Und noch mal Kassel 2004: Auch Mark Perry war beim „Punk! Kongress“ anwesend, der Mann, der im London des Jahres 1976 mit dem „Sniffin’ Glue“ das wohl erste Punk-Fanzine auf dieser Seite des Atlantiks gründete – in New York gab es da schon das „Punk“, und der kürzlich verstorbene Greg Shaw machte das „Who Put The Bomp?“. Logisch, dass es einen als Fanziner in den Fingern juckte, diesen Mann mal zu interviewen, der ja auch die anderen Facetten des Musikgeschäfts kennen gelernt hat: Als Sänger und Gitarrist (und Elektronik-Tastenmann) macht er bis heute Musik, sowohl als DJ wie bei den 1977 gegründeten ALTERNATIVE TV, und einst gründete er auch das Label Step Forward Records, auf dem 1977 die ersten Singles von Bands wie THE FALL, CHELSEA und SHAM 69 erschienen. Heute lebt Mark Perry mit seiner Lebensgefährtin am Meer, schreibt – und macht immer noch Musik. Mark Perry erwies sich schon bei unserer ersten Begegnung als ein kauziger, aber sehr sympathischer Zeitgenosse, etwas grummelig und mit expliziten Meinungen, aber kein Stück verbittert oder verhärmt. Und so setzten wir uns nach dem Frühstück im Hotel noch ein Stündchen zusammen.
Mark, wie hast du den Kongress bisher empfunden, wie die Aussagen speziell eines Malcolm McLaren wahrgenommen?
„Malcolm hat einen ganz anderen Hintergrund, Mittelklasse und Kunstakademie, und so kommt sein Blick auf Punk eben aus einer ganz anderen Richtung. Und er ist ein ‚Mover‘, ein ‚Innovator‘. Okay, als ich damals mein Fanzine machte, wurde ich auch selbst zu so einem ‚Innovator‘, wobei ich zuerst ja nur ein Fan war, wie die anderen frühen Punkfans auch: Weiße Arbeiterkinder aus der Stadt. Und daraus ergibt sich, dass jeder von uns eine ganz andere Sicht auf Punk hat. Und deshalb kam ich mir gestern bei diesem Panel auch klein und unwichtig vor gegenüber den dort vertretenen Punks, die in der DDR und Osteuropa aufwuchsen. Für die war es damals wirklich gefährlich, ein Punk zu sein. Denn es war in den Siebzigern in London nicht gefährlich ein Punk zu sein, zumindest nicht gefährlicher als das Leben eines Teenagers auch sonst war, der nicht ganz angepasst war. Und so hat eben jeder sein eigenes Bild von Punk, seine eigene Definition, und das macht die Sache so interessant und hat sie so lange am Laufen gehalten – bis heute. Mit jeder neuen Generation von Punks kommt auch eine neue Definition, jede Generation hat ihre eigene Version von Punk, und egal ob man das nun mag oder nicht, so sollte man das akzeptieren. Ich meine, wir, die wir etwas älter sind, sollten uns nicht damit beschäftigen zu urteilen, was Punk ist und was nicht, denn uns gehört doch nicht die Welt.“
Aber Punk bedeutete doch auch schon immer, dass man sich abgrenzt, und das geht nun mal nur darüber, dass man auch Ausschlussdefinitionen aufstellt, also festlegt, was und wer Punk ist und wer nicht. Oder war das 1977 in London anders?
„Okay, stimmt schon, aber ich hasste diesen Tribalismus, diese Aufteilung in verschiedene ‚Stämme‘, schon damals. Manche Dinge, die ich damals gesagt oder geschrieben habe, bedauere ich heute, sie kommen mir rückblickend naiv vor. So Zeug wie ‚I hate hippies‘ und so. Es gab da schon ganz früh ein Schisma, eine ‚Kirchenspaltung‘, eine typische Sache für Jugendbewegungen in Großbritannien, weshalb ich auch so was wie die Studentenunruhen an der Kent State-Universität von 1970 in den USA bei uns in England für unmöglich hielt, einfach weil man zu sehr damit beschäftigt war, sich untereinander zu bekämpfen. Punks gegen Skins und so. Das mochte ich schon damals nicht, und das ist typisch für die britische Gesellschaft. Mir kommt es allerdings so vor, als habe sich das heute alles etwas geändert, als sei die Trennung der Jugendkulturen nicht mehr so streng. Ich sehe das bei meinem Sohn, der ist jetzt 16, und der hört so viel unterschiedliche Musik: Dance, Reggae, BEATLES, SYSTEM OF A DOWN, und so weiter. Es gibt nämlich nichts blöderes, als wenn du dir selbst verbietest, etwas zu mögen, nur weil es nicht in dein Weltbild passt.“
Warum bedauerst du heute, einst „I hate hippies“ gesagt zu haben?
