Never mind the Tagesaktualität: Mag ja sein, dass die sonstige Musikpresse die AT THE DRIVE-IN-Nachfolger MARS VOLTA anlässlich ihres neuen Albums „Francis The Mute“ schon vor Monaten abfeierte – der Genießer wartet ab und schnappt sich die Band respektive Omar Rodriguez abseits von Interview-Tagen, wo selten Zeit ist, um ein ausführliches Gespräch zu führen. Und so kann man ironischerweise von Glück reden, dass Cedrik zum gegebenen Interviewtermin erkrankte und an diesem Abend der armen Sarah Kuttner einen Korb für den geplanten Livegig in ihrer Show gaben. Omar nahm sich deshalb sehr viel Zeit und konnte ein sehr unverkrampftes und persönliches Interview genießen. Es machte ihm sichtlich Spaß mal nicht nur über das neue Album zu sprechen. Man plauderte also über alte AT THE DRIVE-IN Zeiten, aus denen man sich noch aus dem Monheimer Sojus 7 kannte. Es entstand ein aufschlussreiches und persönliches Gespräch, indem er über Freundschaft, Probleme seiner Wurzeln und seiner damaligen Immigration in die USA spricht und mit Vorurteilen über seine Band aufräumt.
Bezüglich der Entstehungsgeschichte eures neuen Albums „Frances The Mute“ habe ich zwei verschiedene Versionen gehört. In der einen heißt es, dass euer Album im Prinzip die Eindrücke eurer letzten Tour widerspiegelt, eine Art Reisetagebuch. Außerdem hörte ich, dass euer verstorbenes Bandmitglied Jeremy Ward, der als so genannter „Repo Man“ gearbeitet hatte, bei seiner Arbeit ein Tagebuch fand und euch dieses Tagebuch zur Musik inspiriert hat. Welche Version stimmt?
„Sie stimmen beide. Als Jeremy dieses Tagebuch fand, haben wir uns sehr stark von den Geschichten darin inspirieren lassen. Es ist nicht so, dass wir den Inhalt eins zu eins kopiert haben, eher haben wir das, was wir dabei empfanden, als Einfluss für unsere Musik benutzt. Außerdem hatte ich auch dieses merkwürdige Bild von Jeremy im Kopf, der in dem Tagebuch dieses Mannes plötzlich so viele Gemeinsamkeiten zu diesem Menschen fand, der auch ein ‚Repo Man‘ war und auch wie Jeremy adoptiert. Dieser Mensch erzählte dann in diesem Tagebuch, dass er nach seiner Familie suchte, was Jeremy selbst immer gemieden hat. Wenn man von einem der Themen dieses Albums sprechen will, dann ist es wohl auch die Suchen nach seinen Wurzeln. Letztendlich hat Jeremy dann dieses Tagebuch für diese Person zu Ende geschrieben, was ein sehr merkwürdiges Bild für mich war. Aber es geht in unserer Musik weniger um konkrete Inhalte, als vielmehr um eine bestimmte Atmosphäre und bestimmte Gefühle. Schöne Ereignisse, die passieren und auf eine ganz persönliche Ebene zurückverweisen, wenn man an eine bestimmte Zeit zurückdenkt. Besondere Gerüche, Musik, die wir gehört haben, Freunde, die ein Teil unseres Lebens waren und es nun nicht mehr sind. Diese ganzen verschiedenen Länder und Sprachen, diese ganzen Emotionen, der Tod, das Leben, all das waren Einflüsse. Das war noch zu der Zeit, als ich mit AT THE DRIVE-IN auf Tour war. In den letzten zwei Jahre ist in meinem Leben einfach soviel passiert, da kann man das Tagebuch von Jeremy eher als eine Art Skelett sehen, und die anderen Eindrücke ergeben dann die Körperteile, so dass man alles in allem dann einen großen Frankenstein erhält. Deshalb ist es in Interviews sehr schwer, das zu erklären. Darum gibt man den einen die einfache Version, den anderen die Tagebuchversion, und manchmal kann man dann auch die ganze Geschichte erzählen.“
Dennoch kann man sich das schon so vorstellen, dass ihr mit einer bestimmten Idee und einem bestimmten Konzept an das Schreiben der Songs herangegangen seid, oder?
