LTM steht für „Les Temps Modernes“ und wurde 1983 zunächst als reines Kassettenlabel im schottischen Edinburgh von James Nice gegründet und später primär als Konzeptlabel bekannt, das sich auf die Wiederveröffentlichung von Alben von Bands aus dem Bereich Post-Punk, New Wave, Electronic und im weitesten Sinne Avantgarde aus der Zeit Ende der Siebziger bis Mitte der Achtziger Jahre fokussierte. James Nice verwaltet heute den Backkatalog von Factory Benelux und dem Label Les Disques du Crépuscule aus Brüssel, die ihrerseits in den Achtziger Jahren die meisten Bands von Factory Records aus Manchester für die Beneluxstaaten lizensierten.
Les Disques du Crépuscule (mit dem Sublabel Factory Benelux) wurde 1980 gegründet von den belgischen Musikjournalisten Michel Duval und Annik Honoré, die einigen auch als die Geliebte von JOY DIVISION-Sänger Ian Curtis bekannt sein dürfte. Honoré und Duval buchten 1979 auch JOY DIVISION für ihr Konzert im Plan B in Brüssel. Über Factory Benelux wurden unter anderem CRISPY AMBULANCE, A CERTAIN RATIO, SECTION 25, THE DURUTTI COLUMN, BLURT, TUXEDOMOON, LOWLIFE, STOCKHOLM MONSTERS, JOSEF K und die Alben von NEW ORDER (sowie deren Nebenprojekte REVENGE und THE OTHER TWO), THE NAMES und THE WAKE lizensiert. Das Label brachte auch Exklusivveröffentlichungen heraus, die so nicht in Großbritannien erschienen. Factory Benelux stellte seine Aktivitäten 1988 ein und wurde 2012 von James Nice mit der Erlaubnis von Duval und Honoré reaktiviert. Seither sind auf diesem Label Alben von CRISPY AMBULANCE, die musikalisch JOY DIVISION wohl am ähnlichsten waren, THE WAKE, BLURT, SECTION 25 und THE DURUTTI COLUMN neu aufgelegt worden. James Nice verwaltet exklusiv über LTM Recordings die Geschicke von Factory Benelux und Les Disques du Crépuscule, veröffentlicht aber auf LTM ab und an neue Acts wie MARINE, das Soloprojekt von LADYTRON-Sängerin und Keyboarderin Helen Marine. Zudem betreibt er mit Avant-Garde Art ein Label, das sich unter anderem auf Audiobooks von Avantgardekünstlern des 20. Jahrhunderts aus dem Bereich Dada, Futurismus, Musica Futuristica bis hin zu Bauhaus veröffentlicht. James Nice ist zudem Autor des Buches „Shadowplayers: The Rise and Fall of Factory Records“ (2010) und der Dokumentation „Shadowplayers“ (2006). Genug Stoff, um ihm einige Fragen zu seinen zahlreichen Aktivitäten zu stellen.
LTM wurde 1983 in Edinburgh gegründet und fokussierte sich auf Bands, die dem Sound von JOY DIVISION sehr ähnlich waren. Wie bist du mit diesen Bands in Kontakt gekommen und was war deine Inspiration bei deiner Labelarbeit?
1982, ich war gerade 16 geworden, zog ich aus einer langweiligen Kleinstadt aus dem Süden Englands nach Edinburgh. Es herrschte zu dieser Zeit ein enorm kreativer und kultureller Geist in Edinburgh und ich kam schnell mit der Musik von WIRE, JOSEF K und JOY DIVISION in Kontakt. Und ich entdeckte für mich den kleinen elitären Kreis von Menschen um Factory und Les Disques du Crépuscule, die auch ein wenig narzisstisch waren. Ich habe dann selbst damit begonnen, Bands wie CRISPY AMBULANCE, SECTION 25 und die MINNY POPS zu kontaktieren, um sie zunächst in meinem Fanzine herauszubringen. Daraus ist die Idee mit dem Label entstanden, das zunächst nur Kassetten und 7“s veröffentlichte. 1987 bin ich dann für einige Jahre nach Brüssel gezogen und habe direkt für Les Disques du Crépuscule gearbeitet.