„Weil ich mit Macho-Attitüde noch nie etwas anfangen konnte, und weil ich selbst wohl schon immer irgendwie auch ein Hippie war. Diese Idee, sich gegenseitig friedlich zu akzeptieren, gleich welche Meinung man vertritt, gefiel mir schon immer. Und irgendwie waren wir alle, die wir in den 70ern in England aufwuchsen, Hippies: Wir hörten vor Punk alle Prog-Rock, PINK FLOYD, EMERSON LAKE & PALMER, aber auch Rock’n’Roll wie THE WHO. Unsere Wurzeln lagen aber in dieser englischen Hippie-Szene der späten 60er und frühen 70er. Als ich anfing auf Konzerte zu gehen, hatte ich Haare bis zu den Schultern und trug einen alten Damenpelzmantel. Wir waren Freaks, ich und meine Freunde, große Frank Zappa-Fans, und Freaks waren keine Hippies, aber trotzdem. Und vor diesem Hintergrund entdeckten wir dann Punk.“
Aber so ein Stilmischmasch ist ja immer nur zu Beginn einer neuen Bewegung möglich.
„Das stimmt. Mein Trennung von Punk – als ich in die eine Richtung ging und Punk in die andere – fand statt, als die Punkszene immer mehr Hardcore wurde, während meine Band ATV und andere wie THE FALL, POP GROUP, RAINCOATS, WIRE damit nichts anfangen konnten. 1979/80 verstand ich Punk überhaupt nicht mehr, ich konnte das, was sich da als Punk ausgab, nicht mehr als Punk erkennen. Alles war so macho, ständig gab es Prügeleien, überall tauchten diese Skinheads auf. Das hatte für mich nichts mehr damit zu tun, was ich unter Punk verstand. Dabei fand ich es an sich ja gut, was Punk alles an Einflüssen aufgenommen hatte, und ich hatte auch nichts gegen diesen Mittelklasse-Art School-Einfluss, denn als Arbeiterkind hatte ich keine Berührungsängste, war allem und jedem gegenüber offen, redete gern mit Menschen. Ich war neugierig, sah Punk als Weg, meinen Horizont zu erweitern, ständig neue, interessante Menschen zu treffen. Ohne Punk hätte ich nie jemanden wie Jon Savage kennen gelernt.“
Interessant ist ja, dass es also von Anfang an nie diese eine Definition von Punk gab. Wenn man sich mit Leuten wie dir, Jon Savage, Malcolm McLaren, Colin Newman oder Mark E. Smith unterhält, bekommt man nie die eine, wahre Definition von Punk – und doch waren all die von Anfang an dabei.
„Natürlich, wir haben alle unsere eigene Geschichte. Und dann nimm nicht nur Londoner, sondern frag New Yorker und du bekommst noch mal andere Geschichten. Und das Spezielle an einer Stadt wie London ist ja auch, dass du es nicht nur mit Leuten zu tun hast, die dort geboren wurden und aufgewachsen sind, sondern von überall her in die Stadt kamen und sie so zu einer Brutstätte von neuen Ideen machten. Mein Kumpel Danny Baker und ich sind immer nach der Schule direkt ins Westend gefahren, um neue Platten zu kaufen, denn wir hatten das Glück, nicht in einem Provinzkaff leben zu müssen, abgeschnitten von allem. All diese Gründe führten dazu, dass Punk in New York und London ‚passieren‘ konnte.“
Da ich ja selbst ein Fanzine mache, interessiert mich natürlich, wie du dazu kamst, ein Fanzine zu machen.