„Ja, es hat sich trotzdem erst alles entwickeln müssen. Wenn man anfängt, an einem großen Projekt wie einem Album oder einem Film zu arbeiten, versucht man, sich anfangs an etwas festzuhalten, sonst verliert man sich ja selbst in seinem eigenen kreativen Chaos. Als ich das Album zusammenstellte, hatte ich quasi eine große Sammlung von ca. 30 bis 40 Songs, aus denen ich mir fünf heraussuchen konnte, bei denen ich dachte, dass diese gut zusammen passen könnten, da sie thematische Gemeinsamkeiten für mich hatten. Cedriks Lyrics runden dann das Gesamtbild ab, wobei das ja Worte sind, die immer mit einer konkreten Bedeutung und bestimmten Bildern verbunden sind. Im Gegensatz zur Musik. Deshalb musst du dich an bestimmten Punkten festhalten, damit nicht alles zu chaotisch wird. Als wir also anfingen, die Platte einzuspielen, kamen während des Aufnahmeprozesses unsere Erinnerungen von der Tour und dem Tagebuch hoch. All das kam in einer Zeit zusammen, wo wir uns eigentlich auf das Album konzentrieren wollten. Und das ist das größte Problem: Die unendlichen Möglichkeiten. Aus dem Grund arbeiten manche ja fünf Jahre lang an einem Album, da man alles immer weiter verändern kann. Wenn du darüber aber Kontrolle haben möchtest, musst du einen gewissen Plan ausarbeiten.“
Wenn man eure Musik hört, erkennt man viele Einflüsse von Musik aus den letzten 40 Jahren. Gibt es irgendwelche aktuelleren Einflüsse?
„Großen Einfluss auf meine Musik haben hauptsächlich Filme wie z. B.
‚Ichi the Killer‘, ‚Donnie Darko‘ und ‚Eternal Sunshine of a Spotless Mind‘, der mich wieder wirklich an das moderne Kino hat glauben lassen. Es gibt zwar viele tolle Filme und Alben, die aber meistens nicht über die Oberfläche herausragen. Mit diesem Film ist es gelungen. Aber Dichter wie Saw Williams sind auch sehr inspirierend. Mein musikalisches Interesse gilt zur Zeit mehr elektronischer Musik wie z. B. CINEMATIC ORCHESTRA oder Roni Size. Was mich momentan sehr an Gitarrenmusik stört, ist dass fast alle nach Vergangenem klingen wollen. Wir haben so eine lange Kunstgeschichte hinter uns, in der Menschen sich ausdrücken wollten, so dass nicht mehr viel übrig bleibt, um etwas Neues zu schaffen. Für mich ergibt sich als Möglichkeit, diese verschiedenen Elemente zu kombinieren, moderne elektronische Elemente mit denen aus der Vergangenheit, in der Hoffnung, dass etwas Neues daraus entsteht – anstatt einfach nur nach VELVET UNDERGROUND klingen zu wollen. Das interessiert mich nicht wirklich. Mich interessiert z. B. die Bandbreite der dynamischen Frequenzen, die moderne Aufnahmestudios bieten können, aber auch, wie man früher Songs aufgenommen hat. Mir gefällt eine neue Mischung aus verschiedenen Ideen. Ich halte unsere Musik für sehr modern. Der Lehrer eines meiner Freunde hat mal gesagt: Du kannst niemals etwas Neues machen, indem du alles neu machst. Du kannst jedoch etwas altes nehmen und dann neu erfinden, anstatt nur etwas altes zu nehmen und es alt zu lassen.“
Was begeistert dich denn jetzt genau an Musik aus der Vergangenheit?
