld. Ich wollte ein Abenteuer erleben, mir einen Namen machen und gefürchtet sein. Sucht euch Hilfe, sprecht mit anderen Menschen darüber, teilt eure Sorgen und, vor allem, schämt euch nicht. Meine Eltern haben alles für sich behalten und Lügen wie „Maximilian studiert in Spanien“ aufrechterhalten. Mit den SichtWaisen wollen wir mit ehemaligen Tätern und den Angehörigen ins Gespräch kommen, um Probleme anzugehen und zu lösen.

Holt dich bei deiner Arbeit auch mal deine Vergangenheit ein und wie macht sich das bemerkbar?
Ich leide an posttraumatischen Belastungsstörungen. Es vergeht kein Tag, an dem mich nicht etwas triggert. Früher habe ich mich bei einem Polizeiauto wie ein Reh in Schockstarre verhalten, griff instinktiv nach einer Waffe, die nicht mehr da ist, fühlte mich schutzlos und bekam Angst. Das ist heute nicht mehr so. Wenn ich an einer Kreuzung warte, schaue ich, wer hinter mir ist oder welche Autos in der Straße parken, und achte auf Dinge, die andere nicht wahrnehmen. Wenn ich auf eine Gruppe zugehe, schaue ich, wer von ihnen eine Waffe tragen könnte. Ein offenes, kurzärmliges Hemd ist gefährlich, da kannst du schnell an dein Gürtel- oder Schulterholster kommen. Das ist alles sehr anstrengend, weshalb ich in der Therapie an mir arbeite.

Wie viele Mitarbeiter:innen sind für SichtWaisen tätig?
Derzeit arbeiten wir mit zwei Festangestellten und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen. 2021 werden wir eine weitere Vollzeit- und zwei Teilzeitstellen schaffen. Wir haben den Verein mit 15 Leuten gegründet, mittlerweile sind es 120 Vereinsmitglieder.

Wie wird man Mentor?
Die Ausbildung wird im kommenden Jahr beginnen, umfasst zwölf Module und ist für Menschen konzipiert, die nicht aus dem Fachbereich Pädagogik kommen, um an die Jugendarbeit herangeführt zu werden. Mentoren müssen über Szenewissen verfügen und eine eigene Geschichte haben, die sie normalerweise daran hindern würde, in so einem Umfeld zu arbeiten. Egal, ob Drogen, Gewalt, Kriminalität, Magersucht, Heim-beziehungsweise Straßenkind, wir sprechen bei den Mentoren über Menschen, die kein Erziehungswissenschafts- oder Sozialpädagogikstudium absolvieren konnten. Mittels Szenewissen kommen die Mentoren mit den Jugendlichen ins Gespräch. Als Mentor muss man mit seiner Vergangenheit vollständig abgeschlossen haben. Ein Mentor könnte jemand wie ich sein. Oder jemand, der Gewalttäter war und heute Boxtrainer ist, eine ehemals magersüchtige und selbstzerstörerische Frau, die heute glücklich mit ihrem Äußeren ist. Mentoren müssen straffrei sein. Alles Weitere finden wir im persönlichen Gespräch und in der Ausbildung heraus, ob jemand dafür geeignet ist oder nicht. Mentoren erhalten Aufwandsentschädigungen, sind also ehrenamtlich tätig. Langfristig sollen dafür finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Um die Jugendlichen zu finden, mit denen die Mentoren später arbeiten sollen, gehe ich bislang in Schulen. In Jugendhäusern habe ich bereits die Informationen der dort tätigen Sozialarbeiter:innen. Wir als Verein sind auf die Mitarbeit der Bewährungshelfer:innen und Jugendrichter:innen angewiesen, um zu erfahren, wo welcher Mentor einen gefährdeten Jugendlichen unterstützen könnte. In der Online-Sprechstunde melden sich auch die Jugendlichen selbst bei uns. Es sind aber auch Freund:innen oder Familienmitglieder mit ganz konkreten Fragen. Vor allem Anfragen der Eltern sind sehr zeitaufwändig. Leider ist es oft schlimmer, als es die Eltern wahrhaben wollen. Psychische Probleme und Krankheiten spielen eine große Rolle. Um hier anzusetzen, sind ärztliche Maßnahmen vorrangig. Dann gibt es aber auch Fälle, in denen Eltern überreagieren, während wir im Gespräch mit dem Jugendlichen feststellen, dass wir es hier mit Haschisch und nicht mit Heroin zu tun haben. Irgendwo in der Mitte wird der Mentor tätig.