„Also ich hatte die erste RAMONES-Platte als Import gekauft, auf Sire, nachdem sie Nick Kent im NME besprochen hatte. Die Beschreibung klang sehr interessant, gerade für jemand wie mich, der energetische Rockmusik wie DR. FEELGOOD mochte. Dann hörte ich die Platte, und das war was ganz anderes. Kurze Zeit später kamen die RAMONES dann nach London, spielten ein Konzert mit den FLAMIN’ GROOVIES. Natürlich ging ich da hin, und eigentlich bestand das Publikum dieses Konzertes nur aus Leuten, die kurze Zeit später irgendwie in der Punkszene aktiv wurden. Da ich kein Musiker war, aber irgendwas machen wollte, kam ich dann irgendwie auf die Idee mit dem Fanzine. Ich kannte vorher schon andere Fanzines, für Reggae, R&B und so weiter, und ich wusste von ‚Punk‘ aus New York – ich besaß alle Ausgaben – und ‚Who Put The Bomp?‘. Und es gab ‚Bamalam‘, ein schottisches Sixties-Fanzine, das leider nur ganz selten mal erwähnt wird, in dem solche Prä-Punk-Bands wie die ELECTRIC PRUNES erwähnt wurden. Diese Hefte waren meine Inspiration, und mit den simplen Möglichkeiten, die ich zur Verfügung hatte, machte ich mich dann selbst ans Werk. Dabei war ‚Sniffin’ Glue‘ schon ganz anders als ‚Punk‘, worüber ich mich auch Jahre später mal mit dessen Macher sehr freundschaftlich gestritten habe, als er sagte, ich hätte ihn nachgeahmt. Dabei war sein Heft ganz anders, richtig fröhlich, mit all den Cartoons und so. ‚Sniffin’ Glue‘ war dagegen völlig britisch, ein Heft wie aus der Gosse.“
Und wie ging das dann los?
„In der ersten Ausgabe schrieb ich über die RAMONES und die FLAMIN’ GROOVIES, in der zweiten über EDDIE & THE HOTRODS, das war dann im August 1976, es gab noch nicht viele Band. THE DAMNED hatten im Juli 1976 ihr erstes Konzert gespielt, und Brian James von THE DAMNED war dann auch der erste, der mich ansprach, ob ich nicht in meinem Fanzine was über seine Band schreiben könne. Er sprach mich nach dem RAMONES-Konzert an. Und deshalb stand dann im Heft ‚THE DAMNED are great‘. Bis heute ist Captain Sensible mein ältester Freund aus der Punkszene, die waren auch die erste Band, die ich traf. Ich war damals 19, die anderen auch, höchstens 20, nur wenige waren älter. Meine einzige Erfahrung, die ich vorher in Richtung Fanzine gemacht hatte, war eine Hausarbeit in der Schule über das Dritte Reich. Da hatte ich auch Bilder und Worte ausgeschnitten, einen Text getippt und das dann zu einem Artikel zusammengeklebt. Ich hatte mich nicht irgendwie schlau gemacht, wie man wohl ein Magazin macht, sondern nur die Erfahrung aus diesem Schulprojekt genutzt, für das ich übrigens eine glatte Eins bekommen hatte.“
Hattest du denn irgendeine Vorstellung von Journalismus, wie man über Musik schreibt?
