Sich auf der Bühne den Frust von der Seele zu schreien, ist für die meisten Bands wie eine Therapie. So auch bei MAKEWAR, denn das Trio aus New York liefert seit 2015 tiefgründige Songs, verpackt in wunderbar eingängigem, rauem Emo-Punkrock. Kurz vor der bevorstehenden Europatour sprach ich mit Sänger José Prieto, Bassist Edwin Santacruz und Schlagzeuger Alejandro Serritiello über die südamerikanischen Wurzeln der Band und das neue Album „A Paradoxical Theory Of Change“, das Ende Juni auf Fat Wreck Chords erschien.
Ihr wohnt alle in Brooklyn, New York, aber eure familiären Wurzeln liegen in Venezuela und Kolumbien, oder?
Edwin: Ja, ich bin in Kolumbien aufgewachsen. Ich hatte damals einen Kumpel, der war Skater und Metalhead. Er gab mir eine Kassette mit MISFITS auf der A-Seite und OVERKILL auf der B-Seite. Das hat mein Leben schlagartig verändert. Ich konnte zwar kein einziges Wort von dem verstehen, was sie da schrien, aber ich wusste sofort, dass ich süchtig danach war und mehr wollte. Damals hatten wir noch kein Internet und es war für uns Jungs echt schwer, an neue Musik zu gelangen. Doch irgendwann entdeckte ich kolumbianische Punkbands wie LA PESTILENCIA und I.R.A., die quasi meine Eintrittskarte in die kolumbianische Szene waren. Als ich 19 war, zog ich dann in die USA. Daher konnte ich die kolumbianische Punk-Szene, wie sie heute ist, nicht mehr wirklich miterleben.
José: Ich bin in Venezuela aufgewachsen und wurde von meinem Cousin in den Punk eingeführt, aber mein Einstieg war etwas sanfter als seiner, haha. Für mich begann alles mit „Ixnay On The Hombre“ von THE OFFSPRING sowie „Dude Ranch“ von BLINK-182. Später entdeckte ich Bands wie NOFX und LAGWAGON durch Freunde, mit denen ich surfte und skatete. Vier von uns gründeten sogar eine Band namens THE GO GO PUNKERS. Wir haben auf Englisch gesungen, weil das alle unsere Lieblingsbands taten. Ich sprach damals kein Englisch, also benutzte ich ein Programm namens „Power Translator“ auf meinem Windows 95-Computer, um die Texte zu übersetzen. Es ist schon echt witzig, wenn ich mir diese Demos heute anhöre. Dann muss ich mich echt fragen, was ich damals mit den Texten ausdrücken wollte. Na ja, die Szene war zwar klein, aber wir waren sehr eng miteinander verbunden. Seitdem wollte ich immer Musik machen und mit meiner Punkband durch die Welt touren. Es hat eine Weile gedauert, aber ich bin extrem glücklich, dass ich meinen Traum jetzt leben kann. Europa zu bereisen, war immer ein großer Teil dieses Traums, und als wir das erste Mal dort waren, konnte ich es kaum glauben.
Wenn ihr die Situation in Südamerika mit der in den USA vergleicht: Was bedeutet es, dort ein Punk zu sein?
Edwin: Die Umstände sind von Land zu Land sehr unterschiedlich, aber das Problem wird immer das Gleiche sein. Menschen an der Macht, die Randgruppen unterdrücken. In dieser Hinsicht habe ich das Gefühl, dass die Punk-Ideologie ziemlich universell ist.
José: Ich glaube, dass es damals ganz anders war, ein Punk zu sein als heute. Ich kann nicht über die Punk-Szene in Venezuela heutzutage sprechen, weil ich schon lange nicht mehr dabei bin. Aber als Punk ging es für mich immer um Familie, Freundschaft und gegenseitige Hilfe. Damals ging es viel mehr darum, was man trug, welche Frisur man hatte und welches Tape gerade in deinem Walkman lief. Aber das wahre, echte Punkgefühl war immer da.
Hierzulande sind ja leider nur wenige Punkbands aus Südamerika bekannt – was ist bei euch gerade angesagt?