Mit wem arbeitet der Verein zusammen?
Momentan sind das bundesweit 150 Schulen sowie Jugend- und Jugendhilfeeinrichtungen, Jugendarrestanstalten und Jugendgefängnisse. Wir arbeiten auch eng zusammen mit einem Programm für jugendliche Intensivstraftäter namens „Kurve kriegen“, das über das Innenministerium Nordrhein-Westfalen läuft. Ein Polizist ist hier Sozialarbeiter mit einem konkreten Fall, bei dem ich als Brücke zwischen beiden ins Spiel komme.

Wie reagieren die Pubertierenden oder jungen Erwachsenen auf dich?
Kommt ganz darauf an, welche Art von Präventionsarbeit ich mache. Gehe ich in eine Schulklasse eines Gymnasiums in irgendeinem Vorort einer Kleinstadt, ist die Reaktion eine andere, als wenn ich in einem Brennpunktviertel in einem Jugendhaus bin. Von Schock über Mitleid bis hin zu Respekt und Zuneigung ist alles dabei, obwohl ich manchen von ihnen sage, dass es scheiße ist, was sie gerade machen. Bei denen, auf die ich eigentlich hauptsächlich abziele, sprich: gefährdete oder bereits straffällig gewordene Jugendliche in der sekundären oder tertiären Prävention in Gefängnissen, reagieren die meisten mit: „Was will der denn jetzt hier?“ Aber im Laufe meiner Geschichte ändert sich die Einstellung mir gegenüber, so dass man mir zuhört, vielleicht auch vertraut und meine Expertise annimmt. An den Motiven erkenne ich die Leute. Da gibt es die Jugendlichen, die einfach mal, um cool zu sein oder weil sie dazugehören wollen, ein Verbrechen begehen. Manche wollen Geld haben, andere sind einfach neugierig. Bei den Intensivtätern kommen andere Motive hinzu: nie wieder Opfer sein wollen, gefürchtet sein, Macht haben, übrigens auch Motive, die ich bei Leuten beim BKA, LKA oder SEK, sprich: bei Polizist:innen immer wieder feststelle. Mittlerweile habe ich auf beiden Seiten Freunde und weiß, dass die sich in so vielen Dingen ähnlich sind. Gefährdeten Jugendlichen müssen wir eine Alternative anbieten können, um in den nächsten Jahren mit Mentoren als deren großer Bruder und Ansprechpartner dauerhaft arbeiten zu können. Das wäre mein Wunsch.

Wie viele kriminelle Frauen hast du kennen gelernt?
Dutzende. Wenige Frauen werden zwar als Gewalttäterinnen bestraft. Auch wenn hier eine Steigerung feststellbar ist, arbeiten sie eher als Kuriere für Drogen und Waffen. Außerdem bieten Frauen die optimale Infrastruktur, wenn es sich um kriminelle Familien oder Clans handelt. Zwar tragen Frauen selten eine Waffe, aber sie verstecken Waffen, Drogen oder Geld und entsorgen Beweismittel. In meinem konkreten Fall waren sieben junge Frauen als Kuriere beteiligt.

Zurück in die Zeit deiner Kriminalität. Welche Bands oder Künstler:innen haben dich während deinen kriminellen Jahren zwischen 13 und 21 begleitet?
Am Anfang waren das KORN und RAGE AGAINST THE MACHINE, auf deren Konzerte ich auch ging. Aber dann überwog HipHop und ich hörte viel Underground aus den USA. Ich habe mir da Sachen von Messy Marv oder Douchebag aus Philadelphia oder Oakland schicken lassen.

Haben dich die Texte zu deinem Handeln animiert?
HipHop war für mich Kriegsmusik. Ich hatte die Texte vom Überfallen und Erschießen eines Menschen oder vom Crack verkaufen im Kopf. Damals hat mich das vor jedem Überfall extrem gepusht. DMX war wichtig für mich und habe ich viel gehört. Das Album – darin geht es nur um Mord und Todschlag – wurde drei Mal mit Platin ausgezeichnet.