„Also ich hatte nie einen besonderen Ehrgeiz, über Musik zu schreiben. Und ich hatte auch noch nie großen Spaß am Prozess des Schreibens an sich. Ich bin bis heute ein großer Anhänger der Theorie, dass Rock-Journalisten ja nur frustrierte Musiker sind, und nachdem ich dann selbst die Erfahrung gemacht hatte, in einer Band zu spielen, gilt das heute umso mehr. Und die Theorie hat schon was: Nick Kent vom NME war Gitarrist, Mick Farren war in einer Band, Charles Shaar Murray vom NME war bei BLAST FURNACE & THE HEATWAVES und so weiter. Und was nun den Punk-Einfluss auf den Rock-Journalismus anbelangt, so denke ich, dass der nicht unbedingt positiv war. Das Problem: Punk beraubte die Rockmusik ihrer Kultiviertheit und Raffinesse, gab ihr aber nichts, um diese Lücke zu füllen. Was damals geschah, kann man am Besten mit dem Sprichwort ‚Das Kind mit dem Bade ausschütten’ beschreiben: Du willst den schlechten Teil einer Sache loswerden, und dabei gehst du auch der positiven Seite verlustig. Der NME war einst ein verdammt gutes Rock-Magazin, und 1976 berichteten sie zum Beispiel über THE WHO, eine verdammt gute Band, die damals auf dem Höhepunkt war. Und plötzlich, wegen Punk, war diese Band, von denen ich in diesem Jahr noch ein verdammt gutes Konzert gesehen hatte, nur noch ein Dinosaurier. Das Gleiche geschah mit DR. FEELGOOD und vielen anderen guten Bands. Oder EMERSON LAKE & PALMER. Die waren eine der aufregendsten Bands der Siebziger, die hatten sowohl eine sehr ruhige wie sehr aggressive Seite. Die hatten damals immer noch ein sehr großes Publikum, und die mussten sich dann vom Boss ihrer Plattenfirma anhören, dass es ja doch vielleicht besser wäre, wenn sie etwas mehr auf New Wave machen könnten. Das gleiche Spiel machten sie mit YES, und ich fand das so respektlos! Man musste ja nicht mögen, was diese Bands so machten, aber plötzlich kommt Punk daher und es heißt: ‚Sorry Jungs, ihr seid zu clever, zu sophisticated, so geht das nicht weiter, keine Lieder von zehn Minuten mehr und so‘. Das Album, das ELP daraufhin machten, ‚Love Beach‘, ist Crap, die versuchen da ‚modern’ zu sein. Mein Problem also ist, dass mit Punk gleichzeitig auch die ‚Sophistication‘, die Kultiviertheit aus der Rockmusik verschwand. Und was danach, Anfang der 80er, an angeblich neuer Musik kam, war auch nicht wirklich neu, 2Tone etwa.“
Nun ist aber genau das, was du kritisierst, ja so etwas wie das Credo des Punk: Dass der mit den ganzen Art-Rock-Dinosauriern, mit Rock-Gigantomanie und Größenwahn aufgeräumt habe.
„Wie so oft denken viele Leute nicht selbst, sondern übernehmen nur, was sie hören oder lesen. Und so herrscht der Glaube vor, Punk sei so etwas wie eine Stunde Null gewesen in musikalischer Hinsicht. Wenn man sich aber mit dieser Zeit wirklich beschäftigt stellt man fest, dass das Nonsens ist. Natürlich gab es Mitte der Siebziger eine Menge Mist in den britischen Charts, aber es gab auch SLADE, SWEET, T.REX, immer noch die ROLLING STONES, THE WHO und so weiter, richtige, gute Bands eben. Und dann kam Punk und all das sollte Mist sein. Klar, ich habe das auch nachgeplappert, aber rückblickend erkenne ich, dass wir verblendet waren. Und wie vorhin schon gesagt, die ganze Hetze gegen die Hippies, die völlig die Ironie verkannte, die eigentlich dahintersteckte, wenn sich jemand über Hippies lustig machte. Solche Witze kapierten Leute wie ich oder andere mit einem Kunst-Background, aber dann lass das mal bis in die Provinzkäffer und Arbeiterstädte durchsickern und du hast die Gewalt, die 1977 allgegenwärtig war. Deshalb findest du in einer Ausgabe des ‚Sniffin’ Glue‘ auch die Aussage im Editorial ‚It’s getting too violent‘, was sich speziell auf ein CLASH-Konzert bezog. Die Leute kapierten einfach nicht, welche Ironie sich hinter einem Anarchy-T-Shirt verbarg. Die nahmen das stattdessen alles wörtlich und wollten am liebsten alle umbringen, die keine Punks waren.“
Das klassische Revolutionsschema: Einmal losgetreten, kann so eine Lawine niemand mehr aufhalten.