Gab es zu dieser Zeit Kontakte zu musikalisch verwandten Labels wie 4AD von Ivo Watts-Russell? Hast du Ivo oder Tony Wilson von Factory Records persönlich getroffen?
Ivo war immer eine große Unterstützung für mich. Eine der ersten Kassetten, die ich auf LTM veröffentlichte, war eine Band von seinem Label namens THE HAPPY FAMILY. Ich habe Ivo oft bei 4AD in der Alma Road in London besucht. Er hat mir immer alle Veröffentlichungen von 4AD geschickt. Auch Mike Alway von Cherry Red hat mich immer unterstützt. So sehr ich 4AD geschätzt habe, muss ich allerdings sagen, dass es mich in kreativer Hinsicht bei meiner Arbeit nicht beeinflusst hat. Ich war einfach viel mehr an Factory Benelux und Les Disques du Crépuscule interessiert. Ich habe dann 1987 für beide Labels gearbeitet und beide hatten den größten Einfluss auf das, was ich heute und damals mit LTM gemacht habe. Tony Wilson habe ich erst später einige Male getroffen, aber ich denke, ich habe wohl keinen so bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen, dass er mit mir in Kontakt bleiben wollte.
Später hast du auch Bands veröffentlicht, die sich weg vom Post-Punk in Richtung Electronic und Avantgarde entwickelten. Es gab Veröffentlichungen von TUXEDOMOON, Blaine L. Reininger, BLURT, 23 SKIDOO und Paul Haig, dem ehemaligen Sänger von JOSEF K. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?
Nun, LTM war immer ein Backkataloglabel. Ich versuche nicht wirklich, neue Bands zu entdecken und unter Vertrag zu nehmen. Wenn doch, veröffentliche ich allerdings wirklich nur Künstler, die ich selbst sehr schätze oder die mir Freunde empfohlen haben, auf deren Urteil ich mich absolut verlassen kann. Ich verstehe mich in meiner Labelarbeit als eine Art Kurator, der wie in einer Galerie nur Künstler veröffentlicht, der er eben persönlich schätzt.
Gibt es noch einen lebendigen Austausch zwischen dir und den Musikern, die du vielleicht vor längerer Zeit veröffentlicht hast?
Ich habe gerade Kontakt mit SECTION 25 und arbeite an einigen Wiederveröffentlichungen mit ihnen. Wir sitzen über dem Coverartwork als auch der Auswahl der Songs. Das ist wie eine Reise in meine Jugend. Ich würde das aber nicht so sehr als „lebendigen Austausch“ bezeichnen, vielmehr ist eine Vertrauensfrage, die es mir erlaubt, als Labelbetreiber mit diesen Bands zusammenzuarbeiten, auch wenn mir deine Idee von Austausch gut gefällt. Ich freue mich auch über viele neue Kontakte und Veröffentlichungen, wie zum Beispiel das Debütalbum von MARINE, der LADYTRON-Sängerin Helen Marine auf Les Disques du Crépuscule. Das war ein tolles Gefühl, da LADYTRON schon immer zu meinen Lieblingsbands zählten.
Nun sind Factory Benelux und Les Disques du Crépuscule ursprünglich von den Musikjournalisten Michel Duval und Annik Honoré gegründet worden. Bist du mit ihnen noch in Kontakt? Ich hörte, Michel Duval ist in den Achtziger Jahren zu PIAS gewechselt.
Nein, das war ich, der zu PIAS gegangen ist, nachdem beide Labels ihre Arbeit eingestellt hatten. Michel arbeitet heute als Musikverleger in Paris. Annik hat sich in den frühen Achtziger Jahren komplett aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Mit ihr habe ich noch regelmäßig Kontakt. Sie war auch nicht wirklich daran interessiert, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, bis zu meinem Projekt „Shadowplayers“ und meiner gleichnamigen Dokumentation über Factory Records und JOY DIVISION. Annik ist eine sehr authentische und großherzige Persönlichkeit. Man sollte in diesem Kontext auch eine weitere wichtige Person bei Les Disques du Crépuscule hervorheben: den verantwortlichen Designer Benoît Hennebert, der das Signet für das Label entwickelte und für zahlreiche Cover verantwortlich war, beispielsweise THE NAMES, THE DURUTTI COLUMN, THE PALE FOUNTAINS, TUXEDOMOON und JOSEF K. Unsere Lizenzveröffentlichungen hatten oft auch ein eigens gestaltetes Cover. Benoît war wirklich ein Genie.