„Eigentlich alles! Viele Leute fühlen sich immer einer Szene zugehörig, die sagen, sie mögen nur Hardcore oder andere, die ausschließlich 70er Krautrock in ihrer Plattensammlung haben. Und dann gibt es Menschen, die einfach nur Musik lieben, die über Szenen hinwegsehen und sich nicht nur durch Buttons und Patches definieren und einfach nur die Musik hören, die sie gerade hören wollen. Und es wird immer gute Musik geben ... Für mich heißt das, dass ich auch russischen Folk hören kann, wenn es mich anspricht. Es gibt jede Menge guten Hip-Hop, gute Klassische Musik oder Popmusik. Ich werde oft in Interviews gefragt, ob ich irgendeine Art von Popmusik mag, weil sie denken, dass ich die nicht mag, nur weil ich diese Art von Musik mache. Das ist totaler Blödsinn. Ich mag jede Art von Musik. Es gibt in jeder Musikrichtung Gutes und Schlechtes. Andere sagen mir, dass wir sehr nach den 70ern klingen, vielleicht, weil Künstler, Filmemacher und Musiker in dieser Zeit die größte Freiheit besaßen. In den 50er und 60ern stand Musik vollkommen unter Kontrolle der Radioindustrie, bis Ende der 60er das ‚Goldene Zeitalter des Radios‘ den Bach hinunterging und die Labels den Künstlern immer mehr Macht gaben. Nur aus diesem Grund gab es Bands wie LED ZEPPELIN oder YES, die auf einmal Songs spielen konnten, die 20 Minuten lang waren. Dem Film erging es zeitgleich ebenso. Man hatte vorher immer mehr Geld für Schauspieler und Schauspielerinnen ausgegeben, die alleine aber keinen guten Film ausmachen. Deshalb gab man den Regisseuren die Macht und auf einmal entstanden in den 70ern grandiose Filme wie ‚Easy Rider‘ und Regisseure wie Francis Ford Coppola konnten sich einen Namen machen. Gleich einer Wellenbewegung bekamen die Produzenten und Labels in den 90ern wieder die Macht. Deshalb hoffe ich, dass man aufgrund der miserablen Situation der Plattenindustrie vielleicht die Musiker wieder verstärkt einfach machen lässt. Wer hätte denn gedacht, dass eine Band wie MARS VOLTA vor 2000 Menschen zwei Songs in eineinhalb Stunden spielen kann. Keiner weiß warum, aber es funktioniert.“
Als du und Cedrik das erste Mal Musik zusammen gemacht habt, wie hat sich das angehört?
„Wir waren da zwölf oder dreizehn, und für mich hat es sich sehr natürlich angehört. Ich weiß, dass ich mich dabei sehr wohl gefühlt habe. So als ob zwei Menschen von einem Stamm, die durch eine Naturkatastrophe getrennt waren, sich wiedergefunden hätten und erkannt haben, dass sie ja eigentlich dieselbe Sprache sprechen. Es hat sich ungefähr so angefühlt, als wenn die ganze Welt krank und verrückt geworden wäre, und du und dein bester Freund sich fragen, ob sie das überleben würden. Einer von uns würde sagen: Lass uns auch verrückt werden, aber vorher ein Zeichen auf unsere Stirn malen. So können wir uns wenigstens wieder erkennen. Wir würden uns dazu entschlossen haben, verrückt zu werden, doch alle anderen sind einfach verrückt geworden. Und so war es wirklich, wir wurden getrennt, aber haben uns dann irgendwie wieder erkannt.“
Würdest du zu deinen eigenen Konzerten gehen? Ich meine, es gibt ja viele Musiker, die nie ihre eigene Musik zu Hause hören würden.
„Ich würde uns sogar zehnmal sehen wollen. Jeder Musiker, der dir erzählt, dass er seine eigene Musik nicht mag, lügt und hat Angst vor irgendwas. Warum etwas erschaffen, was du selbst nicht magst? Das ist, als wenn man sagen würde, dass man ein Kind hat, was man nicht liebt. Es gehört natürlich dazu, dass dir auch mal etwas peinlich ist, aber trotzdem musst du doch dazu stehen. Bei MARS VOLTA sehe ich es so, dass die Summe mehr Wert ist als die einzelnen Teile. Wenn ich die Band sehe, müsste ich sechs Menschen sehen, tue ich aber nicht. Ich sehe wahrscheinlich 13, weil es einfach viel mehr ist, als einfach nur die Menschen, die die Musik machen. Die Menschen stehen immer im Hintergrund. Wenn ich an unsere Band denke, dann sehe ich die Seele der Musik, die selbst soviel mehr ist. Ich würde gerne häufiger zu Konzerten gehen, bei denen Bands die ganze Zeit improvisieren und auch Fehler machen. Das ist die eigentliche und wirkliche Essenz von Musik. Wenn man normalerweise Bands spielen sieht, spielen sie meistens nur ihre Songs eins zu eins nach und jeden Abend ihre Setlist rauf und runter. Das würde sich für mich nicht wie Musik anfühlen.“
Was denkst du eigentlich, wenn du auf der Bühne stehst und spielst?