José: Die meisten Bands, die ich in Venezuela hörte oder bei denen ich dabei war, gibt es nicht mehr. Aber es gibt einige neuere venezolanische Bands, die danach entstanden sind. Sie klingen zwar nicht unbedingt nach typischem Punkrock, aber sie stammen aus dieser Szene und ihre Ideologien und Gefühle sind immer noch die gleichen. Bands wie LA VIDA BOHEME, VINILOVERSUS, RAWAYANA – allesamt Bands, die dort im Moment für Furore sorgen und aus der kleinen Punk-Szene stammen, in der ich als Teenager aufwuchs. Andere klassische Punkbands, die immer noch ihr Ding machen, sind zum Beispiel CARAMELOS DE CIANURO, DESORDEN PÚBLICO, LOS AMIGOS INVISIBLES oder CARDIEL.
Ale: DISCHORD! Hör mit allem auf, was du gerade tust, und höre dir DISCHORD auf Spotify an. Eine fantastische Band! Victor, der Sänger, ist einer meiner engsten Freunde und ich hoffe, sie kommen bald nach Europa. Sie stammen aus Venezuela, aber leben mittlerweile in Mexiko.
Euer letztes Album „Get It Together“ wurde vor fast fünf Jahren veröffentlicht. Was hat sich in der Zwischenzeit getan?
José: Wir haben „Get It Together“ Ende 2019 veröffentlicht. 2020 sollte unser bestes Jahr überhaupt werden – wir hatten gerade bei Fat Wreck Chords unterschrieben und planten Touren in Japan, Brasilien, Mexiko, Kanada, den USA und Europa. Im Februar 2020 habe ich meinen Job gekündigt, kurz bevor wir mit BAD COP/BAD COP nach Europa aufbrachen. Dann kam Corona. Wir kehrten von einer verkürzten Europatour zurück und plötzlich war ich arbeitslos, saß zu Hause fest, und alle unsere Reisepläne wurden auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Für mich ging „Get It Together“ in den Abgründen der Pandemie unter. Als wir 2022 wieder auf Tournee gingen, fühlte es sich endlich so an, als könnten wir diesem Album die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Ich wünschte, wir hätten ein weiteres Album früher veröffentlicht, aber das Timing war nicht richtig. Ich habe immer gehofft, dass „Get It Together“ eine neue Chance bekommen würde. Es hat eine Weile gedauert, aber wenn man die zwei Jahre, die wir durch die Pandemie verloren haben, nicht mitzählt, sind es wirklich nur zwei Jahre gewesen. Trotz der Verzögerung glaube ich, dass alles, was in der Zwischenzeit passiert ist, uns geholfen hat, das beste Album zu machen, das wir je geschrieben haben.
Also ein typisches Schicksal, das ihr mit so vielen anderen Bands teilt.
Edwin: Ja, genau. Als Corona zuschlug, bin ich für die ersten paar Monate bei José untergekommen, bis ich eine eigene Wohnung gefunden hatte. Die Pandemie hat meiner Kreativität insofern geholfen, als dass ich plötzlich sehr viel freie Zeit hatte, die ich für alles nutzen konnte, was ich tun wollte. Am Anfang waren wir nicht sehr produktiv, aber ich denke, es gab einige Geschichten zu erzählen.
José: Ich habe die Pandemie gehasst. Ich war arbeitslos, alle unsere Touren wurden abgesagt, und so viele Menschen starben. Wir wohnen in der Nähe eines Krankenhauses, vor dem Tiefkühltransporter mit Leichen geparkt waren – es war eine schreckliche Zeit. Ich hatte kein Geld mehr und gab das wenige, das ich hatte, für kistenweise Wein aus, um mit der bedrückenden Lage irgendwie fertig zu werden. Schließlich bekamen wir Hilfe von der Regierung und konnten wieder nach draußen gehen, also begann ich zu surfen. Surfen wurde zu meinem Lebensinhalt und rettete mich emotional, körperlich und geistig. Es holte mich aus der Depression heraus und brachte mich wieder zum Schreiben. Viele der Ideen für das neue Album sind in dieser Zeit entstanden. Ich habe einige Songs speziell über die Pandemie geschrieben, sie aber nicht auf die Platte gepackt, weil ich niemanden, auch mich nicht, an diese schreckliche Zeit erinnern wollte. Der einzige die Pandemie betreffende Song, der es auf die Platte geschafft hat, ist „This fucking year“, der meiner Meinung nach von jedem schrecklichen Jahr handeln könnte, das man erlebt hat. „So fuck this year, and all our fear / Recover, recharge, restart, and I’ll see you next year“.