„Ja, richtig. Und Punk war damals auch viel zu dogmatisch. Und dabei ging es doch nur um Musik! Klar, manche Bands, etwa CRASS, trieben die Sache noch sehr viel weiter, aber eigentlich ging es doch nur um Musik, Punk war eine Mode-Bewegung, eine kulturelle Bewegung, die etwas außer Kontrolle geriet. Und unterm Strich hat Punk nur zur weiteren Verblödung beigetragen, bis heute. Und was hat sich denn geändert? Du hast heute Bands wie die LIBERTINES, du hattest Britpop in den 90ern, das war und ist ganz simple, basale Rockmusik – zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, Songs bis vier Minuten. Ja, wir haben damals auch die Zukunft von Popmusik gesehen und gehört, etwa KRAFTWERK, CAN, sogar David Bowie mit seinen Alben ‚Station To Station‘, ‚Low‘ und ‚Heroes‘. Das war die Zukunft, und wir haben die Möglichkeiten, die sich damit boten, nicht genutzt. Wir waren und sind zu nostalgisch, was Musik anbelangt, wollen die elektrisch verstärkte Gitarre nicht aufgeben. Dabei ist das so primitiv, wir benehmen uns wie eine Horde Hinterwäldler. Wir haben uns heute nicht über den Punkt hinausbewegt, an dem sich Hank Williams vor einer halben Ewigkeit befand, nur dass der besser und authentischer war.“
Gleichzeitig strahlt Punk bis heute eine enorme Kraft aus, bedeutet weltweit so vielen Menschen etwas.
„Okay, aber es gibt auch so viele Länder auf der Welt, wo so was wie Popmusik niemanden interessiert, wo die Kultur längst nicht so davon geprägt ist, was in den 50ern mit Elvis und in den 60ern mit den BEATLES begonnen hat. Das betrifft ja eigentlich nur Europa und die USA. Wir denken und reden eben immer aus einer westeuropäischen Perspektive. Und man muss sich dann nur mal anschauen, was etwa in Japan daraus gemacht wird. Zum Beispiel die Teddy-Boys, die diesen Ted-Look so perfekt imitieren, oder was die aus Punk gemacht haben, das hat ja oft was von einem Cartoon. Aber andererseits: Was verstehen wir denn schon von der angeblich sehr repressiven japanischen Gesellschaft? Wir haben es doch hier im Westen wirklich leicht, können uns glücklich schätzen, in einer Gesellschaft zu leben, die uns die Wahl gibt, wie und wer wir sein wollen.“
Schon immer oder erst heute? Die Reaktion auf Punks und ihren Look waren doch damals sehr stark und ablehnend.
„Das stimmt schon, die Gesellschaften sind seit damals viel liberaler geworden, aber eben leider oft nur auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Wir haben das Internet, können kommunizieren, mit wem wir wollen, können reisen, wohin wir wollen, und die Welt ist für Menschen wie uns viel kleiner geworden. Aber auf einer anderen Ebene müssen wir feststellen, dass wir keinerlei Kontrolle über irgendwas haben. Seit dem Ende der Ära Thatcher/Reagan ist der Eintritt in die Politik dem Betreten eines Bärenkäfigs ähnlich geworden: Sobald du in die Politik gehst, hast du die Presse am Hals, und sie finden alles über dich heraus. Oder nimm die USA: Ich mag das Land, habe viele gute Freunde dort, doch alle sind sie machtlos gegenüber Bush und dem, was er mit dem Land macht. Vor diesem Hintergrund fürchte ich, dass wir heute beinahe weniger Freiheiten haben als vor 25 Jahren.“
Die Leinen sind nur länger geworden.
„Vielleicht ist es das, aber ich bin kein Revolutionär, ja ich war nie übermäßig politisch. Ich bin eher ein Romantiker, glaube eher an die Kraft der Liebe als an Politik. Die Liebe ist das Licht, die Politik die Dunkelheit, sie ist gefährlich, gewalttätig. Ich bin Poet, Romantiker.“
Bis heute hast du ja auch deine Band ALTERNATIVE TV, mit der du heute Abend auch mal wieder auf der Bühne stehst.