„Ich denke eigentlich an gar nichts, ich befinde mich dann in einem Rausch. Auch wenn es klischeehaft klingt, aber es fühlt sich für mich an, als wenn ich in einer anderen Dimension wäre, weil sich etwas öffnet und wir alle es erfahren können, als ob man z. B. unter Wasser wäre. Und die Leute im Publikum können sich dann entscheiden, ob sie darauf einsteigen oder nicht. Einige werden in uns aber nichts anderes als nur die Band sehen, also uns, weil sie sich nicht der Musik hingeben wollen. Andere können das und die sind mit uns unter Wasser und sehen, wie sich alles entfaltet, weil wir das auch tun. Manchmal wissen wir gar nicht, woher das kommt, denn wir sind nur das Medium dazwischen. Und die Menschen, die das mit uns erleben, sind auch die, die zurückkommen. Es ist aber auch okay, dass es andere gibt, die aber mit unserer Musik nichts anfangen können.“
Was glaubst du, empfinden Leute, wenn sie eure Musik hören? Oder interessiert dich so etwas eher nicht?
„Eigentlich habe ich darüber noch nie nachgedacht. Ich glaube oder hoffe, dass die Leute eine persönliche Verbindung zu unserer Musik aufbauen. Ich denke, irgendwie wird uns wohl jeder mit einer eigenen Bedeutung versehen. Manchmal kommen Menschen auf uns zu und erzählen uns, was sie über die Bedeutung bestimmter Lyrics denken. Und man sagt dann nur: ‚Stimmt, darüber habe ich noch nie vorher nachgedacht. Das meinten wir damit, danke!‘ Manchmal interpretieren andere aber auch viel tiefere Bedeutungen in etwas, als wir es eigentlich wollten. Im Grunde genommen sind wir nur wie Radiosender, die etwas empfangen. Wir sind die Menschen, die Dinge reflektieren, die schon lange vorher da waren und geben sie dann in unserer Form weiter.“
Man weiß ja, dass ihr nicht gerade Verfechter für das Herausbringen von Singles seid. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie du zu Musikvideos stehst, da man ja merkt, dass ihr mit euren neueren Videos in eine andere Richtung geht als mit euren älteren zu AT THE DRIVE-IN-Zeiten.
„Es hat bei uns sehr lange gedauert, bis wir die Idee von Musikvideos akzeptiert haben. Früher war es nichts anderes als Zeitverschwendung für uns. Nun, wo sich in meinem Leben Ideen geändert und weiterentwickelt haben, verstehe ich aber, dass Singles oder Musikvideos nichts anderes als Werkzeuge sind. Wir machen Alben, keine Singles. Wenn wir aber einen Film machen, würden wir ja auch einen Trailer dazu produzieren. Eine Single ist also nicht anderes als ein Trailer zu unserem Album. Man nimmt also einen kleinen Teil, auf den sich Menschen beziehen können. Trotzdem wird jemand, der unsere Platte aufgrund der Single ‚The Widow‘ kauft, sehr überrascht sein. Entweder wird es eine gute oder schlechte Überraschung für ihn sein. Beides ist in Ordnung. Eine andere Sache ist, dass ich schon lange Kurzfilme alleine oder mit Freunden zusammen mache. Oft schaffe ich es nicht Projekte wie diese zu Ende zu bringen, da ich so viel Zeit für MARS VOLTA brauche. Und ein Musikvideo ist etwas, wo mich das Label dafür bezahlt, meine Kurzfilme zu machen und die Band darin zu integrieren. Wir sehen es jetzt eher als ein Medium, das wir für uns neu entdeckt haben, um uns auf eine andere Art und Weise auszudrücken. Ich kann die Arbeit daran selbst gestalten, kann die Leute anstellen, die ich mag, kann selbst die Kamera führen. Außerdem bekomme ich jetzt endlich Deadlines, da solche Projekte direkt mit MARS VOLTA verbunden sind, was ein anderer Antrieb für mich ist, solche Sachen auch zu Ende zu bringen.“
Ihr werdet ja als ernste und auch politische Band gesehen. Wie wichtig ist aber für dich Spaß im Zusammenhang mit deiner Musik?