Was ist die Kernbotschaft von „A Paradoxical Theory Of Change“ im Vergleich zu den vorherigen Alben?
José: Das neue Album steht metaphorisch für eine Beziehung mit mir selbst. Ich habe 2020 eine Therapie angefangen. Ich habe sie einmal pro Woche besucht und nie damit aufgehört. Dabei habe ich gelernt, mit mir selbst über mich zu sprechen. Mein Therapeut ließ mich Übungen machen, bei denen ich meine Ängste auf einen leeren Stuhl setzen und mit ihnen reden musste, als wären sie eine Person. Am Anfang habe ich das gehasst. Ich fand es albern und dumm und fühlte mich komisch. Aber nach vielen Versuchen begann es sich richtig anzufühlen. Ich begann, meine Angst zu verstehen. Ich begann, Geduld mit ihr zu haben. Ich begann, mit ihr zu arbeiten. Die ganze Platte handelt davon. Ich glaube, unsere erste Platte „Developing A Theory Of Integrity“ handelte hauptsächlich vom Trinken und davon, seine Probleme wegzufeiern. Diese Platte ist in gewisser Weise ähnlich, aber ich habe andere Wege gefunden, meine Probleme zu bewältigen. Ich habe angefangen, meine Probleme zu verstehen und zu lieben, anstatt sie zu verdrängen. Deshalb wollte ich auch einen ähnlichen Namen wie bei unserer ersten Platte. Sie sind in gewisser Weise miteinander verbunden. Diese Platte ist einfach erwachsener. „A Paradoxical Theory Of Change“ befasst sich mit verschiedenen Möglichkeiten, in Harmonie zu leben und sich so zu akzeptieren, wie man ist – mit allen Fehlern und Ängsten.
Der Begriff der „Theorie des Wandels“ wird verwendet, um ein spezifisches Wirkungsmodell zu beschreiben, das auf der Grundlage früherer Praktiken vorhersagt, wie geplante Aktivitäten funktionieren werden. Es handelt sich dabei um eine Art Kristallkugel, die jedoch den Anspruch erhebt, genau und vorhersehbar zu sein. Wo endet für euch diese vermeintliche Wahrsagerei und wo beginnt die Enttäuschung?
José: Das ist interessant, denn ich lerne gerade etwas Neues über diese Theorie, während wir darüber sprechen. Die Vorstellung einer vorhersehbaren Zukunft, die auf unseren Handlungen beruht, klingt großartig, wenn alle unsere Handlungen richtig und gut sind. Ich glaube, wenn man hart arbeitet und jeden gut behandelt, wird man im Allgemeinen gut im Leben zurechtkommen. Aber die Unberechenbarkeit ist allgegenwärtig, und in jedem Moment kann alles passieren. So wie neulich, als ich einen tollen Tag mit dem Fahrrad hatte und dann, bumm, stürzte ich und zertrümmerte mir die Schulter, so dass ich die Tour fast hätte absagen müssen. Alles, was wir tun, ist wichtig und kann unser Leben zum Guten oder zum Schlechten verändern. Aber es gibt auch Glück, Karma und Vetternwirtschaft, oder vielleicht ist nur eines davon real. Aber ich glaube an Karma. Vor allem an das Karma beim Einparken. Ich glaube, ich habe ein gutes Karma beim Einparken. Danke, ihr Parkgötter dort oben!
Nun ist „Not today“ war die erste Singleauskopplung aus dem neuen Album. Worum geht es in dem Song?
José: In „Not today“ geht es um die Entscheidung, sein Leben nicht heute zu beenden. Viele Freunde sind zu früh verstorben aus Gründen, die nur schwer zu verstehen sind. Die Traurigkeit, die sie empfanden, war überwältigend. Sie war größer als alles andere auf der Welt. Ich hoffe, dieser Song hilft allen, die schwere Zeiten durchmachen, etwas von dieser Traurigkeit loszulassen. Der Song hat nicht ohne Grund viele „Whoa-ohs“. Sie wirken vielleicht etwas albern, aber sie sind eingängig und man muss den Text nicht kennen, um mitzusingen. Durch Singen und Schreien werden Endorphine freigesetzt, die dich glücklicher machen und dir helfen, deinen beschissenen Tag, deine Woche oder deinen Monat zu vergessen. Nicht heute, niemals!
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