„Also ich gründete die damals, als mich das Fanzinemachen zu langweilen begann. Wie ich schon sagte, bin ich der Meinung, dass Musikjournalisten nur frustrierte Musiker sind. So ganz traf das auf mich nicht zu, weil ich ja vorher kein Musiker war, aber als ich Bands wie die LURKERS, SLAUGHTER & THE DOGS oder EATER sah, dachte ich mir, okay, das kann ich auch. Und so fing ich an Gitarre zu spielen. Vorher hatte ich schon Gedichte geschrieben, und irgendwie war das eine natürliche Weiterentwicklung für mich. Und ich bewunderte schon immer Pete Townshend als Songwriter. Als ich mich dann tatsächlich daran machte, eine Band zu gründen, war das nicht weiter schwierig, denn ich war damals, na ja, so was wie eine Persönlichkeit. Ich bekam wirklich viel Hilfe. Und es war mir auch klar, dass es kein Problem sein würde, eine Platte zu machen, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich schon begonnen, für Step Forward Records als A&R-Mann zu arbeiten. Die Infrastruktur war also schon komplett vorhanden, um meine Musik zu veröffentlichen, ich war da in einer sehr privilegierten Position. Das hatte auch den Effekt, dass ATV experimenteller sein konnten als andere Bands zu dieser Zeit: Wir hatten auf dem ersten Album einen Song, der zehn Minuten lang war, ein anderer war purer Noise. Und ich glaube, wenn wir auf Polydor oder EMI gewesen wären, hätte man uns das nicht durchgehen lassen. Aber da die Platte auf dem eigenen Label Deptford Fun City erschien, war das egal. Und so ist das auch später immer gewesen: Wann immer ich eine Platte machen wollte, ging das auch irgendwie.“
ATV gibt es bis heute, aber die Besetzungen wechselten oft und die Band löste sich auch mehrfach auf.
„Ja, 1981 war nach ein paar Umbesetzungen erstmal Schluss. Dann fanden wir uns 1984/85 wieder zusammen, und seitdem gibt es ATV mit ein paar Unterbrechungen auch wieder. Mitte der 80er war das eben schon eine ganz andere Generation von Punks, Leute, die mit ATV-Platten aufgewachsen waren, und die hatten Spaß daran, neue ATV-Platten zu veröffentlichen. Das ist bis heute so und wirklich schön, denn es gibt einem die Freiheit, sich nur mit der Musik zu beschäftigen. Und letztlich hat mich die Band ja auch hier nach Kassel gebracht, denn nur um zu reden, wäre ich nicht gekommen. Als ich von diesem Kongress hörte, hatte ich gleich die Idee, hier mit der Band zu spielen. Man muss einfach sehen, dass meine ‚Karriere‘ als Punkrock-Schreiber nur ein Jahr dauerte, aber Musik mache ich mittlerweile seit 27 Jahren.“
Wie aktiv ist die Band denn aktuell?
„Also wir haben vor, in Kürze ein neues Album zu machen, auch wenn wir hier in Kassel nur alte Songs spielen.“
Hier in Kassel dreht sich in diesen paar Tagen natürlich alles um Punk, aber wie viel hat das mit deinem normalen Alltag zu tun?