„Sehr wichtig! Ich glaube, das Problem mit unserer Band ist, dass wir so viele Konzepte und Ideen haben, in einem Zeitalter, wo fast alles nur Bullshit ist, das wir uns selbst ernst nehmen müssen. Das lässt andere vermuten, dass alles, was wir machen, ernst ist und eine bestimmte Bedeutung hat. Dabei wird vergessen, dass sehr viel in unserer Musik sehr humorvoll ist. Meistens handelt es sich dabei um Insiderwitze, die keiner außerhalb unserer Band versteht. Etwa bestimmte Songtitel, die sich für uns einfach lustig anhören. Oder Texte, die aus irgendwelchen Witzen zwischen mir und Cedrik entstanden sind, als wir Nächte lang nicht mehr geschlafen haben und wir völlig übermüdet und lachend auf dem Boden lagen und uns gedacht haben, dass wir das für einen Song benutzen sollten. Wir sind sehr humorvoll. Wenn z. B. Pressefotos von uns geschossen werden, ist es meistens sehr schwierig für uns, ernst zu bleiben. Die Fotografen stehen dann da und schießen weiter Bilder, aber komischerweise sind das dann nicht die, die später veröffentlicht werden. Schade eigentlich ... Es gibt nicht nur eine Seite an MARS VOLTA. Die Band ist nur so, wie wir als Menschen selbst sind, mal ernsthaft, mal traurig oder einfach nur albern.“
Als ich letztens eine Dokumentation über die BEATLES sah, wurde dort eine Szene gezeigt, in der ein Fernsehmoderator ziemlich stupide Fragen stellte. Eine der Fragen war folgende: Glaubt ihr, ihr würdet genauso viel Erfolg haben ohne eure Frisuren? Ich musste unwiderruflich an dich und Cedrik denken, da zu der Zeit, als AT THE DRIVE-IN den großen Erfolg genießen konnten, ja eigentlich mehr eure Haare als eure Musik Thema waren. Wie groß ist der Einfluss eines bestimmten Images auf eure Musik und wie wirkt sich das auf euch aus?
„Bist du bereit für eine lange Geschichte? Ja? Als ich von Puerto Rico in die USA kam war ich neun Jahre alt und ich erlebte diesen unheimlichen Kulturschock. Ich sprach kein Englisch. Es waren so viele weiße Menschen um mich herum mit so vielen anderen Kulturen. Dann kam ich natürlich auch auf eine amerikanische Schule und für viele dort sah ich anders aus, wegen meinem lockigen Haar. Das Problem bei meinem Haar ist, das wenn ich es länger wachsen lasse, es nicht nach unten wächst sondern nach oben und zur Seite. Dazu habe ich dunkle Haut und einen komischen Namen und man machte sich lustig über mich. In meiner Jugend, als ich mich dann als Person entwickelte und Punkrock für mich entdeckte, fing ich an, mich für meine Wurzeln zu schämen, was in Amerika normal ist, denn man versucht dich zu amerikanisieren. Deshalb bleichen und glätten sich die Leute ihr Haar, sprechen nicht ihre Muttersprache, und so weiter. Ich färbte dann auch meine Haare in allen möglichen Farben. Für eine Weile habe ich mich einfach selbst nur gehasst.
Als ich dann ungefähr 17 war, bin ich von der Highschool gegangen und verließ auch meine Eltern. Ich sagte ihnen, dass ich nicht mehr mit ihnen sprechen kann, weil ich einfach nicht weiß, wer ich bin. Also fuhr ich dann neun Monate per Anhalter durch das ganze Land. in dieser Zeit habe ich eine Menge durchgemacht. Ich wurde heroinabhängig und habe lange in einem Canyon gelebt. Dann haben wir später AT THE DRIVE-IN gegründet. Zwischendurch verzog ich mich dann wieder in den Canyon und lebte in den Wäldern von Beeren und Wasser. Ich habe dabei viele Sachen über mich gelernt. Ich begann, mich selbst wieder zu lieben und schämte mich meiner selbst nicht mehr. Irgendwann habe ich dann meine Haare abrasiert und meine ganzen Piercings herausgenommen und beschlossen, ab sofort nur noch ganz natürlich zu sein. Es war für mich also ein sehr prägendes und spirituelles Erlebnis, wieder meine Wurzeln zu umarmen und Puerto Rico wieder zu besuchen.