Was an den Texten kannst du bestätigen, was ist gefährlich oder lächerlich?
Die Übergänge sind fließend. Es gibt Künstler, die Gangster waren und dann angefangen haben, Musik zu machen, wie zum Beispiel 50 Cent. Als er mit Musik richtig Geld verdiente, hat er nicht mehr gedealt. Oder der deutsche Rapper Xatar, der einen Goldtransporter überfallen und dafür siebeneinhalb Jahre Gefängnis bekommen hat. Musik wurde sein Geschäft. Xatar hat heute sicher kein Interesse mehr, einen Raub zu begehen, aber er spricht in seinen Texten davon. Sobald sie von etwas anderem gut leben konnten, spielte Kriminalität für sie keine Rolle mehr. Natürlich ist das Imagepflege, die für nicht wenige Jugendliche uninteressant ist. Andererseits ist diese Jugendbewegung nicht natürlich gewachsen, sondern wurde von Firmen geschaffen. Jedes Kind weiß heute, was Gucci ist, weil HipHop kommerzialisiert wurde. Samra wird von Marlboro gesponsort und ist deren Aushängeschild, da ja Zigarettenwerbung nur noch sehr eingeschränkt möglich ist. Also raucht Samra auf jedem dritten Bild eine Marlboro und lässt so etwas in seine Texte einfließen. Sein letztes Album heißt „Marlboro Rot“ und mit dem Coverartwork assoziiert man sofort die Zigarettenschachtel. Wenn man mit Plattenverkäufen nicht mehr das erwartete Geld erwirtschaftet, dann eben mit Sponsorendeals. Ein Gangster braucht viele Sachen, da er extrem materialistisch ist. Jugendliche brauchen und wollen das nicht. HipHop ist derzeit das Vehikel, um Markennamen unter die jungen Menschen zu bringen und deren Konsumverhalten zu beeinflussen. Angefangen hat das alles mit Hennessy, diesem uralten eingestaubten Likörhersteller, den dank Tupac, da immer wieder in seinen Texten vorkommend, heute wieder jeder kennt. Und viele realisieren nicht, dass ein Capital Bra auch nur Performer ist. Bei aller Medienpräsenz, macht doch auch mal ein Video, auf dem ihr euch normal verhaltet. Zu Hause auf der Couch einfach mal nett zu seiner Freundin oder seiner Familie sein, damit die Jugendlichen lernen, zu differenzieren. Kids erzählen mir vom Rapper 18 Karat, der eine goldene Maske trägt, weil er mit Haftbefehl gesucht wird. Sie hören Texte von Mord, Drogenhandel und Entführungen und glauben tatsächlich, der Typ sei wegen dieser Maske echt? Dabei würde ihn die Polizei bei irgendeinem Gig doch sofort festnehmen und ihm die Maske vom Kopf reißen. Surreal! Einerseits sehe ich Künstler:innen in der Verantwortung, andererseits soll Kunst auch Kunst bleiben. Nehmen wir den Rapper Kontra K, bei dem sich alles um Sport und Self-Improvement dreht, was eine schöne Antwort auf all das Destruktive ist. HipHop ist Unterhaltung und kein Spiegel der Realität. Während man die englischen Texte vielleicht nicht immer zu 100% verstanden hat, laufen die deutschen Künstler:innen Gefahr, dass man ihnen alles wortwörtlich abnimmt. Die Sprachbarriere lässt es dann doch nicht so echt, nah und unmittelbar wirken. Lass mal jemanden die Texte von Frank Zappa auf Deutsch singen. Dann ist da noch der Realness-Anspruch, bedeutet im HipHop, wenn ich schon davon erzähle, habe ich auch Drogen und ein Messer dabei, das ich auch benutzen würde. Wenn du so etwas hörst und von dir behauptest, „real“ zu sein, es aber nicht bist, dann bist du in manchen Kreisen der Arsch. Wer kein Opfer sein will, muss hart sein, auch junge Mädchen. Willst du nicht langweilig rüberkommen, verhalte dich wie eine Bitch, schön und cool, während Typen sich über Klamotten, Autos oder Uhren definieren. Für manche Jugendliche eine ganz gefährliche Entwicklung. Es hat alles einen Preis, und der ist wichtig.