„Eigentlich eine Menge. Die 80er waren anders, da hatte ich einen normalen Bürojob in der Öffentlichen Verwaltung, und Punk wurde da zu einer Sache für den Feierabend und die Freizeit. Seit den 90ern entwickelte sich dann ein immer stärkeres Interesse an der frühen Punkszene, und es scheint, ich konnte diese Nachfrage irgendwie befriedigen. Und so habe ich in den letzten Jahren viele Interviews zum Thema gegeben und hier und da mal was geschrieben. Na ja, ein bisschen Geld kommt auch durch die Plattenverkäufe noch rein, und so komme ich irgendwie über die Runden. Ich hatte auch mal so eine Phase, da wollte ich nicht mehr über Punk reden, da hätte ich es rundweg abgelehnt, ein Interview zu dem Thema zu geben. Aber ich habe mir dann gesagt, wenn es die Leute interessiert, dann sollte ich auch mit ihnen darüber reden. Auch wenn es manchmal nervt, wenn man immer wieder das Gleiche erzählt. Und mich stört dann auch, dass gerade in England – ich habe speziell ‚Mojo‘ im Sinn – die Magazine immer nur über die Vergangenheit von Punk sprechen wollen. Da werden dann immer nur die bereits bekannten Informationen recyclet, und ich bin auch der Meinung, dass Punk mittlerweile schon ‚überdokumentiert‘ wurde. Weißt du, da hat man das Gefühl, dass sich etwas schon deshalb verändert, weil so viel darüber gesprochen wird. Das ist wie mit den BEATLES: Wenn man alle Leute zusammenzählt, die behaupten, die Band damals schon im Cavern Club gesehen zu haben, dann müsste der ein Stadion gewesen sein. Oder wenn mich ernsthaft jemand fragt, ob ich gesehen hätte, ob Sid Vicious bei dem Konzert am 18. September 1976 wirklich mit einem Glas geworfen hat. Hallo, geht’s noch?! Über so was machen sich Menschen wirklich Gedanken, während irgendwo auf der Welt hunderte bei einer Naturkatastrophe sterben? Meine Vermutung ist, dass solche Geschichten wie von der frühen Punkszene eine große Authentizität ausstrahlen, die viele Menschen heute nicht mehr erkennen können. Aber ich muss zugeben, dass ich selbst ein nostalgischer Mensch bin, speziell was die 70er anbelangt. Ich war ein großer David Bowie-Fan, und ich erinnere mich gerne daran, wie ich und meine Freunde uns schminkten, Glitter ins Gesicht schmierten, und dann zum Konzert fuhren. Es machte einfach Spaß, das war Rock’n’Roll pur. Bowie war unser Gott, und auch Bob Dylan und John Lennon. Und weil das gute Erinnerungen sind, rede ich gerne darüber. Ich denke auch, dass die Unbekümmertheit, mit der wir uns damals für Musik begeisterten, heute leider verloren gegangen ist. Wir waren damals unschuldige Kinder unter dem Eindruck der 50er und 60er, wir kamen ja nicht vom Mars.“
Welche Rolle hat Rockmusik für dein Leben gespielt?
„Rockmusik hat schon immer die Kraft gehabt, das Leben von Menschen zu verändern und den einzelnen zu ermutigen, sich selbst zu verwirklichen. Hast du mal die Biographie von James Brown gelesen? Da gibt es eine bezeichnende Stelle, und zwar beschreibt er da, wie sie im Knast diese alten, hässlichen Kleider bekommen – und er fand dann im Gefängnis eine Möglichkeit, diese alten Hosen irgendwie zu bügeln. Und damit tauchte er dann beim Hofgang auf und war natürlich der Held, er hatte seine Würde bewahrt. Oder nimm Elvis, wie dieser arme weiße Junge später mit seinem pinkfarbenen Cadillac posierte. Klar, Punks wollten dann später möglichst trashig aussehen, aber im Rock’n’Roll der 50er und 60er ging es eben darum, möglichst smart auszusehen. Das war damals der Weg, zum Ausdruck zu bringen, dass man anders ist, ein Individuum. Oder später die Ska-Szene in England, als die farbigen Einwanderer-Kinder sich schicke italienische Anzüge besorgten. So hat und hatte jede Jugendbewegung zu jeder Zeit ihre Art, ein Statement zu machen. Interessant ist es, heute mal in London durch Camden zu laufen: Das ist wie ein Zoo, wo Menschen aus aller Welt hinkommen, um sich dann zu entscheiden, welchen Stil, welche Persönlichkeit sie sich kaufen. Da stehen die Regale der Jugendkultur und sind prall gefüllt. Identity Shopping, so kann man das wohl nennen. Und tausend Leute kaufen das gleiche T-Shirt und wollen doch ein Individuum sein. Dabei weiß ich, wovon ich rede, denn ich habe einen 16-jährigen Sohn, der ständig irgendwelche Skate-Klamotten haben will. Es schockt mich immer wieder, was diese Sachen kosten sollen.“
Mark, vielen Dank für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #59 April/Mai 2005 und Joachim Hiller