Als wir kurz danach mit AT THE DRIVE-IN bekannter und erfolgreicher wurden und die Leute uns auf einmal nur noch auf unsere Afro-Frisuren ansprachen, war ich sehr enttäuscht. Ich wurde nach all diesen sehr intensiven Erlebnissen mit diesen dummen Leuten konfrontiert, die nicht mal über unserer Musik reden wollten. Durch diese vorherigen positiven Entdeckungen, die ich machte, entwickelte sich ja auch meine Musik weiter. Ich spielte viel freier und neue Konzepte eröffneten sich für mich. Und was habe ich dafür zurückbekommen? Nichts! Absolut nichts! Es wurde über unsere Haare, über unsere Klamotten, über Drogen, die wir nahmen, warum wir so dünn seien etc. gesprochen. Das war wohl der herzzerreißendste Punkt in meinem Leben.
Dann haben wir mit AT THE DRIVE-IN versucht zu kontrollieren, welche Fragen uns in Interviews gestellt werden, wer die Fotos schießt und so. Der Punkt ist nur, dass du die öffentliche Meinung nicht kontrollieren kannst. Menschen werden sich immer ihren Teil denken, wer du bist, welche Konzepte du anstrebst. Du musst dich einfach nur damit zufrieden geben und aufgeben, alles kontrollieren zu wollen. Zum Glück sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, dass unsere Musik sich so weiterentwickelt hat, dass unser Image mehr in den Hintergrund tritt. Ich lese immer mehr Reviews, die sich mehr auf einem intellektuellen Level mit unserer Musik beschäftigen, anstatt über unser Image zu reden.“
Wie stellst du dir MARS VOLTA in zehn Jahren vor?
„Ich habe keinen blassen Schimmer. Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, wenn es MARS VOLTA in zehn Jahren noch geben sollte, dass wir so viel mehr als nur eine Band sein werden. Wir könnten alles Mögliche produzieren: Filme drehen oder Bücher schreiben, wie wir es ja schon zum Release unseres ersten Albums mit Cedrics ‚De-loused‘-Buch gemacht haben. Als wir diese Band gegründet haben, sagte ich zu Cedric, dass ich mit dieser Band wachsen wolle und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen möchte. So wie die meisten Bands es nicht tun. Die meisten beginnen mit einer Idee und bleiben immer dabei. Ich möchte Teil in einem Projekt sein, das sich immer verändern kann.
Es kann aber auch sein, dass wir morgen oder in zwei Jahren die Band auflösen werden. Ich versuche nicht darüber nachzudenken, da ich einfach weiß, dass Musik, Film, Freundschaften, Liebe, Sex und all diese Dinge immer in meinem Leben sein werden. Deshalb brauche ich mir darüber keine Sorgen zu machen. Ich genieße MARS VOLTA gerade so, wie es ist. Du darfst dir über solche Dinge keine Sorgen machen, sonst verlierst du nur zu viel Zeit. Ich war fünf Jahre lang mit meiner Freundin zusammen und ich war total verliebt in sie und wollte Kinder mit ihr haben. Als wir aber Schluss machten und ich im Nachhinein darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich viereinhalb Jahre lang meine Zeit damit verschwendet habe, mir darüber Sorgen zu machen, wann wir wohl Schluss machen würden, anstatt diese fünf Jahre einfach nur zu genießen. Mit MARS VOLTA ist es so, als wenn ich fünf Freundinnen hätte. Und ich will diese Zeit jetzt so genießen, wie sie ist. Ich hätte mir früher nie erträumt, dass wir mal so große Konzerte spielen würden, dass wir uns musikalisch so entfalten können. Das ist großartig. Ich weiß nicht, was ich sein werde, aber ich weiß, wer ich jetzt bin. Und irgendwann wird diese Zeit vorbei sein. Das ist auch gut so, denn Dinge müssen sich verändern.“
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