Factory Benelux hatte großartige Bands lizensiert wie SECTION 25, die mit ihrem dunklen „Disco Punk“ sogar Erfolge in der Clubszene von New York hatten, A CERTAIN RATIO und THE DURUTTI COLUMN.
Factory Benelux hat ganz wenige eigenständige Veröffentlichungen und war eben eher die kontinentaleuropäische Niederlassung von Factory Records, allerdings auch mit einigen Exklusivveröffentlichungen wie beispielsweise die „Shake Up“-Single von A CERTAIN RATIO. THE DURUTTI COLUMN hatten aber immer eine engere Verbindung zu Factory Benelux und Crépuscule und nahmen drei Alben für das Label auf: „Circuses And Bread“, „Fidelity“ und „Short Stories For Pauline“. Letzteres ist eines der besten Alben von Vini Reilly und wurde erst 2012 komplett veröffentlicht. Dieses Album war letztlich auch der Grund, Factory Benelux wieder ins Leben zu rufen.
Hast du noch Kontakt zu Vini Reilly von THE DURUTTI COLUMN, um den es eine Zeit lang nicht besonders gut stand, nachdem er einige Schlaganfälle erlitten hatte?
Vini geht es nach seinen gesundheitlichen Rückschlägen wieder wesentlich besser. Er nimmt schon wieder ununterbrochen Songs auf.
Was bringst du gegenwärtig noch an neuen Alben und Künstlern heraus, die sich außerhalb des Rahmens Post-Punk bewegen?
Auf Crépuscule haben ich gerade eine Art „Best Of“ von MARSHEAUX veröffentlicht und das hat in der Tat überhaupt nichts mit Post-Punk zu tun, sondern lässt sich eher als eine Art glamouröser Leftfield-Electronic-Pop kategorisieren. Ich finde, die Band passt perfekt zu uns. Wir haben auch das letzte Album von SAVAGE REPUBLIC veröffentlicht. Es ist mir schon auch wichtig, neue Musik herauszubringen und nicht nur den Backkatalog von Bands zu verwalten.
Kannst du von dem Label leben oder machst du noch andere Jobs?
Ich kann tatsächlich davon leben. Der Katalog des Labels ist ziemlich groß und erfordert auch einen Fulltimejob. Ich habe noch einige Bücher geschrieben, eben unter anderem „Shadowplayers“, die Geschichte von Factory Records. Die Pflege des gesamten Katalogs der Labels erfordert wirklich sehr viel Zeit. Ich habe keine Angestellten und mache das Meiste selbst, lagere aber teilweise auf Freelancer aus. Das betrifft vor allem Design und Artwork, Mastering und die Betreuung der Website. Einiges muss man wirklich den Profis überlassen, wie das gesamte Thema Design, weil es ein ganz wichtiger Aspekt in Verbindung mit der Musik ist. Beides steht bei uns in einer sehr engen Verbindung.
Was planst du in naher Zukunft an neuen Veröffentlichungen auf LTM Recordings?
Das werden im Wesentlichen wieder Sachen von Factory Benelux und Les Disques Du Crépuscule sein. Aktuell arbeite ich an Rereleases von THE NAMES, Paul Haig, THE WAKE, MINNY POPS, TUXEDOMOON und 23 SKIDOO. Letzteres wird ein Soundtrack sein. Ebenso werden wir das legendäre „Only Fun In Town“-Album von JOSEF K als Vinyl und CD neu auflegen, sowie die dreißigjährige Jubiläumsausgabe von „From The Hip“ von SECTION 25. Ich werde auch ein Benefizalbum für Michael Shamberg herausbringen, der in New York die Belange von Factory Records für die USA steuert und seit einigen Jahren leider krank ist.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #114 Juni/Juli 2014 und Markus Kolodziej